GLÜCKAUF. in Deutschland. Deutschland. Eine Spurensuche über 10 Stationen



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Transkript:

GLÜCKAUF in Deutschland Deutschland Eine Spurensuche über 10 Stationen Ein Projekt der lebendigen Erinnerung im Verein für Internationale Freundschaften e.v.

GLÜCKAUF IN DEUTSCHLAND Eine Spurensuche über 10 Stationen mit Fotos von Cornelia Suhan, Texten von Viktoria Waltz und dokumentarischen Bildern aus fünf Jahr zehnten Ausstellung im Rahmen des Projektes Spurensuche des Vereins für Internationale Freundschaften e.v.

Vorwort Vor fast 60 Jahren wurden die Abkommen über den saisonalen Zuzug von Arbeitskräften aus Ländern des Südens mit der Bundesrepublik Deutschland geschlossen. Die Länder des südlichen Europa hatten in ihren ländlichen Regionen kaum Arbeitsperspektiven für die jungen Menschen. West-Deutschland brauchte sie. Zunächst für kurze Arbeitseinsätze gedacht und nur für bestimmte Branchen, blieben viele. Auch die Arbeitgeber waren zunehmend an einem längeren Verbleib der extra eingearbeiteten Gastarbeiter interessiert. So entwickelte sich West-Deutschland mehr und mehr zu einer Einwanderungsgesellschaft, ohne sich allerdings so zu definieren und ohne die notwendige Vorsorge vor allem im sozio-kulturellen System für zuwandernde Familienangehörige, Frauen, Kinder und Jugendliche zu treffen. Die großen Städte und vor allem ihre traditionellen Arbeiterviertel wurden zu den Auffangräumen für die nach Herkunft und Kultur immer vielfältiger werdende Bevölkerung und sahen sich neuen Problemen gegenüber. Die Probleme bestehen bis in die heutige Zeit und sind Gegenstand aktueller Diskurse zur Zuwanderung. Migration aus Sicht der Migranten Die Geschichte und die Geschichten dieser Arbeitsmigration im Zeichen des wirtschaftlichen Aufschwungs in Westdeutschland wurden bereits aus verschiedensten Blickwinkeln erzählt: ihre wirtschaftliche Bedeutung, die oft schlechten Arbeits- und Aufenthaltsbedingungen, sowie Aufgaben der sozialen Versorgung oder der Stadtentwicklung. Die Zuwanderer werden dabei zumeist als Problemgruppen behandelt. Die damals für Arbeit Zugewanderten und die nachfolgenden Generationen kommen in diesen Geschichten kaum als Individuen, sondern eher und immer wieder als Gruppe, als Gesamtheit etwa der Türken, als die Italiener vor. Nur selten werden sie als Persönlichkeiten vorgestellt, die ihren ganz eigenen Beitrag zur Entwicklung der bundesdeutschen Gesellschaft geleistet haben. Immer wieder fehlt es an Differenzierung und an einer Würdigung des Einzelnen. Vor allem aber kommen die Betroffenen kaum selbst zu Wort. Die Ausstellung Glückauf in Deutschland will genau diesem Mangel begegnen und Personen jener Zeit ins Zentrum der Darstellung und Würdigung setzen. Sie selbst sind Akteure dieser Aufarbeitung urbaner Migrationsgeschichte des Nachkriegs-Westdeutschland. Ihr Blickwinkel ist gefragt, ihre Erinnerung ist wichtig. Unser Interesse galt den Fragen: Wie haben sie dieses Deutschland erlebt, daran teilgenommen, Chancen genutzt, Probleme bewältigt? Wie schließlich sind sie Teil der Entwicklung der bundesdeutschen Gesellschaft geworden und wie haben sie den Spagat zwischen Herkunft und Bleiben, zwei Heimaten, zwei Familien, zwei Kulturen erfolgreich gelebt? Es war eine Win-win-Situation Deutschland suchte Nachwuchs, die Türkei konnte ihrer Jugend kaum Perspektiven geben. Die hier vorgestellten und sich vorstellenden Persönlichkeiten haben jede eine ganz besondere Lebensleistung erbracht, ein besonderes Schicksal durchlebt. Sie kamen als Jugendliche, fast noch Kinder, aus einer behütenden Familie und zumeist einer ländlichen Region nach Westdeutschland zur Ausbildung in den Ruhrbergbau. Ihre Familie musste sie in eine fremde Welt und zu einer fremden unbekannten Familie entlassen. Das war für beide Seiten schmerzlich. War es verantwortungslos, wie es einer von ihnen ausdrückt? Fehlte ihnen der familiäre Rückhalt und machte dieser Tatbestand es ihnen besonders schwer, sich zurechtzufinden und den erwarteten Erfolg zu erreichen, wie es ein anderer empfand? Blieb den Eltern gar nichts anderes übrig? Waren ihre Kinder nicht ihre Altersversicherung, die es in der Türkei nicht gab, so eine andere Einschätzung? Aber der Weg in diese Fremde wurde auch als Befreiung, als Weg in die Freiheit verstanden, als fantas- 4 5

tische Zeit, wie es wieder ein anderer beschreibt. Es war für alle zumindest ein sehr unbekanntes Abenteuer, auf das sie sich eingelassen haben, einlassen mussten, dessen Tragweite ihnen damals mit ihren 14, 15, 16 Jahren gar nicht klar sein konnte. Das Abenteuer begann damit, dass 1964 Nachrichten aus den türkischen Arbeitsämtern in den Kleinstädten und Dörfern Anatoliens für Aufregung und Bewegung sorgten: Deutschland suchte Lehrlinge für eine Ausbildung im Bergbau. Eine nicht zu verpassende und einmalige Chance? Ausbildung? Hieß das nicht Lernen, Schule, vielleicht sogar Universität? Die Ruhrzechen hatten Nachwuchsmangel. Die türkische Regierung anders als die griechische, italienische oder spanische konnte sich für diesen Teil des Anwerbeabkommens für Arbeitskräfte nach Deutschland erwärmen, denn ihrerseits gab es kaum Perspektiven für die wachsende junge Bevölkerung. Voraussetzungen Die Jugendlichen sollten gesund sein und Mittlere Reife haben. Auch war die Zustimmung der Eltern notwendig, denn diese mussten ihr Sorgerecht an eine fremde Institution, einen Dorfvater in einem sogenannten Pestalozzidorf oder Lehrlingsheim abgeben, in dem ihre Söhne für die Zeit der Lehre in einer deutschen Familie oder in einem betreuten Lehrlingsheim leben sollten. Die Jungen würden verdienen, bis auf ein kleines Taschengeld würde ihr Lohn auf einem Sparkonto angelegt werden, über das sie später nach Bedarf verfügen könnten. Wer sich anstrengen würde, könnte als Ingenieur zurückkehren. Es war ein verlockendes Angebot für die Familien und die Regionen, in denen tatsächlich neben einer Arbeit beim Barbier, Schuster, als Hilfskraft bei der Verwaltung oder beim Militär wenig Aussichten für ihre Söhne auf gute Arbeit und guten, regelmäßigen Verdienst bestand und ein Studium schon gar nicht im Bereich des Möglichen stand. Dennoch war eine Entscheidung für eine Ausbildung im fernen Deutschland selbstverständlich nicht leicht, vielleicht ein Wagnis oder ein Risiko, das man bereuen müsste. Aber vor allem die Jungen waren voller Hoffnung, als Ingenieur zurückzukehren und die Familien unterstützen zu können. Ende gut, alles gut? Als die Entscheidung einmal gefallen war, konnte es eigentlich kein Zurück geben. Wie schwer es auch immer war, die strenge deutsche Familie, die harte Arbeit, die vielen Unbekannten im Alltag und in der Ausbildung es wurde eine Frage der Ehre, durchzuhalten und es zu schaffen! Jeder der hier Porträtierten hatte seinen Weg zu gehen und fand seine Methode für den Erfolg. Sie alle wurden Techniker, Ingenieur oder Steiger, erkämpften sich Respekt und Würde in ihrer Arbeit, gründeten eine Familie, unterstützten die Familie in der Türkei und blieben in dem Land, in dem sie diese Chance bekommen und ergriffen hatten. Da der Bergbau sie damals unbedingt brauchte, Nachwuchssorgen hatte und auf gut ausgebildete Jugendliche für die Belegschaft angewiesen war, haben diese fast alle eine wohlwollende Aufnahme gefunden, sind umsorgt worden und wurden gefördert und unterstützt, wenn es mal nicht so einfach weiterzugehen schien. Nicht nur die Verantwortlichen der Zechen, die Lehrherrn und die Pestalozzifamilien, auch die Gewerkschaft IGBE und die REVAG Revierarbeitsgemeinschaft für kulturelle Bergmannsbetreuung e. V. haben ihren Teil dazu beigetragen. Integration ist für sie kein Thema. Die Geschichte der neun Männer, die hier stellvertretend für über 1.000 Jugendliche die zwischen 1964 und 1973 in das Ruhrgebiet gingen, erzählt wird, handelt von diesem Wagnis, von den vielfältigen Erfahrungen, von den Erfolgen dieser jungen Leute, die ihren Weg gingen, Schwierigkeiten meisterten und mit Energie und Mut, aber auch mit vielseiti- 6 7

ger Unterstützung und Hilfe durch ihre neue Umgebung es auch bis zum Ingenieur schafften. Ihre Geschichte zeigt auch, dass umfassende Hilfe für das Einleben in eine neue Gesellschaft möglich ist eine Geschichte, die heute angesichts tausender Kriegsflüchtlinge beispielhaft ist. Zum Projekt Glückauf in Deutschland Dieses Projekt geht auf eine Initiative von Sevgi Sarıkaya zurück, Tochter von Bekir Sarıkaya, einem der hier Porträtierten. Sie gab den Anstoß dafür, die Gruppe zu motivieren, ihre Geschichte zu berichten. Zunächst begann 2013 das Erzählen im VIF, dem Verein für Internationale Freundschaften e.v. Dortmund, in dem Migranten der ersten Generation in Eigeninitiative vor 20 Jahren einen Seniorentreffpunkt aufgebaut hatten, mit einer Spurensuche. Es entstand eine kleine Broschüre. In mehreren Erzählrunden ganz verschiedener Teilnehmer aus verschiedenen Ländern über ihren Kulturschock, ihre Anfangsschwierigkeiten und ihre Erwartungen schälte sich die Gruppe der ehemaligen Bergbaulehrlinge heraus und diese waren bereit, Dokumente zu sammeln, zu vergleichen und in Workshops den Roten Faden zu entwickeln. Schließlich entstand 2015 neben dieser Biografiearbeit die Idee einer Ausstellung. Neben der Dokumentensammlung wurden semi-narrative Interviews geführt, biografische Aufzeichnungen gesammelt und für die Präsentation redigiert. Konzeption und Auswahl der Dokumente wurden gemeinsam erarbeitet und für eine Veröffentlichung zusammengestellt. Stichworte waren etwa: Armut und wenige Perspektiven, Wir waren doch Kinder, Zum Glück hatten wir eine (Pestalozzi-)Familie, Die Öffentlichkeit nahm Anteil, Ausbildung heißt das nicht Schule?, Jugend, Spaß und Sport, Einsamkeit überwinden, Geschafft!, Die Enkel genießen. 8 9 Herzstück der Ausstellung Glückauf in Deutschland sind die Lebensläufe der Einzelnen selbst mit ihren zentralen Aussagen, begleitet von fotografischen Inszenierungen, die wie eine Essenz gedacht sind. Wer sich für die Hintergründe der Auswanderung und die Gründe der Anwerbung interessiert, findet dazu ergänzende Beiträge in dem zur Ausstellung erschienenen Buch Glückauf in Deutschland. Das Gleiche gilt für die Einrichtung der Pestalozzidörfer und die Institution Pestalozzifamilie, die es schon vor der Ankunft der türkischen Jugendlichen gab. (siehe Waltz, Viktoria, Verein für Internationale Freundschaften (Hg.) (2015) Glückauf in Deutschland. Oberhausen ASSO Verlag) Das Projekt Glückauf in Deutschland möchte erinnern, aufzeigen und Zeugnis ablegen von der Kraft und den Potenzialen der Migranten, von ihrem Beitrag zur gesellschaftlichen Entwicklung in der Bundesrepublik seit den 1960er-Jahren und der Anerkennung, die sie von Beginn an ihres Auszugs aus der Heimat und der Einwanderung nach Deutschland erfuhren. Biografiearbeit mit älteren Menschen dient beidem: der Selbstvergewisserung und Identitätssicherung einerseits und der Anerkennung durch die Öffentlichkeit im Rahmen von urbaner Erinnerungskultur und der Migrationsgeschichte andererseits. Die hier berichteten Lebensgeschichten sind auch ein Beleg dafür, dass zunächst fremde Zuwanderer, wenn sie positiv empfangen werden und willkommen sind, ihren Weg in die Gesellschaft finden ganz unabhängig von ihrem kulturellen oder religiösen Hintergrund. Wären diese Geschichten längst Teil unseres urbanen Gedächtnisses und Teil der Erinnerungskultur geworden, hätten fremdenfeindliche und islamfeindliche Phobien und Bewegungen sicher weniger Raum. Auch deshalb sehen wir dieses Projekt als einen aktuellen Beitrag zu einer realitätsgerechteren Debatte um Migration und Integration. Wir danken allen Beteiligten und den vielen Förderern. Dr. Viktoria Waltz Verein für Internationale Freundschaften e.v.

GLÜCKAUF BIOGRAFIEN Am 22. November 1964 kamen 76 Jugendliche aus der Türkei aus West-Anatolien, Kappadokien und der Schwarzmeerregion nach einer langen Reise mit dem Zug aus Istanbul in Essen-Heisingen an. Noch einmal wurden sie auf ihre Gedingetauglichkeit, bzw. auf ihre gesundheitliche Tauglichkeit unter Tage untersucht, noch einmal wurden ihre Papiere überprüft und dann endlich kamen sie dort an, wohin die Anwerber aus den Zechen sie versprochenermaßen bringen sollten: in gute, deutsche Familien, wo sie in den nächsten drei bis dreieinhalb Jahren leben würden. Sie wurden aufgeteilt in die Huckarder, die Martener und die Castroper Gruppe nur Zeki Kanag kam allein in ein Lehrlingsheim nach Datteln, was ihn zunächst sehr unglücklich machte. Am 24. November war bereits ihr erster Arbeitstag. Herkunftsorte der neun ehemaligen Lehrlinge Die biografischen Aufzeichnungen und Dokumente der Ausstellung stehen stellvertretend für sie alle. Manche aus dieser Gruppe sind bereits verstorben, viele sind nach der Ausbildung in die Türkei zurückgekehrt. Nicht alle schafften es, bis zur Ingenieursausbildung durchzuhalten und suchten andere Arbeitsgebiete, viele wurden Dolmetscher, was immerhin Arbeit über Tage bedeutete. Zur Feier des fünfzigsten Jahrestages ihrer Ankunft im Dortmunder, Castroper und Dattelner Kohlenrevier kamen immerhin noch über 18 von ihnen nach Bergkamen, darunter auch zwei Kollegen aus der Türkei. Insgesamt sollen über 1.000 Lehrlinge zwischen 1964 und 1973 aus der Türkei in den Ruhrbergbau gekommen sein. 10 11

Portrait Szene

Hasan Akdeniz Meine Devise: Keine halben Sachen! 14 15

Recep Çelikoğlu Wenn Post von zuhause kam, raste mein Herz vor Vorfreude. 16 17

Hasan Demirci Den Pestalozzi-Müttern gilt noch immer unsere Hochachtung. 18 19

Halit Güner Was uns fremd war, haben wir als gegeben hingenommen und akzeptiert! 20 21

Zeki Kanag Ich bin stolz auf das, was wir erlebt und was wir geschafft haben. 22 23

Murtaza Karaoğlu Ausbildung in Deutschland? Das klang in meinen Ohren einfach gut! 24 25

Ihsan Kavag Als junger Mann hatte man doch gewisse Ansprüche. 26 27

Arif Sarıkaya Wir feierten gern und hatten viel Spaß mit den Freunden. 28 29

Bekir Sarıkaya Meine Erfahrung: Nur wer Schlimmes durchmacht, kann Besseres erwarten. 30 31

Ausschnitte aus dem Leben

Bekir mit seinem Bruder S ahin, 1963 Zeki als junger Mann am Hafen von Zonguldak 1963, nach der Mittleren Reife Ich kannte den Bergbau, Zonguldak ist eine Bergbaustadt und mein Vater arbeitete bei der Bergwerkseisenbahn. Die Pestalozzihäuser in Marten (aus Selamlar ve Haberlar, 1965) 1965 unterm Dach im Gemeinschaftszimmer. Wir waren zu dritt, jeder hatte sein Bett und es gab einen Schreibtisch. Ich saß am liebsten auf meinem Bett und spielte auf meiner Cura. Auch die Freunde liebten es es war so etwas wie Frieden in diesem Zimmer, wenn ich spielte und wir gemeinsam sangen. (Recep) Weihnachten 1964 im Pausenraum Zeche Hansa Es gab dort einen großen Adventskranz auch etwas Neues für die türkischen Lehrlinge. Weihnachten, 1964 Krawatte und Manschettenknöpfe - das musste sein! (Hasan Akdeniz) Unsere Betriebsschlossergruppe war relativ klein, die meisten von uns gingen in die Lehre als Bergmann. Hier sind wir im Lehrraum der Zeche Hansa, 1965. Zunächst wurden wir aber in alle Bereiche eingeführt und mussten drehen, schleifen, feilen etc. lernen. (Murtaza) Meine Kollegen beim Kartoffelschälen mit Paula, unserer Pestalozzi-Mutter in Castrop, Am Hasenwinkel, 1965 (Hasan Akdeniz) 34 35

Die Jungen in ihrem Studierzimmer im Dachzimmer bei Bierhoffs, 1965 Sie alle liebten im Sommer die Freizeit im Schwimmbad Deusen. Ihsan mit Freunden, 1966 Hasan als junger Steiger mit seinen Kollegen in der Steigerkaue vor der Anfahrt, 1983 (Hasan Demirci) Bekir arbeitet erst einmal als Hauer unter Tage, nebenher geht er mit den anderen auf die Aufbauschule, aber schon 1969 arbeitet er hauptamtlich als Dolmetscher für die türkischen Arbeitskollegen im Auftrag der Zeche und gibt Deutschunterricht. Ein Zeitungsbericht von 1977 Am besten gefielen ihm die Musikabende im Dorfhaus. Arif hatte eine gute Stimme und war einer der Sänger der Folkloregruppe. Arif 1967 mit der Musikgruppe (mit braunem Pulli) Die Huckarder Gruppe nach bestandener Prüfung 1967, darunter Arif, Bekir, Murtaza, Ihsan Endlich, in seinem Traumberuf Wettersteiger fühlte Halit sich wohl. Als Wettersteiger bist Du einerseits enorm wichtig, Du sorgst dafür, dass die Kollegen da unten genug Sauerstoff haben und sicher ihre Arbeit machen können. Dafür läufst Du Kilometer und prüfst die Gasabsauge und ob die Luft ok ist. Aber andererseits lieben Dich die Kollegen überhaupt nicht, wenn Du wegen drohender Gefahr die Arbeit stoppst. Es liegt viel Verantwortung auf Deinen Schultern. Halit bei der Gasabsaug-Kontrolle in Hamm, Zeche Heinrich Robert 1984, der damals jüngste Wettersteiger im Ruhrbergbau 36 37

Ein Projekt der lebendigen Erinnerung im Verein für Internationale Freundschaften e.v. vifdo.wordpress.com vifdo@web.de Szenische Fotografien und Portraits: Cornelia Suhan Text und Redaktion: Dr. Viktoria Waltz Gestaltung: Artus Design, Guido Wessel Ausstellungstechnik: plot.tec Gefördert durch: Unterstützt von: Wir danken allen Freunden, die uns von Anfang an unterstützt und an unser Projekt geglaubt haben: Gerd Bosch Cengiz aus Köln Hans Jürgen Fey Jürgen Mohr Sebastian Müller Helmut Müntefering Frau Raffin Guntram Schneider Mahkam Safaei-Shahverdi Theo und Viviane Voigt Wir danken besonders für den nötigen Rückenwind: Hanife Akdeniz Birsen Çelikoğlu Anne Demirci Gülten Güner Gabi Kanag Münevver Karaoğlu Suzan Kavak Evelyn Sarıkaya Hatice Sarıkaya Dortmund Ring Deutscher Bergbauingenieure Unna SBB Dortmund Südwestfalen Agentur GmbH Iserlohner Gemeinnützige Wohnungsgesellschaft mbh Schamp & Schmalöer, Architekten und Planer SIG Schürmann, Ingenieurgesellschaft