Medizinische Universitäts-Kinderklinik Prof. Dr. med. Primus E. Mullis Abteilungsleiter Pädiatrische Endokrinologie / Diabetologie & Stoffwechsel CH 3010 Bern Marfan-Syndrom Wie kommt es dazu? In jeder Zelle unseres Körpers gibt es eine mikroskopisch kleine Informationseinheit, die DNA (Desoxyribonukleinsäure). Auf diesem winzigen Träger liegen die Gene, die alle Informationen über unseren Körper beinhalten. Diese Gene sind verantwortlich dafür, dass unser Körper richtig wächst und funktioniert. Mehr als 25 000 solche Gene besitzt der Mensch. Wenn nur eines dieser Gene verändert ist oder fehlt, kann das Auswirkungen auf den ganzen Menschen haben. Beim Marfan-Syndrom trifft genau dies zu. Ein einziges Gen, das Fibrillin-1-Gen ist verändert. Dies kann passieren wenn die Eltern ein solches verändertes Gen ihren Kindern vererben (ca. 70% aller Marfan- Kinder), oder sich dieses Gen in der Zelle des Kindes selbst verändert (ca. 30% aller Marfan-Kinder). Vererbung Wenn ein verändertes Fibrillin-1-Gen vererbt wird geschieht dies autosomal dominant. Was heisst das? Alle Gene jedes Menschen sind verteilt auf 22 geschlechtsunabhängig Chromosomen-paare und 2 Geschlechtschromosomen (Frauen haben zwei X und Männer ein X und ein Y Chromosom). Das Fibrillin-1-Gen liegt auf einem geschlechtsunabhängigen Chromosomenpaar. Man spricht von Chromosomenpaaren, weil jeder Mensch zwei Ausgaben der Chromosomen hat, ein Satz von der Mutter und einer vom Vater. Dies gilt nicht für die Geschlechtschromosomen. Dominant heisst hier also, dass das veränderte Fibrillin-1-Gen sich gegen sein gesundes Gen durchsetzt. Das heisst, dass dies nichts mit dem Geschlecht zu tun hat, und dass wenn ein Elternteil so eine Genveränderung hat und dementsprechend auch ein Marfan- Syndrom, die Chance 50 % ist dass das Kind auch an einem Marfan-Syndrom erkrankt ist. In Wirklichkeit kann es aber sein, dass innerhalb einer Familie die verantwortliche Gen-Abweichung an keines der Kinder, an mehrere oder an alle Kinder vererbt wird. Kinder, die diese Mutation nicht geerbt haben, können das Marfan-Syndrom auch nicht weiter vererben. Sind beide Elternteile vom Marfan- Syndrom betroffen, beträgt die Chance, dass ihre Kinder krank sind 75%. Was macht das Gen? Das Fibrillin-1-Gen liegt auf Chromosom 15. Es ist verantwortlich für die Herstellung von Fibrillin-1, einem Baustoff der Mikrofibrillen. Mikrofibrillen sind wiederum im ganzen Körper in verschiedensten Geweben zu finden. So befinden sie sich zum Beispiel in der Wand von Blutgefässen, im Muskel und in Bändern, im Skelett, Augen, Lungen und Haut. 1
Bei Menschen mit Marfan-Syndrom bilden sich zu wenige oder schadhafte Mikrofibrillen, das Gewebe wird dadurch schwach und kann seine wichtige Stütz- und Stabilisierungsaufgabe nur noch ungenügend erfüllen. Kombination und Ausprägung der Merkmale und Symptome sind von Person zu Person verschieden; es gibt Betroffene, die lange Zeit keine oder geringe Beschwerden haben, andere wiederum sind schon im Kindesalter körperlich stark beeinträchtigt. Merkmale Das Marfan-Syndrom kann sich überall dort wo der Baustoff Fibrillin-1 vorhanden ist zeigen. Jedoch zeigt es sich bei jedem Menschen verschieden in Form und Ausprägung. Das Spektrum reicht von der schweren neonatalen Form, über den klassischen Marfan-Typ: gross mit schmalen Gliedern, bis hin zu einer äusserlich kaum sichtbaren Ausprägung. Die folgenden Zeichen können, müssen aber nicht vorhanden sein. Schweregrad der Symptome nimmt mit dem Alter in der Regel zu. Herz-Kreislauf: Die gefährlichste und oft tödliche Folge eines Marfan-Syndroms ist die Überelastizität der Aorta (Hauptschlagader). Diese kann unter Umständen reissen (Ruptur) oder sich zweiteilen (Dissektion). Auch können die Herzklappen betroffen sein. Diese können dann nicht mehr richtig schliessen, was zu Herzproblemen führen kann.!!! Plötzliche heftige Schmerzen im Bereich von Brust, Bauch oder Rücken und/oder Symptome wie Blässe, Pulslosigkeit, Lähmungserscheinungen, Gefühlsstörungen oder akute Schwächegefühle in einem oder beiden Beinen oder in den Armen erfordern sofortige medizinische Hilfe. Diese Symptome können darauf hinweisen, dass die Wand der Aorta eingerissen oder die Aorta ganz gerissen ist. Eine solche Schädigung verursacht schwere innere Blutungen, die ohne sofortige chirurgische Behandlung zum Tod führen!!! Skelett: Menschen mit Marfan-Syndrom sind oft aber keineswegs immer grösser als ihre nahen Verwandten, haben einen schmalen Körper, überproportional lange Arme und Beine und lange, feingliedrige Finger und Zehen. Das Gesicht ist oft lang und schmal. Der Gaumen ist hoch (gotisch) und der Kiefer schmal, dadurch kommt es zu Zahnengstellungen oder «Überbiss». Bei Kindern kann der Gesichtsausdruck älter wirken als bei nicht betroffenen Gleichaltrigen. Verbreitet sind Verformungen der Wirbelsäule, zum Beispiel Skoliosen. Hühner- oder Trichterbrust und Knick-Senkfüsse kommen ebenfalls gehäuft vor. «Lockere», überstreckbare Gelenke sind für viele Betroffene charakteristisch. Einige weisen Gelenkverrenkungen auf oder eine Streckhemmung des Ellenbogengelenkes. Die Beweglichkeit der Hüftgelenke kann eingeschränkt sein. Viele Menschen mit Marfan-Syndrom haben Gelenkschmerzen. Die Muskulatur ist meist schwach entwickelt und lässt sich auch mit Krafttraining oder anderen sportlichen Aktivitäten kaum verbessern. 2
Augen: Wenn der Halteapparat der Augenlinse betroffen ist, kann diese verrutschen. Auch kann sich die Netzhaut ablösen. Dies führt zu Sehproblemen bis zur Erblindung.!!! Plötzlich auftretende Sehprobleme «Blitze» oder «Schatten» sehen können Zeichen einer Netzhautablösung sein. Bei solchen Anzeichen muss sofort ein Arzt aufgesucht werden!!! Lunge: Auch im Bereich der Lungen äussert sich die Bindegewebeschwäche als Einschränkung der Elastizität. Durch eine Überdehnung des Lungengewebes können kleine Aussackungen entstehen (Emphysem) und schliesslich platzen. Dadurch kann Luft in den mit Flüssigkeit gefüllten Spalt zwischen Lunge und Brustwand gelangen. Dies führt zum Zusammenfallen (Kollaps) eines Lungenflügels, zu einem so genannten Pneumothorax. Etwa 4 Prozent der Menschen mit Marfan-Syndrom entwickeln im Laufe ihres Lebens einen Pneumotharax.!!! Bei akuter Luftnot (Dyspnoe) sollen Betroffene sofort das nächste Spital aufsuchen!!! Diagnose: Es gibt spezielle Kriterien anhand von denen ein Marfan-Syndrom diagnostiziert werden kann. Siehe Anhang. Sie soll nur von einem erfahrenen Arzt gestellt werden. Da das Marfan-Syndrom ein sehr variables Krankheitsbild ist, kann es sehr schwierig sein die Diagnose zu stellen. Weiterhelfen kann da der Gentest. Der ist zwar relativ aufwändig, gibt aber zuverlässig Auskunft über Veränderungen auf dem zuständigen Gen. Falls ein Gentest ein Marfan-Syndrom zeigt, sollte Mutter, Vater und Geschwister auch genetisch untersucht werden, da die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass in der Familie mehrere Leute betroffen sind. Therapie: Das Marfan-Syndrom ist nicht heilbar. Durch medizinische Kontrollen und Interventionen kann aber eine gute Lebensqualität und auch eine normale Lebenserwartung erreicht werden. Das wichtigste Therapieziel ist eine Schädigung der Aorta (Hauptschlagader) zu verhindern. Dies kann zum Beispiel durch Senken des Blutdruckes erreicht werden. Beta-Blocker oder andere blutdrucksenkende Medikamente werden dafür verwenden. Der Durchmesser der Hauptschlagader muss in regelmässigen Abständen von einem Spezialarzt gemessen werden, zum Beispiel mit einem Ultraschall. So kann dieser sehen, in welchem Zustand die Hauptschlagader sich befindet. Ist der Durchmesser über 5 cm, muss sie eventuell durch eine künstliche Ader ersetzt werden. Auch die Herzklappen können bei dieser Untersuchung beurteilt werden. 3
Da das beschleunigte Körperwachstum körperliche, wie auch seelische Schäden bewirken können, kann mit Medikamenten (Sexualhormone) das Wachstum zu bremsen versucht werden. Bei schweren Körperverformungen wie z.b. einer Skoliose, bei Trichter- oder Hühnerbrust kann man diskutieren, ob man diese chirurgisch angehen soll. Schmerzen kann man mit Schmerzmitteln oder Physiotherapie zu lindern versuchen. Regelmässige Augenkontrollen sind wichtig. Die Sehschärfe kann mit Brille oder Kontaklinsen korrigiert werden. In gewissen Fällen soll operiert werden. Mit all diesen Massnahmen kann erreicht werden, dass vom Marfan-Syndrom betroffene Menschen ein normales Leben führen können. Die medizinische Forschung arbeitet an neuen und immer besseren Therapiemöglichkeiten. Wenn sie weitere Fragen zum Marfan-Syndrom haben können sie jederzeit bei uns nachfragen. Informationen und Adressen können auch bei der schweizerischen Marfan-Stiftung erfragt werden (www.marfan.ch). can. med. Peter Bucher/ Prof. P.E. Mullis Oktober 2007 4