Ausschnitte aus Mamablog, Tagesanzeiger, 21.09.2014 (Teil 1): Rund 12 300 Frauen pro Jahr erkranken alleine in der Schweiz an einer postnatalen Depression. Ein grosser Teil davon leidet still vor sich hin. Die 26-Jährige S.G. hatte eine lange, relativ schwere Geburt und fühlte sich danach nur erschöpft und müde. Mutterfreude verspürte ich kaum, erzählt sie, es gab keine Glückstränen oder Ähnliches, wie man das aus Filmen kennt. Schon am ersten Tag nach der Geburt fühlte ich eine gewisse Leere und Blockade in mir, sagt sie. Dieser Zustand sei schwer zu beschreiben, umso mehr, als ihre Erinnerung an diese ersten Tage sehr verschwommen sei. Da sie selber aus dem medizinischen Bereich komme, habe sie aber damals schnell gemerkt, dass etwas nicht stimmte. Am dritten Tag nach der Geburt war mein Mann bei uns und Freunde kamen zu Besuch. Ich bat ihn, mit Baby und Freunden ins Besucherzimmer zu gehen, ich käme dann nach. Kaum waren sie zur Tür hinaus, kamen mir die Tränen und ich konnte nicht mehr aufhören zu heulen. Ich kam nicht aus dem Bett und wenn doch, hatte ich Panikattacken mit heftigem Zittern und Verkrampfungen. Zudem konnte ich während zweier Wochen praktisch nichts essen und nahm 11 Kilo ab. Ihr Kind habe sie zwar nie bewusst vernachlässigt, aber sie habe keine Gefühle für das Baby empfunden und konnte keinen Körperkontakt zum Neugeborenen zulassen. So hart es klingen mag: Sie hätte genauso gut irgendein Gegenstand sein können. Auf Anraten der Psychiaterin war sie während dieser ersten Zeit keinen Moment alleine zu Hause mit dem Kind. Denn der Wille, eine gute Mutter zu sein, war immer da. Ich wollte funktionieren und das Muttersein geniessen. Aber ich konnte es einfach nicht.
Die vielen Gesichter der Depression Depression und Wochenbett Catherine Walther, Fachärztin für Psychiatrie/Psychotherapie Ines Uhr, Hebamme/Dozentin
Inhalt Definition und Diagnose Depression Depression im Wochenbett Fallbeispiele Therapie Depression Therapie Wochenbettdepression Medikamente im Wochenbett Prävention Diskussion
Definition Depression Erkrankung, die willentlich nicht beeinflussbar ist Steht in Zusammenhang mit Belastung/Erschöpfung Familiäre Anlage/Vererbung möglich Kann Spätfolge von Traumatisierung sein Ist charakterisiert durch Störung von Übermittlersubstanzen der Nervenzellen im Gehirn Behandlung medikamentös und psychotherapeutisch
Diagnose Depression Symptome Körper Symptome im Gefühlsbereich Symptome im Gedankenbereich
Symptome Körper Müdigkeit innere Unruhe Antriebslosigkeit Appetitlosigkeit mit Gewichtsverlust Verstopfung Einschlaf- und Durchschlafstörungen Früherwachen
Symptome im Gefühlsbereich Morgentief Motivationslosigkeit Ängste (grundlose) Traurigkeit Mutlosigkeit
Symptome im Gedankenbereich Gedankenkreisen Gedankenblockaden Gedankenleere Unentschlossenheit Selbstentwertung Suizidgedanken (ev. unter Einbezug des Neugeborenen)
Depression im Wochenbett Babyblues Wochenbettdepression Wochenbettpsychose
Babyblues (=Heultage) leichte depressive Verstimmung Häufigkeit 50-80% In den ersten 2 Wochen nach Geburt Dauer: einige Stunden bis 1 Woche Symptome: Angst, Reizbarkeit, Unruhe, Weinerlichkeit, Müdigkeit, Verletzbarkeit, vorübergehende Schlafstörungen Auslösende Faktoren: grosse körperliche/soziale Umstellung nach der Geburt Therapie: nicht notwendig (Zuwendung)
Wochenbettdepression (=postnatale/postpartale Depression) Häufigkeit: 7-30% Beginn 2-6 Wochen nach Geburt Symptome: wie Depression, zudem wenig/fehlende Mutterliebe, sich als schlechte Mutter fühlen, Schuldgefühle, Entwicklung von Verletzungsideen sich und dem Kind gegenüber Auslösende Faktoren: hormonelle Veränderung durch Geburt, Schlafmangel, verändertes Körperbild, Identitätskrise (von Tochter zu Mutter, von Berufsfrau zu Hausfrau, ), hohe Ansprüche an sich selbst als Mutter, traumatische Geburt, Probleme im Wochenbett (Trennung vom Kind, krankes/totes Kind), fehlende Unterstützung durch Umfeld Therapie: ambulant oder stationär Kann auch Väter treffen!
Wochenbettpsychose (=postpartale Psychose) Schwere psychiatrische Erkrankung im Wochenbett, kann sich aus Wochenbettdepression entwickeln Häufigkeit: 1-3% Auftreten 4.-10. Tag nach Geburt Auslösende Faktoren: wie Depression Symptome: wie Depression, zudem scheinbare Abstumpfung, psychomotorische Erstarrung, erhebliche Stimmungsschwankungen, Desorientiertheit bis Realitätsverlust, Halluzinationen, Wahnvorstellungen, normale Alltagsbewältigung nicht mehr möglich Therapie: stationäre, psychiatrische Behandlung, Achtung: Selbst- oder Fremdgefährdung!
Fallbeispiele 1. Was schildert die Frau? 2. Was beobachten wir?
Therapie einer Depression Psychoedukation Medikation Psychotherapie Milieutherapie Schutz!
Psychoedukation Krankheit erklären Verständnis über biochemische Auswirkungen kann Bereitschaft für eine medikamentöse Behandlung erhöhen
Medikation Antidepressiva (auch pflanzlich) Angstlösende oder beruhigende Mittel (wirken schnell, machen abhängig) Neuroleptika
Psychotherapie Gesprächstherapie (ambulant oder stationär) Bewegungs-/ Körpertherapie Kunsttherapie Musiktherapie Ergotherapie/ Werktherapie
Milieutherapie Stationär oder teilstationär Tagesstruktur mit Unterstützung Spazieren und Fitness SCHUTZ (nicht allein sein mit dem Kind)
Parenting assessment (= Einschätzung der Eltern) Gibt es eine Gefahr für das Baby? Wie sorgt die Mutter für das Baby? Kann sie die Bedürfnisse des Babys erkennen und adäquat reagieren? Wie ist die emotionale Bindung? Welche Hilfen braucht die Mutter? Wer muss involviert werden?
Therapie Wochenbettdepression Eventuell stationäre Behandlung (mit Kind) Begleitung durch Hebamme für Stillfragen und für mehr Sicherheit Parenting training / Förderung Mutter-Kind-Beziehung: Versorgung des Kindes, Interaktion mit dem Baby, Beruhigen, Bindung stärken Kontakt zwischen Hebamme - GynäkologIn - PsychiaterIn herstellen Wo gibt es Ressourcen in Familie und Umfeld? Was kann der Partner beitragen? Vorsorglich Entlastung organisieren (tageweise? Nachts? Andere Kinder?) Sicherung des Nachtschlafs
Medikamente im Wochenbett Problematik: Bei fast allen Medikamenten steht im Beipackzettel kontraindiziert in Schwangerschaft und Stillzeit Doch: Bei schwerer Erkrankung und Gefahr im Verzug besteht für den Arzt Behandlungspflicht, d.h. er muss die Medikamente mit dem geringsten Risiko auswählen. Das sind i.d.r. eher ältere Medikamente, von denen es genügend Untersuchungen in der Behandlung von Schwangeren gibt. (vgl. Behandlung von Kindern)
Medikamente im Wochenbett Psychopharmakotherapie in Schwangerschaft und Stillzeit A.Rohde/Ch.Schäfer Unter einer guten Nutzen-Risiko-Abwägung ist Stillen grundsätzlich mit einer antidepressiven und neuroleptischen Medikation vereinbar Wichtig ist immer die Einbeziehung des Kinderarztes, der beurteilen kann, ob das Kind gesund ist, und ob Stillen unter Medikation vertretbar ist. (Auch Einbezug der Hebamme!)
Medikamente im Wochenbett Generell scheint für die mentale Entwicklung des Kindes eine genügend gute Mutter-Kind-Interaktion einflussreicher zu sein als die Medikation vor und nach der Geburt Psychopharmakotherapie in Schwangerschaft und Stillzeit A.Rohde/Ch.Schaefer
Prävention vorbeugende Massnahmen Unnötige Belastungsfaktoren vermeiden. Nichts Grösseres planen (Wohnungswechsel, berufliche Veränderung, etc.) Organisation des Alltags mit einem Säugling durchdenken, Unterstützung organisieren Selbstbestimmte Schwangerschafts-/ Geburtsbetreuung anstreben (z.b. mit Beleghebamme; Kontakt mit Hebamme bereits in Schwangerschaft) Hormonabfall nach Geburt mit Medikamenten abfedern (Utrogestan = Progesteron oder Antidepressiva, z.b. bei vorangegangenen Wochenbettdepressionen) Antidepressiva in der Schwangerschaft nicht absetzen (nach Rücksprache mit Arzt) Sich wagen Thema anzusprechen (bei sich selbst und bei anderen)
Ausschnitte aus Mamablog, Tagesanzeiger 21.09.2014 (Teil 2): Vor Freunden und Familie hielt sie ihre Erkrankung zu Beginn versteckt. Es war mir peinlich, gibt sie zu. Mit der Zeit habe sie jedoch angefangen, ganz offen darüber zu reden, als hätte ich bloss die Grippe, keine Depression. Die meisten Menschen seien ob dieser Offenheit anfangs irritiert und peinlich berührt gewesen. Sie wussten nicht, was sie dazu sagen sollten, weil man eben nicht darüber spricht. Depressive Mütter sind ein Tabuthema, sagt sie. Und macht sogleich ihrem Ärger Luft: Eine postnatale Depression ist eine Krankheit, sie ist nicht hausgemacht! Es kann jede treffen und man hat als Mutter keineswegs versagt, wenn man in eine Depression verfällt. Sie wünscht sich, dass man mehr über das Thema reden würde. Das würde es den betroffenen Frauen viel einfacher machen, sich Hilfe zu holen.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit! Fragen?