PROJEKTION & REFLEXION

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Transkript:

Sabine Haupt Oliver Ruf (Hg.) PROJEKTION & REFLEXION Das Medium Film in Kunst und Literatur Le cinéma dans l art et la littérature

Mediale Produktionen und gestalterische Diskurse bilden ein vehement zu beforschendes ästhetisches Dispositiv: Medien nehmen nicht nur wahr, sondern werden selbst wahrgenommen und wahrnehmbar(er) insbesondere durch die Grundkonstellationen ihrer oft technischen Artefakte und der diesen voran gehenden Entwürfe, mithin vor der Folie des dabei entstehenden Designs. Die Reihe MEDIEN- UND GESTALTUNGSÄSTHETIK versammelt dazu sowohl theoretische Arbeiten als auch historische Rekapitulationen und prognostizierende Essays. Die Reihe wird herausgegeben von Prof. Dr. Oliver Ruf.

Sabine Haupt Oliver Ruf (Hg.) PROJEKTION & REFLEXION Das Medium Film in Kunst und Literatur Le cinéma dans l art et la littérature Medien- und Gestaltungsästhetik 6 Hrsg. v. Prof. Dr. Oliver Ruf

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar 2018 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigung, Übersetzung, Mikroverfilmung und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Natalie Herrmann, Theresa Annika Kiefer, Lena Sauerborn, Elisa Siedler, Meyrem Yücel Designkonzeption: Andreas Sieß Gestaltung & Satz: Kiron Patka Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN Print: 978-3-8376-4111-0 ISBN PDF: 978-3-8394-4111-4 https://doi.org/10.14361/9783839441114 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: info@transcript-verlag.de Diese Publikation wurde gefördert durch die Université Fribourg (Rektorat, Forschungsfonds, Philosophische Fakultät).

Inhaltsverzeichnis 9 Sabine Haupt Oliver Ruf Vorwort Film Kunst Literatur: Intermediale Entfaltungen 15 35 57 83 97 Fabian Lampart Filmische Reflexionen in der Lyrik des 20. Jahrhunderts Karin Janker Vom Stummfilm zur Virtuellen Realität Kinematographische Totalitätsansprüche in Mynonas Graue Magie und Aldous Huxleys Brave New World Sabine Haupt Vom Kinogedicht zur Filmlyrik Claire Goll & Co zwischen Kintoppschelte und»illuminations«nadja Cohen Le flip-book poétique ou l écriture sous influence de Jérôme Game Sylvain Briens L espace-temps des émotions dans le cinéma et le théâtre scandinave Strindberg, Trier, Bergman, Fosse, Lygre : une lecture topologique

119 137 151 183 Arnd Beise Herausforderung Film Peter Weiss zwischen den Künsten Thomas Hunkeler Samuel Beckett et l œil de la caméra, (d )après Dziga Vertov Oliver Ruf Vom Riss Eine kunsttheoretische Methode, ihre filmische (Re-)Produktion und ihr literarisches Bedenken Jacques Aumont Peindre l arrêt sur image 199 Eva Kuhn Im-Mobile Kadragen zwischen Lebenswelt und Kunst Oder: zwei kinematografische Figuren von Chantal Akerman 219 239 Simon Vagts Über die Taktilität im Digitalen Jean-Luc Godard nach Marshall McLuhan Beiträgerinnen und Beiträger

Vorwort Film Kunst Literatur: Intermediale Entfaltungen Im Zentrum der intermedialen Thematik des vorliegenden Bandes steht nicht die ja schon vielfach, etwa im Hinblick auf Literaturverfilmungen untersuchte Frage nach den Erscheinungsformen von Kunst und Literatur im Medium des Films, 1 sondern umgekehrt: Film und Kino als Thema, Motiv oder mediale bzw. narrative Technik in Kunst und Literatur. Zwar existieren auch zu diesem Aspekt des Themas bereits einschlägige Publikationen, insbesondere zu film-analogen Erzählweisen der Moderne wie Montage, Cut-Up, Camera- Eye-Technik etc., oder zur Crossover-Ästhetik als zentraler Kategorie der zeitgenössischen Kunst, aber auch zu bestimmten Kino-affinen Themen und Motiven in Kunst und Literatur. 2 Im Fokus dieses Bandes stehen dagegen vielmehr medientheoretische, medienhistorische und mediengestalterische Fragen nach dem intermedialen Potenzial des Kinos, etwa diejenige, inwiefern der Film bzw. das Kino in den anderen Künsten als mediale Herausforderung erfahren wird? Die Kunst der Avantgarden ist in diesem Kontexten vermehrt auf ihre Tendenzen zur Entgrenzung im Sinne einer Aufhebung und Selbstüberschrei 1 Siehe dazu u. a. etwa Volker Wehdeking (Hg.): Medienkonstellationen. Literatur und Film im Kontext von Moderne und Postmoderne. Marburg: Tectum, 2008. 2 Siehe dazu u. a. etwa Sandra Poppe u. Sascha Seiler (Hg.): Literarische Medienreflexionen. Künste und Medien im Fokus moderner und postmoderner Literatur. Berlin: Erich Schmidt, 2008.

SABINE HAUPT OLIVER RUF 10 tung der einzelnen Künste (auf Nicht-Kunst sowie auf andere Medien) hin untersucht worden auf Tendenzen also, die für die neo-avantgardistische und zeitgenössische, so genannte post-mediale Kunst konstitutiv geworden ist. 3 Auch vor diesem Hintergrund möchte der Band den Film als technisch reproduzierbares 4 Medium, das derartige Entgrenzungstendenzen in den Künsten grundlegend herausgefordert und verstärkt hat, in den Mittelpunkt stellen. Dabei soll es allerdings nicht allein darum gehen, die von Walter Benjamin beschriebene Veränderung der künstlerischen Produktion und Rezeption im Film und durch den Film in Bezug auf die Reproduzierbarkeit der Künste sowie die Mobilisierung der Massen zu untersuchen. Auch das anhaltende, über mehrere Epochen andauernde mediale und ästhetische bzw. diskursive Ringen um lebendige Kunst, Plastizität und bewegte Bilder, zu dem es auch in der Literatur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts eine ganze Reihe von Literarisierungen und Poetisierungen gibt, rückt dazu in den Fokus. Für die Literatur besonders relevant erweist sich hier im Übrigen die mediale Konkurrenz zwischen Zeigen und Vorstellen, mithin zwischen visueller Mimesis und Phantasie, sowie die im Grunde theoretisch kaum zu fassende, doch überaus verbreitete poetologische Kategorie der Anschaulichkeit. 5 Obwohl Film und Kino mehrere Jahrzehnte gebraucht haben, um sich als Kunstform bzw. als Kunst-Institution durchzusetzen und zu etablieren, d.h. im Kanon der Künste als gleichwertig anerkannt zu werden, 6 hat der Film mit seinen neuen medialen und darstellerischen Möglichkeiten bereits früh auf Kunst und Literatur gewirkt. Hierbei spielt der im Zeichen der Medienkonkurrenz stehende Impuls der ästhetischen und ideologischen Abgrenzung eine ebenso große Rolle wie der Versuch, filmische Verfahren auf die Kunst und/oder die Literatur zu übertragen. 7 Solche ästhetischen Transfers gesche 3 Siehe dazu u. a. etwa Henk Oosterling, Henk (2003):»Sens(a)ble Intermediality and Interesse. Towards an Ontology of the In-Between«. In: Intermedialités. Histoire et théorie des arts, des lettres et des techniques.»naître«(no. 1/ 2003), S. 29 46. 4 Siehe dazu Walter Benjamins Aufsatz: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit von 1936 (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1963). 5 Siehe dazu die Geschichte des Begriffs von Aristoteles bis hin zu den phänomenologischen Ansätzen bei Franz Brentano und Edmund Husserl. Vgl. auch Gyburg Radke Uhlmann u. Arbogast Schmitt (Hg.): Anschaulichkeit in Kunst und Literatur. Wege bildlicher Visualisierung in der europäischen Geschichte. Berlin u. Boston: De Gruyter, 2011. 6 Vgl. Rudolf Arnheim: Film als Kunst. Mit einem Nachwort v. Karl Prümm u. zeitgenössischen Rezensionen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2002. 7 Siehe dazu u. a. etwa Roger Lüdeke u. Erika Greber (Hg.): Intermedium Literatur. Beiträge zu einer Medientheorie der Literaturwissenschaft. Göttingen: Wallstein, 2004.

VORWORT hen sowohl als medieninterne Analogie bzw. Metapher (etwa in einem filmischen Erzählen, 8 bei dem zwar filmanaloge Techniken zur Anwendung kommen, ein konventioneller Erzählrahmen aber beibehalten wird), wie auch als direkte Übernahme bestimmter technischer Prinzipien, z. B. in der seriellen Malerei der Moderne oder den diversen narrativen und bildnerischen Verfahren der Montage. 9 Im Fokus des Bandes stehen solche intermedialen Schnittstellen zwischen Kunst und Film auf der einen sowie zwischen Literatur und Film auf der anderen Seite. Dabei liegt das Ziel einerseits in der Erkundung des intermedialen und kulturgeschichtlichen Feldes, das solche Begegnungen, Überschneidungen und Verschiebungen überhaupt erst ermöglicht. Das heißt, gefragt wird, unter welchen kulturellen, sozial- und technikgeschichtlichen Prämissen der Film für die anderen Künste zum Modell wird. Zum anderen zielt der Band auf die Erkenntnis grundlegender und übertragbarer Mechanismen ästhetischer, technischer und kulturhistorischer Natur, die diese intermedialen Prozesse der Aneignung charakterisieren, strukturieren und steuern. Hier geht es also darum, den für die Kunst der Moderne konstitutiven Prozess einer zunehmenden Vernetzung der Künste untereinander sowie auch die permanente Um- und Neudefinition zwischen Hoch- und Populärkunst bzw. Kunst und Nicht-Kunst anhand konkreter Fallstudien weiter zu erforschen und damit an ähnlich gelagerte Projekte der letzten Jahre anzuknüpfen, 10 hier allerdings mit einem spezifischen Fokus auf bestimmte Schnittstellen. Wesentlich für diese Fragestellung ist daher der konkrete Vergleich zwischen den intermedialen Paaren Film/Kunst bzw. Film/Literatur sowie der interdisziplinäre Dialog zwischen Kunstgeschichte, Literaturwissenschaft sowie Film- und Medienwissenschaft respektive Mediendesign über ihre jeweiligen Erkenntnisse und Erfahrungen mit intermedialen Fragestellungen aus dem Gebiet des Films. Um einen Sprach- und Kulturgrenzen überschreitenden Einblick in diese Thematik zu erhalten, soll schließlich dieser Dialog erweitert und daher sowohl deutsch- als auch französischsprachige Beiträge versammelt werden ein Umstand, der auch dem bilingualen Umfeld dieser Publikation geschul 11 8 Siehe dazu u. a. etwa Stephan Brössel: Filmisches Erzählen. Typologie und Geschichte. Berlin u. Boston: de Gruyter, 2014. 9 Siehe dazu u. a. etwa Daniel Winkler, Martina Stemberger u. Ingo Pohn-Lauggas (Hg.): Serialität und Moderne. Feuilleton, Stummfilm, Avantgarde. Bielefeld: transcript, 2018. 10 Siehe dazu u. a. etwa Ruth Reiche et al. (Hg.): Transformationen in den Künsten. Grenzen und Entgrenzung in bildender Kunst, Film, Theater, Musik. Bielefeld: transcript, 2011.

SABINE HAUPT OLIVER RUF 12 det ist: Die meisten Beiträge basieren denn auch auf Vorträgen, die auf einer zweisprachigen (deutsch-französischen) Tagung gehalten und diskutiert wurden, die am 06. und 07. Oktober 2016 an der Universität Fribourg (CH) stattfand und die gemeinsam mit den KunsthistorikerInnen Julia Gelshorn und Victor Stoichita organisiert wurde. Beiden gilt hierfür unser aufrichtiger Dank. Gleichermaßen danken wir dem Rektorat und dem Forschungsfonds der Universität Fribourg sowie dem Fonds d action facultaire (FAF) der Philosophischen Fakultät der Universität Fribourg, die durch eine entsprechende Förderung die Drucklegung des Bandes ermöglicht haben. Unser Tagungsband soll kunsttheoretische und intermediale Perspektiven sowie konkrete künstlerische oder literarische Verfahren diskutieren, die auf die Beschäftigung mit Kino und Film zurückgehen, wobei die Reflexion bestimmter kulturhistorischer und technikgeschichtlicher Entwicklungen und Konstellationen im Vordergrund steht. Zum einen geht es also um die interdisziplinäre Beleuchtung einer bisher nur in Ansätzen erforschten Schnittstelle zwischen Filmwissenschaft, Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte, zum anderen um den Dialog unterschiedlicher Kulturen und Sprachen. Der Film als sowohl bildlich-räumliche wie auch als narrativ-zeitliche Kunst initiiert dabei so die übergeordnete These im Zeitalter von (Post-)Moderne und technischer Reproduzierbarkeit von Kunstwerken kategoriale Schwellen-Überschreitungen, 11 die von den älteren Künsten sowohl reflektiert wie auch integriert werden und zu bemerkenswerten medialen Neuorientierungen führen. Fribourg (CH) und Furtwangen im Schwarzwald, im Sommer 2018 Sabine Haupt und Oliver Ruf 11 Siehe dazu u. a. auch Winfried Menninghaus: Schwellenkunde. Walter Benjamins Passage des Mythos. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1986.

Fabian Lampart Filmische Reflexionen in der Lyrik des 20. Jahrhunderts 1 Konstellationen Bezüge auf Kino und Film in lyrischen Texten sind vielfältig. In The Faber Book of Movie Verse werden lyrische Thematisierungen ganz verschiedenartiger Schwerpunkte der Filmgeschichte vorgeführt: der Stummfilm, Hollywood, das Star-System oder die Position»Behind the Camera«sind ebenso Kategorien wie Kinos und das Kinogehen als Institutionen. Auf der anderen Seite werden auch»films and Genres«und»Movies as Metaphor«angeführt. 1 Es finden sich also sowohl Thematisierungen von Elementen des Kinos oder der Filmindustrie als auch formale Annäherungen von Film und Lyrik. Gibt es in diesen sehr verschiedenartigen Feldern der intermedialen Beziehungen zwischen Lyrik und Film etwas, das man als übergreifende gemeinsame Charakteristik bezeichnen kann? In der Lyrik verdichten sich in konzentrierter Weise klanglich-lautliche und rhythmische Qualitäten der Sprache. Sie ist, um die aktuelle Definition von Rüdiger Zymner einzuführen,»diejenige Gattung, die Sprache als Medium [...] demonstriert bzw. demonstrativ sichtbar macht, die mithin den Eigensinn von Sprache vorzeigt, [ ] deren generisches Charakteristikum darin besteht, ein Display sprachlicher Medialität zu sein«. 2 Sowohl narrative als auch dramatische Texte haben demnach mehr Gemeinsamkeiten und Berüh 1 Philip French, Ken Wlaschin (Hg.): The Faber Book of Movie Verse. London u. Boston: Faber and Faber, 1994. 2 Rüdiger Zymner: Lyrik. Umriss und Begriff. Paderborn: Mentis, 2009, S. 96 97.

Fabian Lampart 16 rungspunkte mit dem Film: Die Präsentation einer Erzählung sowie die Art und Weise ihrer szenisch-dramatischen Darbietung scheinen sie eher als die Lyrik zum produktiven Austausch mit dem Film zu prädestinieren. In Filmgeschichte und Filmtheorie wurde diese Nähe zum narrativem und weniger zum dramatischem Modus schon früh reflektiert. 3 In der Konfronta tion von Lyrik und Film hingegen treffen zwei mediale Systeme aufeinander, die zunächst von Differenzen gekennzeichnet sind. Gibt es aber auch verdeckte Affinitäten? Eine dieser Schnittstellen könnte darin liegen, dass Filme nicht ausschließlich Geschichten erzählen, sondern natürlich auch eine visuelle Dimension haben, die sogar oftmals signifikanter ist als die dialogisch dominierte Erzählung. Bildlichkeit und Visualität gehören zu den zentralen Eigenschaften der Lyrik wobei Bilder in der Lyrik natürlich nicht mittels eines technischen Mediums gezeigt, sondern mit der Hilfe von sprachlichen Zeichen simuliert werden. Bildliches Sprechen, das Spiel mit Ähnlichkeiten, Analogien und Differenzen zwischen sprachlich evozierten Bildern oder Bildkomplexen hat in der Lyrik einen besonderen Stellenwert. Mit Blick auf das Verhältnis von Lyrik und Film kann man festhalten, dass sich sowohl mediale Differenzen, die bis zur Medienkonkurrenz gehen, ausmachen lassen, wie auch Berührungspunkte, die in den mit je eigenen medialen Mitteln erzeugten Effekten bestehen. 4 Die folgenden Überlegungen sind im Feld der intermedialen Beziehungen angesiedelt. 5 Es geht also darum, Bezügen auf das Medium Film in der Lyrik nachzugehen, die mit den spezifischen Mitteln der Lyrik stattfinden. 3 Vgl. James Monaco: Film verstehen. Kunst, Technik, Sprache, Geschichte und Theorie des Films und der Neuen Medien. Dt. Fassung hg. v. Hans-Michael Bock. Überarb. u. erw. Neuausgabe. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2009, S. 48 56. Zur Privilegierung des narrativen Modus: Joachim Paech: Literatur und Film. 2. Aufl. Stuttgart u. Weimar: Metzler 1997, S. 122 150. 4 Vgl. dazu: Jan Röhnert: Springende Gedanken und flackernde Bilder. Lyrik im Zeit alter der Kinematographie. Blaise Cendrars, John Ashbery, Rolf Dieter Brinkmann. Göttingen: Wallstein, 2007, S. 13 29 und S. 40 49 sowie Sandra Poppe:»Lyrik und Film«. In: Dieter Lamping (Hg.): Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte. 2. Aufl. Stuttgart: Metzler, 2016, S. 236 242. 5 Ich orientiere mich an Irina Rajewskys Systematik; vgl. Irina O. Rajewsky: Intermedialität. Tübingen u. Basel: Francke, 2002, S. 16 19. Intermediale Bezüge sind demnach das»verfahren der Bedeutungskonstitution eines medialen Produkts durch Bezugnahme auf ein Produkt (= Einzelreferenz) oder das semiotische System (= Systemreferenz) eines konventionell als distinkt wahrgenommenen Mediums mit den dem kontaktnehmenden Medium eigenen Mitteln; nur letzteres ist materiell präsent.«(s. 19)

Filmische Reflexionen in der Lyrik des 20. Jahrhunderts Mein Vorschlag ist es, das Verhältnis von Lyrik und Film in der Lyrik des 20. Jahrhunderts in zumindest drei dominanten Konstellationen zu fassen, die ich versuchsweise mit folgenden Begriffen benenne: 17 Medienkonkurrenzen Konsolidierung medialer Differenzen Produktive Bezüge zwischen den Medien Auch wenn diese Konstellationen sich überschneiden und wahrscheinlich nicht historischen Phasen entsprechen, scheint es mir plausibel, dass sie in bestimmten historischen Kontexten, deren zeitliche Ränder unscharf sind, dominant auftreten. 6 Für die Zeit, in der die Hochphase der modernen Lyrik auf das neue Medium Film trifft also etwa von um 1900 bis nach 1930 gehe ich von einer dominanten Konstellation der Medienkonkurrenz aus, die in den lyrischen Texten entsprechend reflektiert wird. Dagegen sind nach der (avantgardistischen) Moderne eine Phase, die etwa Mitte der 1930er Jahren, in der deutschsprachigen Literatur in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzt Versuche prägend, Poetiken der Moderne variierend fortzuführen oder neu auszurichten. Bei deutschsprachigen Lyrikerinnen und Lyrikern scheint in dieser Zeit das Interesse am Film eher gering. Die Medien nähern sich im Bereich der Nachkriegsmoderne erst wieder sukzessive an dominant ist zunächst ein Nebeneinander und eine damit verbundene Konsolidierung der Differenzen; es gibt Bezüge, aber insgesamt ist man gerade in der deutschsprachigen Lyrik der Nachkriegsmoderne (bis etwa 1960) in besonderer Weise mit dem Problem der Sprache beschäftigt. 7 Die dritte Konstellation, die der produktiven Bezüge, ist nach meiner Einschätzung seit den 1960er Jahren (und vermutlich bis heute) dominant. Seitdem sind vielfältige produktive Wechselwirkungen zwischen Film und Lyrik zu beobachten die ich an einem prominenten italienischen Fall wenigstens skizzenhaft untersuchen möchte. Diese Konstellationen sind natürlich an Einzelfällen zu untersuchen und zu differenzieren, was in der Forschung auch schon in vielerlei Hinsicht ge 6 Meine Vorschläge für Periodisierungen orientieren sich locker an den im Handbuch Lyrik vorgeschlagenen und dort auch in all ihrer Relativität diskutierten Markierungen und Zäsuren. Vgl. Dieter Lamping (Hg.): Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte. 2. Aufl. Stuttgart: Metzler, 2016, S. 439 482, bes. S. 439 sowie S. 458 459. 7 Röhnert: Springende Gedanken, S. 137 140.

Fabian Lampart 18 schehen ist. Ausdrücklich zu nennen ist die grundlegende Studie von Jan Röhnert, 8 in deren Fahrwasser ich mich meist bewege. Konsens dürfte darüber bestehen, dass in allen drei benannten Konstellationen die Differenzen zwischen Film und Literatur auf verschiedene Weise diagnostiziert, affirmiert oder produktiv gemacht werden. 2 Vorüberlegungen Mit Blick auf intermediale Beziehungen im Bereich Lyrik und Film ist die Frage grundlegend, inwieweit Verfahrensweisen verschiedener Medien über offenkundige Analogiebeziehungen beschrieben und analytisch gefasst werden können. Röhnerts ausführlich begründeter Prämisse, dass»aufgrund der Unvereinbarkeit beider Medien [ ] immer nur von filmanalogen Verfahrensweisen und filmäquivalenten Effekten in Gedichten die Rede sein kann«, 9 schließe ich mich an. Eines der wichtigsten Konzepte, das in verschiedenen medialen Zusammenhängen gebräuchlich ist, ist die Montage. Gerade aufgrund ihrer medialen Unbestimmtheit bietet sie sich für die Erfassung von analogisierenden Verfahrensweisen an. In all ihren Verwendungen scheint der Montage das Kombinieren und Zusammenfügen von ursprünglich oft ohnehin medial differenten Elementen, Segmenten und Sequenzen gemeinsam zu sein. 10 In der Filmtheorie wurde die Montage früh zum wichtigsten Prinzip erhoben wobei bereits hier ganz unterschiedliche Verwendungsweisen erkennbar sind: Griffith Parallelmontage bezieht sich auf die Kombination verschiedener Handlungsstränge, wogegen Eisensteins oder Pudowkins Montagebegriff viel stärker auf die Fragmentierung einzelner Bilder abzielt, was dann eine unkonventionelle Neukombination erlaubt. 11 Das Verständnis von Montage 8 Ebd. 9 Ebd., S. 63. 10 Vgl. Georg Jäger:»Montage«. In: Harald Fricke u. a. (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. II. Berlin, New York, de Gruyter, 2000, S. 631 633; Eckart Voigts-Virchow:»Montage/Collage«. In: Ansgar Nünning (Hg.): Metzler Lexikon Literaturund Kulturtheorie. 4. Aufl. Stuttgart u. Weimar: Metzler, 2008, S. 514 515. 11 Paech: Literatur und Film, S. 45 63; Monaco: Film verstehen, S. 232 242. Für die Montagetheorie Eisensteins und Pudowkins beziehe ich mich auf Sergei M. Eisenstein:»Montage der Attraktionen«und Wsewolod I. Pudowkin:»Über die Montage«; beide Aufsätze

Filmische Reflexionen in der Lyrik des 20. Jahrhunderts als avantgardistisches Verfahren auch jenseits der Filmkunst hat wohl auch in diesen Überlegungen einen Ursprung. Der Montagebegriff berührt sich mit einem zweiten, für die Erfassung von Analogien zwischen Lyrik und Film wichtigen Konzept, dem des Bildes, das mit sprachlichen Mitteln erzeugt wird und in den Poetiken der modernen Lyrik immer wieder als überraschende Metapher konzeptualisiert wird. Am prominentesten geschieht das vielleicht bei Mandelstam, der in seinem Gespräch über Dante die Metapher als Teilaspekt der Komposition, die Leuchtkraft seiner Vergleiche als eine bildliche Vorwegnahme der Erkenntnisfähigkeit der modernen Naturwissenschaften versteht. 12 Röhnert weist darauf hin, dass die bei Mandelstam so deutlich benannte Bewegung von Dantes Metaphern ein weiterer Berührungspunkt zwischen Lyrik und Film sein könnte. 13 Montage und Bild sind Konzepte, mit denen vergleichbare Dimensionen und Schnittflächen zwischen den verschiedenen Medien zumindest eingegrenzt werden können. Die folgenden Skizzen orientieren sich zudem an Röhnerts Typologie intermedialer Bezüge zwischen Film und Lyrik. Röhnert unterscheidet zwischen»kinogedicht«,»filmischem Gedicht«und»Film-Gedicht«. Unter»Kinogedicht«versteht Röhnert»lyrische Texte [...], die sich thematisch explizit mit dem Kino und dessen Inhalten auseinandersetzen, ohne das Medium Film dabei formal und strukturell in ihren Diskurs einzubeziehen.«14 Es handelt sich um Texte, in denen Inhalte, Bilder oder Diskurse, die mit dem Kino oder einem bestimmten Film in Verbindung stehen, mit den Mitteln der Lyrik Sprache, Klang, Rhythmus thematisiert werden, ohne dass damit irgendeine formale Qualität kinematographischer Ästhetik in die Sprache des Gedichts übersetzt würde. Das»filmische Gedicht«hingegen leistet nach Röhnert genau diese Übertragung: es weise»in Struktur, Ausdrucksweise und poetischem Duktus deutliche Äquivalenzen zum Medium Film auf[...] auch wenn das Kino und dessen Inhalte dabei thematisch keine Rolle spielen und nicht eigens darauf Bezug 19 in: Franz-Josef Albersmeier (Hg.): Texte zur Theorie des Films. 4. Aufl. Stuttgart: Reclam, 2001, S. 58 69 (Eisenstein) und S. 74 96 (Pudowkin). 12 Osip Mandelstam:»Gespräch über Dante«. In: Ders.: Gespräch über Dante. Gesammelte Essays II. 1925 1935. 2. Aufl. Übers. aus dem Russischen und hg. von Ralph Dutli. Frankfurt a. M.: S. Fischer 2004, S. 113 175; hier bes. S. 120 und S. 135. 13 Röhnert: Springende Gedanken, S. 77. 14 Ebd., S. 61.

Fabian Lampart 20 genommen wird.«15 Im»Filmgedicht«schließlich»konvergiert die Struktur filmischer Gedichte mit den Inhalten der Kino-Gedichte. Das heißt, auf der thematischen Ebene verarbeiten Film-Gedichte Inhalte des Films, während sie gleichzeitig durch ihre Form und Schreibweise metaphorisch an Techniken und Verfahren des Mediums anzuknüpfen versuchen.«16 Auf dieser Grundlage möchte ich nun einen kleinen und sehr vorläufigen Rundgang durch die Beziehungsgeschichte von Lyrik und Film beginnen, der, wie gesagt, in erster Linie das Ziel verfolgt, die drei genannten Konstellationen Medienkonkurrenzen, Konsolidierung medialer Differenzen und produktive Bezüge zwischen den Medien zu illustrieren. 3 Medienkonkurrenzen Die Nähe zwischen der Disparatheit der Großstadterfahrung und filmischer Wahrnehmung wurde oft diskutiert. 17 Mit Blick auf die Thematisierung der Großstadt in der Literatur kann man festhalten, dass hier filmische Verfahrensweisen der Montage verschiedenster und widersprüchlicher Wahrnehmungen und Bilder anhand der Darstellung von Bewegung ansatzweise vorweggenommen wurden. Umgekehrt greift auch die Reflexion von filmischen Wahrnehmungen in der Lyrik, die in den ersten Jahrzehnten der Kinogeschichte entsteht, auf den Topos der Großstadt zurück, die nicht zuletzt durch die Verfügbarkeit moderner Medien charakterisiert ist. Ein Beispiel dafür ist Jakob van Hoddis Gedicht»Kinematograph«. Es ist (in beiden Fassungen) der vorletzte Text des kleinen Zyklus Varieté. 18 Die Kino-Erfahrung wird in eine Reihe gestellt mit Darbietungen menschlicher Darsteller wie der des Athleten, der Tänzerin oder des lebenden Bildes. Das letzte Gedicht des Zyklus,»Draußen«, greift die Erfahrung nach dem Verlassen des Varietés auf. 15 Ebd., S. 62. 16 Ebd., S. 68. 17 Paech: Literatur und Film, S. 124 126. 18 Jakob van Hoddis: Dichtungen und Briefe. Hg. von Regina Nörtemann. Göttingen: Wallstein, 2007, S. 10 15 und S. 16 20 (Sturm-Fassung).

Filmische Reflexionen in der Lyrik des 20. Jahrhunderts Schluß: Kinematograph Der Saal wird dunkel. Und wir sehn die Schnellen Der Ganga, Palmen, Tempel auch des Brahma, Ein lautlos tobendes Familiendrama Mit Lebemännern dann und Maskenbällen. 21 Man zückt Revolver, Eifersucht wird rege, Herr Piefke duelliert sich ohne Kopf. Dann zeigt man uns mit Kiepe und mit Kropf Die Älplerin auf mächtig steilem Wege. Es zieht ihr Pfad sich bald durch Lärchenwälder, Bald krümmt er sich und dräuend steigt die schiefe Felswand empor. Die Aussicht in der Tiefe Beleben Kühe und Kartoffelfelder. Und in den dunklen Raum mir ins Gesicht Flirrt das hinein, entsetzlich! nach der Reihe! Die Bogenlampe zischt zum Schluß nach Licht Wir schieben geil und gähnend uns ins Freie. 19 Das Gedicht ist gut geeignet, die mediale Konkurrenz von Film und Lyrik zu illustrieren, weil hier nicht nur die»moderne, disparate Lebenswirklichkeit«eingefangen ist, sondern auch das»kino-erlebnis«mit einer»expressionistisch-modernen Ästhetik«enggeführt wird. 20 In den ersten drei Strophen wird eine logisch unzusammenhängende Stummfilmvorführung thematisiert im Schnelldurchlauf wird Indien neben den Alpen, ein Revolverfilm neben den Landschaftsszenerien aus einem Bergfilm vorgeführt. Der Text bedient sich bekannter expressionistischer Verfahrensweisen. Der Reihungsstil wird eingesetzt, um einzelne Bilder und Bildsequenzen zu verfremden. Dies geschieht hier freilich, indem die ästhetische Verfahrensweise der Reihung des nicht kausal Zusammengehörigen gleichzeitig als ein mimetisch-realistisches Abbild des Kinoerlebnisses präsentiert wird. Was in der frühen expressionistischen Lyrik, etwa in van Hoddis»Weltende«, ein sarkastisch-witziger Effekt ist, das wird in der Schlussstrophe von»kinematograph«als Resultat oberflächlicher Vergnügungen beklagt. Erfahrungen der Entfremdung vom Menschlichen, die etwa in Gottfried Benns Morgue-Gedichten reflektiert werden, werden in 19 Van Hoddis: Dichtungen und Briefe, S. 14 (Sturm-Fassung: S. 19 20). 20 Alle Zitate: Röhnert: Springende Gedanken, S. 126.

Fabian Lampart 22»Kinematograph«als eine durch die Vorführungsweise des neuen Mediums Kino generierte Entfremdung vorgeführt, als Folge eines kritisch betrachteten Vergnügungsbetriebs. Genau hier liegt das Element der medialen Konkurrenz: Die Verfahren des Mediums Kino werden nicht nur thematisiert und beschrieben, vielmehr dient ihre Imitation im Medium des Gedichts der kritischen Reflexion ebendieser Verfahren. Das wird auch durch Integration der Zuschauerstimmen unterstrichen, die sich nach der Vorführung»geil und gähnend«, also stimuliert und zugleich ermüdet von der kinematographischen Reizüberflutung, ins Freie schieben. Die Präsentation dieser Reflexion des Filmischen in traditionell jambischen Strophen mit vier Versen verstärkt diesen Eindruck der konkurrierenden Engführung der beiden Medien: Verfahrensweisen des Kinos werden sprachlich imitiert, dadurch aber auch in ihrer Problematik reflektiert. Film und Lyrik sind aufeinander bezogen, aber in der Lyrik wird noch ganz explizit vorgeführt, dass sie die Darbietungsweisen des Kinos nicht nur nachahmt, sondern sie in der Imitation kritisch durchleuchten und damit sogar überbieten kann. Fortführen lassen sich diese Beobachtungen an Claire Golls Sammlung Lyrische Films, 21 die in Sabine Haupts Beitrag 22 ausführlich besprochen wird. Auch bei Claire Goll wird der Kontext des Varietés und des Kurzfilms aufgegriffen. In Golls Texten, z. B. in»pathé-woche«, wird aber nicht nur explizit auf die Vorführsituation Bezug genommen, indem die Inhalte der Filme (die den ganzen Globus umspannen)»in eine[r] Art Parallemontage«23 mit der Zuschauersituation synchronisiert werden. Es brennt, es brennt in Chikago, Riesenbrand in New-York: Aus dem 29. Stockwerk des Liberty Tower Springen die Tippmamsells. (Das Publikum hält begeistert den Atem an.) Honolulu: Grüne violette Aeroplane, Luftspiele Ueber der Weltausstellung. Ein tätowierter Neger tanzt Shimmy 21 Claire Goll: Lyrische Films. Basel u. Leipzig: Rhein-Verlag, 1922. 22 Vgl.: Sabine Haupt:»Vom Kinogedicht zur Filmlyrik. Claire Goll & Co zwischen Kintopp schelte und Illuminations «, im vorliegenden Band. 23 Röhnert: Springende Gedanken, S. 130.

Filmische Reflexionen in der Lyrik des 20. Jahrhunderts Von einem Propeller zum andern. (Neben mir träumt eine, Filmstar zu werden. Hinter mir küssen sich zwei, Sehnsucht arbeitet mit 3000 Volt.) Weiter, weiter! Berlin Potsdamerplatz. Potsdamerplatz... (Rendez-vous mit dem ersten Geliebten: Immer noch riech ich sein Bouquet, Höre seine Stimme durchs Telefon. Und dann am Anhalter Bahnhof Nach seiner Abfahrt Man weint im Waschraum Erster Strauß und erster Geliebter welken nie.) [ ] Ohio: Ein Neger wird gelyncht! 23 Berlin: Ein Dichter wird gelyncht! Abenteurerfilm In 10 Episoden: 1. Die verpfändete Leiche. Fünf Minuten Pause mit Selters und Zuckerstangen. [ ] Im Kino In fünf Kontinenten zugleich Ist meine Heimat. 24 Goll arbeitet neben der mimetischen Abbildung auch an einer formalen Reflexion der Kino-Erfahrung. Kino-Wahrnehmungen werden, wie Sandra Richter feststellt, in einer frühen Version der écriture automatique»simultan und ungefiltert«aufgeschrieben. 25 Erreicht wird damit nicht nur eine Reflexion filmischer Inhalte, sondern auch die Transposition filmischer Darstellungsmittel in das Medium der Lyrik. Goll setzt dem Film ein Konzept entgegen, das die ästhetischen Qualitäten des frühen Stummfilms die schnelle Kombination und Abfolge von Bildern adaptiert und durch eine besondere Variante filmischen Schreibens in der Lyrik zu überbieten sucht. Sandra Rich 24 Goll: Lyrische Films, S. 10 13. 25 Sandra Richter:»Lyrik im Ausgang der Stummfilmzeit. Claire Golls Lyrische Films.«In: Wolf Gerhard Schmidt u. Thorsten Valk (Hg.): Literatur intermedial. Paradigmenbildung zwischen 1918 und 1968. Berlin u. New York: de Gruyter, 2009, S. 67 86, hier S. 77.

Fabian Lampart 24 ter spricht in diesem Zusammenhang von»monomedialer Intermedialität«, 26 also einer speziellen Variante intermedialer Bezüge. 27 Der lyrische Text adaptiert Verfahrensweisen des Films, um diesen zu reflektieren und seinem eigenen Repertoire zu assimilieren. Solche Medienkonkurrenzen scheinen mir für die erste Phase der Auseinandersetzung des Kinos mit der Lyrik charakteristisch. Verfolgt man die Theoriegeschichte des Films, dann sind auch die Diskussionen in den ersten Jahrzehnten also seit 1895 von Vergleichen mit anderen Medien und Künsten geprägt meist mit der Literatur, aber auch mit dem bereits existierenden Bildmedium der Fotografie. 28 Die Intentionen solcher Vergleiche sind verschieden gelagert: Zum einen kann es darum gehen, den Film ästhetisch aufoder abzuwerten, zum anderen um eine Erweiterung der ästhetischen Spielräume des Films oder der anderen besprochenen Medien. Sehr deutlich ist dies bei Hugo Münsterberg, einem der frühen Theoretiker des Films. Er vergleicht den Film sowohl mit dem Theater als auch mit der Literatur. Dabei argumentiert er im Sinne der Medienkonkurrenz, um die Eigenschaften des Stummfilms zu konkretisieren. Münsterberg, der in Amerika lehrte, lieferte in seiner 1916 erschienenen Studie A Photoplay, die erst seit den 1960er Jahren wieder eingehend rezipiert wurde und heute unter dem deutschen Titel Das Lichtspiel vorliegt, 29 eine der ersten geschlossenen Filmtheorien. Sein zentrales Argument ist anti-mimetisch:»das Lichtspiel erzählt uns die Geschichte vom Menschen, indem es die Formen der Außenwelt, nämlich Raum, Zeit und Kausalität überwindet und das Geschehen den Formen der Innenwelt, nämlich Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Phantasie und Emotion anpasst.«30 Ein literarisches Vorbild für solche Abweichungen zwischen Außenwelt und Innenwelt findet er interessanterweise in der Lyrik. Sie liefert nach 26 Richter:»Lyrik im Ausgang der Stummfilmzeit«, S. 84. 27 Rajewsky: Intermedialität, S. 19. 28 Vgl. Franz-Josef Albersmeier:»Einleitung«. In: Ders. (Hg.): Texte zur Theorie des Films, S. 3 29, bes. 8 9 und Helmut H. Diederichs:»Zur Entwicklung der formästhetischen Theorie des Films.«In: Ders.: (Hg.): Geschichte der Filmtheorie. Kunsttheoretische Texte von Méliès bis Arnheim. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004, S. 9 27, hier S. 15. 29 Hugo Münsterberg: Das Lichtspiel. Eine psychologische Studie (1916) und andere Schriften zum Kino: Hg. u. übers. v. Jörg Schweinitz. Wien: Synema 1996; hier zitiert nach Hugo Münsterberg:»Die Mittel des Lichtspiels (1916)«. In: Diederichs: Geschichte der Filmtheorie, S. 301 311. 30 Münsterberg:»Mittel des Lichtspiels«, S. 302.