Berufsbilder für die Medizin. Wird die individualisierte Medizin das Berufsbild des Arztes verändern oder gar ein neues erforderlich machen?



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Transkript:

Berufsbilder für die Medizin. Wird die individualisierte Medizin das Berufsbild des Arztes verändern oder gar ein neues erforderlich machen? Michael-Jürgen Polonius Medizin nach Maß mehr als ein frommer Wunsch? Und wenn er denn in Erfüllung gehen sollte, welchen Einfluss wird er auf das Berufsbild des Arztes haben? Benötigen wir unter Umständen ein völlig neues Bild des Arztberufes? Verstehen der Bürger und der Patient das Gleiche unter dem Begriff der individualisierten Medizin wie die Mediziner, Biologen, Naturwissenschaftler und Politiker? Hier beginnt bereits die Herausforderung: Gibt es eine einheitliche, nicht nur für den Biologen und Mediziner verständliche Definition? Hierzu ein Zitat aus dem Zukunftsreport Arbeitsbericht 126 des Büros für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag, kurz TAB, mit dem Titel: Individualisierte Medizin und Gesundheitswesen : 86 Da es bisher keine anerkannte übliche Definition der Individualisierten Medizin gibt, wird hierunter in diesem Report eine mögliche künftige Gesundheitsversorgung verstanden, die aus dem synergistischen Zusammenwirken der drei Treiber Medizinischer und gesellschaftlicher Bedarf, Wissenschaftlich-technische Entwicklungen in den Lebenswissenschaften und Patientenorientierung entstehen könnte. Dabei besteht der medizinische und gesellschaftliche Bedarf darin, der wachsenden Herausforderung der bislang nur unzurei-

Berufsbilder für die Medizin chend behandelbaren komplexen und oft chronischen Krankheiten, wie z. B. Herz-, Kreislauf-, Stoffwechsel-, Krebs- und neurologische Erkrankungen, zu begegnen. Entstehung und Verlauf dieser Krankheiten werden durch ein komplexes, wenig verstandenes Zusammenspiel von vielen, noch nicht vollständig bekannten Faktoren (z. B. Umwelteinflüsse, Lebensführung, genetische Disposition, sozioökonomischer Status) bestimmt. ( ) Letztlich sollen zugleich die Lebensqualität erhöht, Qualitäts- und Kostenziele in der Gesundheitsversorgung erreicht und die Sozialsysteme entlastet werden. Spätestens hier beginnt das Wunschdenken! (Anm. M.-J. P.) ( ) Im Kontext der individualisierten Medizin wird insbesondere an die Genom- und Postgenomforschung, die molekulare medizinische Forschung und die zellbiologische Forschung die Erwartung gerichtet, eine Wissensund Technologiebasis bereitzustellen, von der aus verbesserte Diagnose-, Therapie- und Präventionsmöglichkeiten entwickelt werden können. ( ) Die bislang im Vergleich zu anderen Akteuren im Gesundheitssystem schwache Stellung der Patientinnen und Patienten soll gestärkt werden, damit sie größeren Einfluss auf Entscheidungen und Handlungen gewinnen, die ihre Gesundheit betreffen. Dies zielt auf eine Stärkung der Patientenautonomie und Konsumentensouveränität ab. Auf gesellschaftlicher Ebene korrespondiert dies einerseits mit einem steigenden Gesundheitsbewusstsein für Bürgerinnen und Bürger und der zunehmenden Bereitschaft, Selbstverantwortung für die eigene Gesundheit zu übernehmen, andererseits aber auch mit den zunehmenden gesellschaftlichen Erwartungen an Einzelne, diese Eigenverantwortung durch entsprechendes Gesundheitsverhalten und finanzielle Beiträge auszuüben. ( ) Insgesamt lassen sich innerhalb der individualisierten Medizin fünf verschiedene Individualisierungskon- 87

Michael-Jürgen Polonius zepte identifizieren (,Typologie der individualisierten Medizin ) 1. biomarkerbasierte Stratifizierung (Gruppenbildung); 2. genombasierte Informationen über gesundheitsbezogene Merkmale; 3. Ermittlung individueller Erkrankungsrisiken; 4. differenzielle Interventionsangebote; 5. therapeutische Unikate (,Rapid Prototyping, Tissue- Engineering). 1 Soweit aus der Einleitung des Berichtes. Für einen Chirurgen ist dies eine Herausforderung, besonders wenn durch eine Reihe von Protagonisten (Katus, Kollek, Plünderer u. a.) gleichzeitig klargestellt wird: Individualisiert ist nicht ganzheitlich. Habe ich diese Einleitung richtig verstanden, wenn ich mit den schlichten Worten eines Chirurgen sage: Wir haben die Biologie des Menschen noch immer nicht detailliert genug verstanden, um in Diagnostik, Therapie und Prävention für den einzelnen Menschen in der Wiederherstellung und/oder Aufrechterhaltung seiner Gesundheit stets erfolgreich zu sein. Stimmt man dem zu, so folgt daraus, dass wir Intelligenz, Arbeitsbereitschaft und Finanzen benötigen, um durch Forschung diesen Mangel schrittweise abzubauen. Aber brauchen wir deshalb gleich den neuen und noch dazu irreführenden Begriff individualisierte Medizin oder gar personalisierte Medizin? Jeder Normalbürger versteht darunter, dass man sich um ihn als Individuum persönlich, individuell kümmert. Aber dies genau wird von der Mehrzahl der Protagonisten und ich übersetze hier Protagonist als Vorkämpfer und nicht wie im altgriechischen Theater als ersten Schauspieler ausgeschlossen. Was ist tatsächlich das Neue, das gravierenden Einfluss auf das Berufsbild des Arztes haben könnte? Und was wird 88

Berufsbilder für die Medizin nicht längst wenn auch mit bescheidenerem, nämlich wissenschaftlich-technologischem Anspruch heute bereits geleistet? Gehen wir die eben erwähnte Typologie der individuellen Medizin durch und fangen mit dem therapeutischen Unikat an. Rapid Prototyping in der produktionstechnischen Herstellung, die z. B. die Fertigung und individuelle Anpassung von Prothesen und Implantaten ermöglicht, ist wirklich nichts Neues. Mindestens seit Götz von Berlichingen kennen wir Prothesen, deren Anfertigung auf dem Weg der technischen Entwicklung immer mehr verfeinert wurden. Ich erinnere mich sehr wohl, dass zu meiner Studienzeit in der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf der Wohlhabendste der Orthopädische Schuster, so nannten sie sich damals mit Stolz, war. Biomarkerbasierte Stratifizierung (Gruppenbildung): Diese zeigt, dass zur Zeit, meiner Kenntnis nach, neun Biomarker zur Verfügung stehen, um eine differenzierte individualisierte medizinische Behandlung bei Tumoren durchzuführen, und zwar drei für das Mamma Carcinom, zwei für das Colon Carcinom, zwei für das nicht kleinzellige Lungencarcinom, einer für das Glioblastom, einer für das Melanom. Eine bescheidene Ausbeute, verglichen mit den großen Versprechungen der Molekularbiologie in den vergangenen Jahren. Aber auch wenn es mehr um die differenzierte Auswahl bereits bestehender Verfahren geht, so ist auch dies nichts Neues. Zum Beispiel wurde ein erworbenes Aortenvitium noch 1960 ausschließlich mit dem Ersatz durch eine Kunststoffprothese behandelt. Heute ergeben sich acht bis zehn verschiedene Möglichkeiten, die den Er- 89

Michael-Jürgen Polonius fordernissen des betroffenen Patienten individuell gerechter werden: 1. mechanische Klappenprothese, 2. biologische Klappenprothese, 3. biologische Tissue Engineering, 4. Homograft, 5. Rekonstruction von einzelnen Leaflets bis kompletter Klappenring, 6. Ross-Procedure, 7. interventioneller Klappenersatz ohne Einsatz der Herz-Lungenmaschinenersatz. Pharmakogenetik: Bis heute war der Einsatz des für den einzelnen Patienten bestverträglichen Präparates unter den zur Verfügung stehenden der Empirie des Arztes überlassen. Dies wird zukünftig wissenschaftlich fundierter geschehen können. Tissue Engineering ist bereits seit Jahren in der klinischen Anwendung, auch wenn die breiten, routinemäßigen Anwendungsmöglichkeiten noch vor uns liegen. Bleibt die prädiktive Gendiagnostik, die individuell bedingte Krankheitsdispositionen bereits vor dem Auftreten körperlicher Symptome diagnostiziert und somit neue Präventions- und Interventionsmöglichkeiten eröffnet. Diese sogenannten Risikoprofile sind für sich gesund fühlende und zum Zeitpunkt der Erstellung des Profils in der Regel auch gesund seiende Bürger und Bürgerinnen ein entscheidender Schritt vorwärts, bedeuten sie doch eine völlig neue Form der Prävention. Obwohl hier noch alles in die Zukunft projiziert ist, kann man sich doch fragen, inwieweit damit zu rechnen ist, dass sich das Berufsbild der Ärzte durch die zu erwartenden Fortschritte ändern wird. Denn ungeachtet der Tatsache, 90

Berufsbilder für die Medizin dass es bereits europäische wissenschaftliche Gesellschaften gibt, die sich der individuellen Medizin als Aufgabe angenommen haben, und dass auch schon eine Patienten- (besser wäre der Ausdruck Bürger- ) Organisation besteht, birgt die terminologische Unsicherheit doch ein großes Potenzial für Missverständnisse. Ich bin überzeugt, dass der Begriff individualisierte Medizin irreführend ist und von der Mehrzahl der Bürger und Bürgerinnen missverstanden wird. Das Idealbild des Arztberufes gründet sich auf dem Inhalt des Hippokratischen Eides. Es zeichnet sich durch grundsätzliche Individualisierung aus. Der Arzt behandelt den erkrankten Patienten und nicht Krankheiten! Er bringt dem Patienten grundsätzlich Vertrauen entgegen. Wenn ich an den Beschwerden, den Schmerzen eines Patienten zweifle, werde ich die Behandlung fehlleiten. Hier spielt die falsche Anwendung der evidenzbasierten Medizin, auf der die Leitlinien fußen, eine große Rolle. Evidenzbasierte Medizin ist durch die individuelle Empirie des Arztes, das Können und die Urteilskraft, die er durch seine Erfahrung und klinische Praxis gewonnen hat, zu ergänzen. Die eigentliche Frage lautet daher: Ist diese oder jene Leitlinie bei diesem oder jenen individuellen Patienten anwendbar? Sie darf also nicht darauf hinauslaufen zu sagen: Dieser Patient hat die Krankheit x und wird folglich nach der Leitlinie x behandelt. Die prädiktive Genetik hat jedoch einen gesellschaftlichen Aspekt und stellt in der Tat eine neue Herausforderung für die Mehrzahl der verschiedenen Arztgruppen dar. So bezeichnet Frau Kollek vom Forschungsschwerpunkt Biotechnik, Gesellschaft und Umwelt der Universität Hamburg das Wissen um individualisierte Risikofaktoren als die zentrale Prämisse der individualisierten Medizin. Mit der Individualisierung der Medizin und der genetischen Diagnostik verändere sich zum einen die Vorstellung, dass es so etwas wie Gesundheit als Normalität gäbe. Zum anderen beför- 91

Michael-Jürgen Polonius dere die individualisierte Medizin den ohnehin zu beobachtenden Wechsel von einer passiven zu einer aktiven Vorstellung der Gesundheit. Hieraus etabliere sich im Rahmen der Individualisierung der Medizin so etwas wie eine Individualisierung der Verantwortung für die Gesundheit. Daher zeichne sich auch eine Veränderung des Arzt-Patienten-Verhältnisses ab, nämlich weg von einer empirischen Heilkunst und hin zu einer rationalen molekularen Wissenschaft, was zu einer grundlegenden Redefinition und Neugestaltung ärztlicher Kompetenz führe. Eines ist unstrittig. Die Betreuung dieser gesunden Kranken, wenn ich das einmal so bezeichnen darf, kostet viel Zeit. Zeit, die heute gerade im Arzt-Patienten-Verhältnis zur Mangelware geworden ist, wo es scheint, dass die ökonomische Logik und nicht das erworbene Wissen und Können des Arztes zum Maß aller Dinge geworden ist. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 31. August 2010 schrieb Michael Imhoff: Nicht nur der technische Fortschritt, sondern auch das ökonomische Diktat fordert seine Opfer ein. Nur langsam scheinen wir zu erkennen, dass Krankheiten und deren Heilung unter den Bedingungen einer modernen und hoch komplexen Medizin eben nicht vollständig in ökonomische Algorithmen umzusetzen sind. Krankheiten, Leiden und Sterben entziehen sich letztendlich dem ökonomischen Kalkül, gründen in einem ganz andersartigen Bereich, nämlich im Menschen selbst und in den Bruchlinien seiner Existenz. Patienten sind keine Kunden und Medizin ist kein Gewerbe. Und dann wollen und sollen wir uns auch noch zeitaufwendig um gesunde Kranke kümmern. Wie aber soll dies langfristig und bis zur Entstehung einer gesunden Gesellschaft in mehreren Generationen finanzierbar sein? Wird die Mehrheit der Bevölkerung so viel Mut, Intelligenz und Selbstverantwortung aufbringen, um sich dieser 92

Berufsbilder für die Medizin wirklich neuen Richtung der Medizin, dem eigenen Risikoprofil mit all seinen riskanten Folgen zu stellen? Meine Antwort auf die eingangs gestellte Frage lautet daher: Der Begriff individualisierte oder personalisierte Medizin ist für die gesunden Bürger und Bürgerinnen besonders aber für die Kranken, die Patienten irreführend, weil sie darunter eine humanisierte, ganzheitliche Medizin verstehen. Genau dies ist aber von den Protagonisten dieser individualisierten Medizin in Politik und Wissenschaft damit nicht gemeint. Das Berufsbild des Arztes wird heute vielmehr durch die ökonomischen Zwänge beeinflusst, sodass der Arzt in Gefahr steht, die wichtigste Basis seines Berufes zu verlieren, die Empathie. Die individualisierte Medizin ist nichts anderes als die mit einem missverständlichen Begriff bezeichnete Notwendigkeit, sich stets um neue Erkenntnisse über die Ursachen der Krankheiten und deren Behandlungen zu bemühen. Und diese neuen Erkenntnisse und der aus ihnen resultierende Fortschritt in der Medizin sind es auch und nicht neue Begriffe, die den Wandel in der Ausübung des Arztberufes bestimmen. Anmerkung 1 Hüsing, B. / Hartig, J. / Bührlen, B. / Reiß, T. / Gaisser, S.: Individualisierte Medizin und Gesundheitssystem. Zukunftsreport. TAB- Arbeitsbericht Nr. 126. Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag. Berlin 2008. 93