mystudy: Zur Konzeption einer internetbasierten Kommunikationsplattform zur Unterstützung der Präsenzlehre



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Transkript:

mystudy: Zur Konzeption einer internetbasierten Kommunikationsplattform zur Unterstützung der Präsenzlehre Magisterarbeit im Fachbereich Angewandte Kulturwissenschaften Studiengebiete Sprache und Kommunikation, Kulturinformatik Vorgelegt von Timo Leder Matrikelnummer: 999315 am 31.05.2003 Erstprüfer: Walter Uka Zweitprüfer: Dr. Rolf Großmann

Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis 1. Einführung 3 2. mystudy im Spannungsfeld zwischen e-learning und Präsenzlehre 7 2.1 Form und Grenze 7 2.2 Grenzen und Anschlussfähigkeit 14 2.3 Konstruktivismus und Form 18 2.4 Konstruktivistische Lerntheorie 21 2.5 e-learning im Lichte konstruktivistischer Lerntheorien 23 2.6 Ergänzung von Präsenzlehre durch vernetzte Technologien 28 3. Form und Technik 31 3.1 Techniktheoretische Interpretation des Formkalküls 31 3.2 Aspekte von Open Source-Technologien 38 3.3 Open Source aus unterscheidungstheoretischer Sicht 44 4. Form und Interfacedesign 47 4.1 Das Interface zwischen Artefakt und Anwender 48 4.2 Visualität und Information 51 4.3 Design als Verwendung von Zeichen 55 5. Zur Umsetzung von mystudy 62 5.1 Verortung von mystudy im universitären Kontext 62 5.2 Der Stundenplan als Interface 63 5.3 Darstellung von mystudy 65 5.4 Visuelle Gestaltung 75 5.5 Verwendete Technologien 78 5.6 Struktur der Datenbanken 86 6. Schlussbemerkungen 89 7. Quellenverzeichnis 92 7.1 Literatur 92 7.2 Internetquellen 96 1

Abbildungsverzeichnis Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Alte Hexe und junges Mädchen 11 Abbildung 2: Abbildung 3: Ontologisches Designdiagramm (eigene Darstellung; nach Bonsiepe 1996, 20) 48 Das Interface in der Beziehung zwischen Anwender und Artefakt (eigene Darstellung) 50 Abbildung 4: Dimensionen der Semiose nach Morris (vgl. Nadin 1988, 271) 56 Abbildung 5: Zeichenklassifikation nach Peirce (vgl. Nadin 1988, 271) 58 Abbildung 6: Darstellung eines Hyperlinks mit Mauszeiger (Screenshot) 59 Abbildung 7: Ansicht des mystudy-stundenplanes (Screenshot) 66 Abbildung 8: Aufbau der Suchmaske in der Veranstaltungssuche und Anzeige der Suchergebnisse (Screenshot) 68 Abbildung 9: Druckansicht des mystudy-stundenplanes (Screenshot) 69 Abbildung 10: Stundenplanansicht mit Ausschnittvergrößerung einer eingetragenen Lehrveranstaltung (Screenshot, eigene Darstellung) 70 Abbildung 11: Interface des Informations- und Kommunikationspanels in der Ansicht für Studierende (Screenshot, Ausschnitt) 71 Abbildung 12: Differenzierung der Rechteverwaltung in der Anmeldung zur Nutzung von mystudy (Screenshot) 74 Abbildung 13: Verwaltungswerkzeug zur Administration der mystudy-datenbestände (Screenshot) 75 Abbildung 14: Schematische Darstellung des Seitenlayouts (eigene Darstellung) 77 Abbildung 15: Client-Server-Architektur und Darstellung einer HTTP-Anfage mit PHP-Interpretation (eigene Darstellung) 82 Abbildung 16: Datenbankstruktur von mystudy (eigene Darstellung) 87 Abbildung 17: Reduzierte Darstellung der Datenbankstruktur (eigene Darstellung) 88 2

1. Einführung I believe that the motion picture is destined to revolutionize our educational system and that in a few years it will supplant largely, if not entirely, the use of textbook. (Thomas Edison 1922) 1 Die technischen Entwicklungen der letzten Jahre haben gezeigt, dass multiund hypermediale Technologien ein großes Potential für die Anwendung im Rahmen der universitären Lehre haben. Zugleich hat die intensive technologische Durchdringung des Alltags dazu geführt, dass die Kompetenzen in der Nutzung dieser Medien einen besonders hohen Stellenwert im Ausbildungsprofil heutiger Hochschulabsolventen einnimmt. Heute ist diese Entwicklung an einem Punkt angekommen, an dem vielerorts darüber nachgedacht wird, das Modell der Präsenzlehre, wie es an den deutschen Universitäten praktiziert wird, neu zu überdenken und ganz oder teilweise durch die Verwendung von Internet- und Multimediatechnologien zu substituieren. Unter dem Schlagwort e-learning wurden daher in den letzten Jahren umfangreiche Anstrengungen zur Entwicklung virtueller, zumeist hypermedialer Lernangebote unternommen. In der Bildungspolitik ist die Entwicklung von e-learning-plattformen vor allem deshalb von großer Bedeutung, weil in der Bereitstellung von effizienten Angeboten für die Aus- und Weiterbildung ein erhebliches Marktpotential auf einem freien Bildungsmarkt erkannt wird. Auch im Rahmen betrieblicher Weiterbildung finden e-learning-konzepte immer größere Beachtung. Für das Jahr 2004 werden europaweit betriebliche Investitionen in e-learning-systeme in Höhe von etwa 4 Milliarden Euro erwartet. 2 e-learning Mit Hilfe von e-learning-plattformen soll Lernenden die Möglichkeit gegeben werden, sich Wissen in einer selbstbestimmten sowie raumzeitlich unabhängigen Art und Weise anzueignen. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit soll jedoch gezeigt werden, dass diesen Strategien ein Verständnis von Wissen und Lernen zugrundeliegt, welches unter Berücksichtigung von unterscheidungstheoretischen Ansätzen in Frage gestellt werden muss. Die Effektivität von e-learning-systemen muss infolgedessen problematisiert werden. Doch sollen die Folgerungen, die hieraus gezogen werden, keinesfalls in reaktionärer Manier den Einsatz von vernetzten Technologien im Rahmen der universitären Lehre verneinen. Vielmehr soll die organisatorische Unterstützung der universitären Präsenzlehre durch Internet- und Multimedia-Techno- Ergänzung der Präsenzlehre 1 Zitiert nach Oppenheimer 1997, 45. 2 Diese Zahl geht aus einer Untersuchung der Unternehmensberatung Mummert und Partner hervor (vgl. Mummert u. a. 2002 [online]). 3

Einführung logien vorgeschlagen werden, um auf diesem Wege einerseits die Medienkompetenz von Lernenden und Lehrenden zu fördern und darüberhinaus die Präsenzlehre von organisatorischen Aspekten zu entlasten und in dieser Hinsicht zu unterstützen. mystudy Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wird die internetbasierte Kommunikationsplattform mystudy vorgestellt, die bewusst auf die Unterstützung der Präsenzlehre ausgerichtet ist, statt eine Virtualisierung der Lehre zu verfolgen. mystudy ist ein Projekt der Abteilung Digitale Kommunikations- und Publikationstechniken (.dok) des Rechen- und Medienzentrums der Universität Lüneburg. Den Studierenden und Lehrenden der Universität wird durch dieses Projekt eine Kommunikationsplattform zur Verfügung gestellt, die es erlaubt, anhand des Vorlesungsverzeichnisses einen persönlichen Stundenplan zu erstellen und passwortgeschützt abzuspeichern. Gleichzeitig dient my- Study als Schnittstelle zwischen Lehrenden und Studierenden zur organisatorischen Unterstützung der Lehre. Um das zentrale Element des Stundenplanes als Orientierungs- und Motivationspunkt gliedern sich verschiedene Informations-, Kommunikations- und Distributionsfunktionen, welche zur Unterstützung und Organisation der Präsenzlehre eingesetzt werden können. Lehrende haben durch einen privilegierten Zugang zu dem System die Möglichkeit, Informationen zu ihren Lehrveranstaltungen bereitzustellen und zu aktualisieren sowie Lehrmaterialien zum Download anzubieten. Einen Überblick über die verschiedenen Funktionsbereiche gibt die folgende Darstellung: Information - personalisierte Stundenpläne - detaillierte Informationen zu jeder einzelnen Veranstaltung - Bereitstellung von Seminarplänen - Verweise auf Webseiten von Veranstaltungen - Suche im Vorlesungsverzeichnis Kommunikation - veranstaltungsspezifische Blackboards - aktuelle Hinweise von Lehrenden an Studierende - seminarspezifische E-Mail-Listen - Anmeldung zu Seminaren Distribution - Up- und Download von Lehrmaterialien Tabelle 1: Funktionen der mystudy-plattform 4

Während das ursprüngliche Ziel bei der Entwicklung von mystudy darin bestand, auf den Webseiten der Universität die Möglichkeit zu schaffen, einen persönlichen Stundenplan zu erstellen und auszudrucken, wurde relativ schnell deutlich, dass diese internetbasierten Stundenpläne eine Struktur bilden, die weitergehend für die Unterstützung der Präsenzlehre genutzt werden kann. Zielsetzung von mystudy Die Verwendung von mystudy bietet seinen Nutzern den Vorteil, eine Vielzahl von studienrelevanten Informationen zentral abrufen zu können. Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten, welche zuvor dezentral an verschiedenen Instituten und Lehrstühlen angeboten wurden (z.b. durch Aushänge an schwarzen Brettern), werden auf diese Weise gebündelt und sind auch von auswärtigen Studierenden einfach über das Internet wahrzunehmen. Andersherum können Lehrende mit Hilfe von mystudy die Aktualisierung sämtlicher Informationen zu allen von ihnen angebotenen Lehrveranstaltungen zentral vornehmen. An der Schnittstelle zwischen Lehrenden und Studierenden entstehen so neue Kommunikationsräume, in denen ein studienbezogener Austausch stattfinden kann. mystudy ist im Internet unter der URL http://mystudy.uni-lueneburg.de zu finden. Der detaillierten Betrachtung von mystudy und seinem Potential zur Unterstützung der universitären Lehre sollen zunächst einige theoretische Ausführungen vorangestellt werden, welche die Begriffe Form und Grenze als zentrale Kriterien für die weiteren Betrachtungen vorschlagen. Unter Bezugnahme auf die Unterscheidungstheorie des Mathematikers George Spencer- Brown werden diese und angrenzende Begriffe hergeleitet und für die Fundierung von konstruktivistischen Ansätzen in der Lerntheorie herangezogen. Aus dieser Perspektive soll die Problematik von e-learning und Präsenzlehre beleuchtet werden, um das Votum für eine Internetplattform zur Unterstützung der Präsenzlehre zu rechtfertigen und die Stellung von mystudy in diesem Spannungsfeld zu verorten. Gang der Untersuchung Diese Beobachtungen, die sich also mit der Zielsetzung von mystudy und ihren theoretischen Bezügen beschäftigen, liefern die Grundlage, auf der weitere konzeptionelle Entscheidungen reflektiert und getroffen werden müssen. Für die vorliegende Arbeit sind hierbei vor allem zwei Aspekte signifikant: zum einen die Auswahl der verwendeten Technologien und zum anderen die Gestaltung der Benutzerschnittstellen. Für die Entwicklung und den Betrieb von mystudy wurden fast ausnahmslos Open Source-Technologien und offene Standards verwendet. Aus diesem Grund ist es angebracht, die spezifischen Eigenarten dieser Technologien zu untersuchen, um ihre Bedeutung für die Konzeption von mystudy zu erfassen. Die gewählte Theoriegrundlage von Spencer-Brown wird sich auch in Open Source 5

Einführung dieser Hinsicht als hilfreich erweisen und die Begriffe liefern, mit denen sich die Vorteile von Open Source-Technologien für mystudy beschreiben lassen. Interfacedesign Während die technologischen Fragen ihre Relevanz stärker auf der Seite der Entwicklung und Administration von mystudy zeigen, spielt für die Nutzung einer Kommunikationsplattform die Gestaltung der Benutzerschnittstellen die zentrale Rolle. Daher muss im Rahmen der Konzeption von mystudy das Problem des Interfacedesigns beleuchtet werden, dessen Bewältigung einen wesentlichen Einfluss auf den Erfolg in Bezug auf die oben dargestellte Zielsetzung hat. Die Gestaltung einer Benutzerschnittstelle muss dabei als die Verwendung von Zeichen gedeutet werden. Infolgedessen ist die Berücksichtigung von zeichentheoretischen Modellen bei der Untersuchung von Gestaltungsaspekten unerlässlich und kann für die Betrachtung von Designentscheidungen wertvolle Hinweise liefern. Auf der Basis dieser theoretischen Reflexionen sollen die Feststellungen und Folgerungen anhand einer praxisorientierten Betrachtung von mystudy nachvollzogen und belegt werden. Im Zuge einer detaillierten Beschreibung des Systems, seiner Techologien und Oberfächen sollen die verschiedenen Aspekte daher wieder aufgenommen werden. Die Plattform mystudy soll damit als eine sinnvolle und effektive Lösung im Rahmen eines Ergänzungsmodells von Präsenzlehre und vernetzten Technologien beschrieben werden. Darüberhinaus sollen die praktischen Entscheidungen, die im Zuge der Entwicklung und Gestaltung von mystudy getroffen worden sind, theoretisch reflektiert werden, nicht zuletzt, um damit Hinweise für vergleichbare Projekte zu liefern. 6

Form und Grenze 2. mystudy im Spannungsfeld zwischen e-learning und Präsenzlehre Mit der Entscheidung, eine Kommunikationsplattform für die Unterstützung der Präsenzlehre zu entwickeln, hat man sich an der Universität Lüneburg für ein Modell entschieden, das auf die Ergänzung herkömmlicher Methoden der Präsenzlehre durch vernetzte Technologien baut. Im Gegensatz hierzu stehen gegenwärtig e-learning-systeme, die eher auf den Ersatz von Präsenzlehre durch multimediale und vernetzte Techniken abzielen, wesentlich stärker im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Die Befürworter der Entwicklung von e-learning-plattformen sehen in der Förderung dieses Substitutionsmodells die Bedingungen der Möglichkeit eines kostengünstigen, delokalisierten und zeitlich entgrenzten Lernens. Der qualitative Erfolg eines solchen Modells muss jedoch in Frage gestellt werden. Im Lichte konstruktivistischer Lerntheorien soll hier die These verfolgt werden, dass die Vertreter eines Substitutionsmodells an den Vorraussetzungen für eine nachhaltig erfolgreiche universitäre Lehre vorbei denken. Den theoretischen Unterbau hierfür soll zunächst die von George Spencer-Brown vorgeschlagene Betrachtung der Begriffe Form und Grenze liefern, die für die Entwicklung einer systemtheoretischen und konstruktivistischen Anschauung der kommunikativen und kognitiven Prozesse des Lernens zentral sind. Darüber hinaus zeigen sich in der Herleitung dieser Begriffe wertvolle Grundlagen für das Selbstverständnis eines jeden Beobachters, die somit auch für die Beobachtungen der vorliegenden Arbeit ihre Gültigkeit bewahren. 2.1 Form und Grenze Der Begriff der Grenze ist in der Vielschichtigkeit seiner möglichen Verwendungen merkwürdig undefiniert. Zumeist wird die Grenze als Phänomen des Raumes erfahren, jedoch ist selbst im alltäglichsten Sprachgebrauch eine Vielzahl weiterer Verwendungsarten üblich. Die Anzahl wissenschaftlicher Publikationen, welche die Grenzen von Theorien, Sichtweisen oder Denkarten aufzeigen, scheint unüberschaubar, allerdings sind die theoretischen Auseinandersetzungen mit dem Begriff und seiner eigentlichen Idee deutlich seltener. Dabei sprechen bereits die ersten [überlieferten; T.L.] Sätze der abendländischen Philosophie [...] von der Grenze als einem zentralen Begriff (Wokart 1995, 275). Der griechische Philosoph Anaximander aus Milet (611-546 v. Chr.) formulierte diese und versteht die Grenze als einen Begriff, ohne den die Welt denkerisch nicht erschlossen werden könnte (Wokart 1995, 276). Es soll an dieser Stelle eine Betrachtung erfolgen, welche den Grenzbegriff nicht in Bezug auf einen bestimmten Diskurs im Sinne einer Grenze von etwas versteht, sondern vielmehr die Grenze als etwas thematisiert. Im Folgenden wird sich zeigen, dass eine solche Anschauung einen Rückbezug der 7

mystudy im Spannungsfeld zwischen e-learning und Präsenzlehre Idee Grenze auf sich selbst bedeutet und mit Baecker als ein Wiedereintritt der Unterscheidung in den Bereich des von ihr Unterschiedenen (Baecker 1999, 24f) bzw. mit Spencer-Brown als re-entry (Spencer-Brown 1977, 56ff) verstanden werden kann. Für die Problematik der vorliegenden Arbeit ist diese Betrachtung auch deshalb von Bedeutung, da es mit ihrer Hilfe möglich ist, zu Beobachtungen zu gelangen, welche die eigene Position und Perspektive nicht außer Acht lassen. Grenze von innen Gesetze der Form In der alltäglichen wie in der wissenschaftlichen Verwendung des Begriffes fällt eines sehr deutlich auf: Die Idee der Grenze wird meist von innen her gedacht. Wenn beispielsweise bei John R. Searle von den Grenzen der künstlichen Intelligenz (Searle 1997) die Rede ist, dann nähert sich der Leser dem Problem der Grenze von innen, indem er nachvollzieht, wo die Fähigkeiten einer Computerintelligenz aufhören. Wenn von den Grenzen eines Nationalstaates gesprochen wird, so ist der inhaltliche Rückbezug stets der Nationalstaat und nicht der Rest der Welt, aus dem mit Hilfe der Grenze ein bestimmter Teil herausgeschnitten wird. Es scheint, als würde man mit dem Begriff der Grenze lediglich eine Definition dessen vornehmen können, was man gedanklich einschließen nicht aber ausschließen will. Die Grenze bekräftigt einen Unterschied, eine Differenz des Eingeschlossenen gegenüber dem Rest. Oder mit anderen Worten: Bei dem Wechsel von der einen Seite der Grenze zur anderen ergeben sich Veränderungen, welche durch den Begriff der Grenze angezeigt werden. Es wird damit ein Selektionskriterium geliefert, dessen Folge die Binarität von Zustimmung und Ablehnung, von Einschluss und Ausschluss bzw. von Diesseits und Jenseits der Grenze ist. Dass diese Anschauung zu kurz greift, zeigt George Spencer-Brown in seinem Kalkül Gesetze der Form (Spencer-Brown 1999), mit dem er eine Theorie der Begriffe Form und Grenze liefert. Jahrelang wurde er für ein alter ego Luhmanns gehalten 3, der die Gesetze der Form für die Konstruktion der System-Umwelt-Architektur in seinen systemtheoretischen Arbeiten herangezogen hat 4. Mit dem Erscheinen der ersten deutschen Augabe 1997 ist er im hiesigen Sprachraum einem breiteren Publikum zugänglich gemacht worden. Spencer-Brown selbst beschreibt sein Werk als mathematisches Kalkül, welches an einem Punkt beginnt, welcher der Logik vorausgehend und soweit degeneriert ist, dass wir herausfinden können, dass die Ideen von Beschreibung, Bezeichnung, Namen und Anweisungen auf dasselbe hinauslaufen können. (Spencer-Brown 1999, 70) 3 Rudolf Maresch gibt in seinem Telepolis-Artikel zum Erscheinen der deutschen Übersetzung der Laws of Form an, das Formenkalkül sei jahrelang für ein Hirngespinst Luhmanns gehalten worden (vgl. Maresch 1998 [online]). 4 (Vgl. z.b. Luhmann 1996, 24ff.) Der Bezug zu Spencer-Brown taucht in einer Vielzahl von Luhmanns Schriften ab Mitte der achtziger Jahre auf. 8

Form und Grenze Der Ort des Ursprungs seines Kalküls sei derart primitiv, dass Begriffe wie richtig und falsch, aktiv und passiv und andere Gegensatzpaare als ineinander kondensiert verstanden werden könnten (Spencer-Brown 1999, 72). Die Überlegungen auf diesem grundlegenden Niveau seien daher auch von jedem intelligenten sechsjährigen Kind zu verstehen (Spencer-Brown 1999, XV), während erwachsene Menschen von der allgegenwärtigen Anwendung einer zweiwertigen Booleschen Logik schon derart verdorben seien, dass ihnen das Verständnis der Gesetze der Form oftmals außerordentlich schwer falle. Spencer-Brown beginnt sein Kalkül mit der Anweisung: Triff eine Unterscheidung (Spencer-Brown 1999, 3). Jede Unterscheidung, die ein Leser in Folge dieser Anweisung treffen mag, beruht auf der Teilung eines Raumes 5 in zwei Seiten der Unterscheidung. Die Innenseite der Unterscheidung wird bezeichnet, während die andere Seite unbezeichnet bleiben muss. Die Unterscheidung schneidet mittels der Markierung des Bezeichneten einen bestimmten Teil aus dem Raum des unmarkiert bleibenden Restes heraus. Sie produziert somit eine Form, welche stets als Zwei-Seiten-Form (Baecker 1993, 11) verstanden werden muss, da sie eine Innenseite und eine Außenseite impliziert, und installiert in der ehemals vollkommenen Symmetrie des ununterschiedenen Raumes die Asymmetrie eines Gefälles, in welchem die Innenseite in aller Regel höher bewertet wird als ihr Komplement. Für den Spencer-Brownschen Formbegriff ergeben sich damit im Ganzen drei Werte: die beiden Seiten der Unterscheidung sowie die dazwischenliegende Grenze. Allerdings liegt es in der Natur der Bezeichnung, dass sie nicht gleichzeitig darauf verweisen kann, dass sie anderes unbezeichnet lässt. Schließlich erkennt sie sich selbst nicht als Unterscheidung, Zwei-Seiten-Form denn die Bezeichnung verdeckt sowohl die Unterscheidung wie den Umstand, dass sie getroffen und dass sie von mir getroffen wird. All das, die Außenseite der Unterscheidung, die Unterscheidung selbst und den Umstand, dass ein Beobachter sie trifft, kann man nur sehen, wenn man entsprechende [neue; T.L.] Bezeichnungen vornimmt. (Baecker 1999, 24) Auf der Basis dieser Formbildung werden drei Anschlussoperationen möglich. Zunächst stellt Spencer-Brown das Gesetz des Nennens vor: Der Wert einer nochmaligen Nennung ist der Wert der Nennung (Spencer-Brown 1999, 2). Diese Operation kann im Sinne einer Bestätigung interpretiert werden, welche den Wert der Unterscheidung bekräftigt. Zweitens führt er das Gesetz des Kreuzens ein: Der Wert eines nochmaligen Kreuzens ist nicht der Wert des Kreuzens (Spencer-Brown 1999, 2). Das Kreuzen der 5 Die Verwendung des Begriffes Raum ist ideell zu verstehen. Sie bezieht sich nicht auf einen physischen Raum. Der physisch-lokale Raum kann aber konsequenterweise als Spezialfall der hiesigen Betrachtung eingeschlossen werden. 9

mystudy im Spannungsfeld zwischen e-learning und Präsenzlehre Unterscheidung meint das Übertreten der Grenze, welche die Unterscheidung zwischen Innen- und Außenseite installiert hat. Die Unterscheidung wird damit egalisiert, womit jede weitere Anschlussmöglichkeit des Nennens oder Kreuzens gelöscht wird. 6 Mit Hilfe dieser beiden Denkfiguren ist es Spencer-Brown möglich, beliebig erweiterbare Arrangements von Unterscheidungen zu formulieren, welche sich stets wieder auf den markierten oder den unmarkierten Zustand zurückführen lassen. re-entry Erst die dritte Operation ist, wie es Baecker formuliert, der eigentliche Skandal des Kalküls (Baecker 1999, 24). Es handelt sich um die Figur des re-entry, um den Wiedereintritt in die Form (Spencer-Brown 1999, 60ff). Das Kalkül wird in dieser Anschlussoperation rückgekoppelt, indem die Form auf sich selbst rekurriert. Was aber geschieht hier mit der Unterscheidung? Die Unterscheidung lässt, bereits während sie getroffen wird, eine Paradoxie entstehen. Genau genommen muss sie als Anweisung eigentlich schon vorliegen, bevor sie getroffen werden kann. In Ermangelung einer Anweisung aber zieht sich die Unterscheidung paradoxerweise nach dem order-fromnoise-prinzip 7 am eigenen Schopf aus der Einheit des unmarked state (Spencer-Brown 1977, 3). 8 Sie wird vollzogen und wird gleichzeitig als Unterscheidung für sich selbst und andere beobachtbar. Das aber heißt nichts anderes, als dass die Unterscheidung selbst bezeichnet wird. Sie wird als Form auf der Innenseite der Unterscheidung unterschieden. Der Wiedereintritt ermöglicht damit ein Oszillieren zwischen Innenseite und Außenseite der Unterscheidung, welches nicht durch ein ständiges Kreuzen der Grenze, nicht im Sinne der Bestätigung oder Aufhebung der Grenze vor sich geht, sondern das durch die Existenz eines äußeren Beobachters evoziert wird. alte Hexe oder junge Frau? Dieser Sachverhalt soll an einer bekannten Beispiel aus der Wahrnehmungslehre verdeutlicht werden. Die Abbildung 1 zeigt zunächst eine Komposition aus schwarzen Linien und Flächen auf weißem Grund. 6 Niklas Luhmann misst der Operation des Kreuzens Kreativität bei, da sie im Gegensatz zur Nennung keine reine Wiederholung darstellt (vgl. Luhmann 1999a, 61). 7 Dieses order-from-noise-prinzip wurde erstmals von Heinz von Foerster vorgestellt. Foerster hat gezeigt, dass die Ordnung eines System zwar abhängig von dessen innerer Struktur ist, dass aber die Manifestation dieser Ordnung nur aus dem Chaos bzw. Rauschen (noise) heraus möglich ist. Rauschen ist mithin konstituierend für Ordnung. Die Unterschiede zwischen Spencer-Brown und Foerster sind rein begrifflicher Natur. Der Zustand des Chaos ist die perfekte Symmetrie, ein vollkommenes Kräftegleichgewicht. Die Foerstersche Ordnung bedeutet die Spencer-Brownsche Asymmetrie der Unterscheidung, welche die Einheit des Raumes aufbricht. (vgl. Foerster 2001, 199f; Luhmann 1994, 122f) 8 Die Fähigkeit, Unterscheidungen trotz fehlender Anweisung zu treffen, könnte man in Bezug auf Luhmann ebenfalls als Kreativität bezeichnet (siehe Fußnote 5) Es zeigt sich hierin die Verwandtschaft der ersten Unterscheidung mit dem Kreuzen der Grenze. 10

Form und Grenze Abbildung 1: Alte Hexe und junges Mädchen Hat das Auge erst einmal Formen und Strukturen unterschieden, so sehen verschiedene Beobachter entweder das Bild einer alten Hexe oder das einer jungen Frau. Zwar ist der Beobachter nach kurzer Übung durchaus in der Lage, die Wahrnehmung zwischen alter Hexe und junger Frau hin und her zu schalten, doch ist es unmöglich beide auf einmal zu sehen. Die Bezeichnung Alte Hexe verdeckt die Außenseite der Unterscheidung, zu der auch das Junge Mädchen gehört. Wer das Junge Mädchen bezeichnet, nimmt eine andere Unterscheidung vor und lässt folglich die Alte Hexe unbezeichnet. Beide Seiten der Unterscheidung auf einmal zu bezeichnen, ist dem Beobachter nicht möglich. Stattdessen passiert etwas Sonderbares: Die Paradoxie, welche uns beim Wechsel zwischen beiden Wahrnehmungen gegenwärtig wird, das Befremden über ein Bild, welches zugleich ein junges Mädchen und eine alte Hexe zeigt, lässt - wie hier in diesen Zeilen - die Wahrnehmung selbst zum Gegenstand der Beobachtung werden. Damit wird der Wiedereintritt der Wahrnehmung in die Wahrnehmung bzw. der Form in die Form vollzogen. Spencer-Brown gelangt mit seinen Überlegungen auf mathematisch formalem Wege zu der Denkfigur der Autoreferenz bzw. Rückkopplung, welche ebenfalls grundlegend für Norbert Wieners Kybernetik ist (vgl. Wiener 1969, 124ff). Wiener bleibt mit seinen Herleitungen allerdings im Bereich der Booleschen Algebra (vgl. Wiener 1969, 150), den Spencer-Brown mit den Gesetzen der Form zu überwinden sucht. Während die Boolesche Algebra lediglich zwei Werte kennt, nämlich richtig und falsch, und auf diese Weise zwei Anschlussoperationen erlaubt, nämlich Annahme oder Ablehnung, installiert Spencer-Brown die Unterscheidung selbst und so auch ihre eigene Rückkopplung als dritten Wert. Ein Beobachter hat nun die Möglichkeit, eine Aussage nicht nur anzunehmen oder abzulehnen, er kann sie im Spencer-Brownschen Sinne auch unentschieden zurückweisen, indem er die Unterscheidung, welche von der Aussage vorgenommen wird, nicht mitträgt 9. Der Beobachter unterscheidet mithin die Unterscheidung selbst und Kybernetik und Form 11

mystudy im Spannungsfeld zwischen e-learning und Präsenzlehre kann auf diese Weise aus ihrer Innenseite heraus, aber auch wieder in sie hinein treten. Kybernetik zweiter Ordnung Mit dieser Interpretation des Kalküls ergeben sich große Ähnlichkeiten zwischen diesem und der Kybernetik zweiter Ordnung von Heinz von Foerster. 10 Deren Konstrukt der Beobachtung zweiter Ordnung, welche Luhmann in die Systemtheorie übernommen hat, gleicht der Figur des re-entry. Den Unterschied von Kybernetik erster und zweiter Ordnung definiert Heinz von Foerster folgendermaßen: Ich schlage vor, die Kybernetik von beobachteten Systemen als Kybernetik erster Ordnung zu betrachten; die Kybernetik zweiter Ordnung ist dagegen die Kybernetik von beobachtenden Systemen. (Foerster 2001, 73) Foerster erklärt damit die Beobachtung zweiter Ordnung programmatisch zum Leitbegriff seiner Kybernetik. Auf diese Weise will Foerster die blinden Flecken der Beobachtungen erster Ordnung sichtbar machen und zu Aussagen gelangen, welche unabhängig von Beobachterperspektiven sind, also unabhängig von der Art und Weise, wie Beobachter Unterscheidungen treffen. Am Beispiel des Bildes, das zum einen die Hexe und zum anderen die junge Frau zeigt, wäre die Beobachtung zweiter Ordnung also die Wahrnehmung der verschiedenen Wahrnehmungsmöglichkeiten und der begleitenden kognitiven Prozesse. Form von mystudy Die wichtigsten Aspekte des Formbegriffs sind nun dargestellt worden. Es ist daher an der Zeit, diese Erläuterungen in den Kontext der Problemstellung der vorliegenden Arbeit zu setzen. Ziel der obigen Ausführungen ist es, dem Leser mit dem Vokabular von Form, Grenze und Unterscheidung ein Werkzeug an die Hand zu geben, welches ihn in die Lage versetzt, mystudy und angrenzende Problembereiche sinnvoll zu betrachten und einzuordnen. Gleichzeitig ist der Formbegriff auch notwendig, um die eigene Beobachterposition des Verfassers zu reflektieren, die deshalb eine besondere ist, weil dieser auch zum Entwicklerteam von mystudy gehört. Dieser Umstand macht ihn auf der einen Seite zu einem Spezialisten in Bezug auf die Fragestellung, auf der anderen Seite zu einem Beobachter, der in besonderer Weise mit dem Problem der Unterscheidung befasst ist. Soll das Unternehmen dieser Arbeit gelingen, muss eben jener beschriebene Wiedereintritt ge- 9 Niklas Luhmann beschreibt dies anhand der Unterscheidungen von Code und Referenz. Eine Aussage kann nach einem Code angenommen oder abgelehnt werden (z.b. richtig/falsch), während sie unter Berücksichtigung der Unterscheidung Selbstreferenz/Fremdreferenz z.b. als nicht relevant zurückgewiesen werden kann (vgl. Luhmann 1992, 29ff). 10 Heinz von Foerster war das Werk Spencer-Browns frühzeitig bekannt. Er schrieb im Jahre 1969 eine außerordentlich lobreiche Besprechung der englischen Erstausgabe der Gesetze der Form für den Whole Earth Catalogue und machte das Kalkül damit in Kybernetikerkreisen bekannt. 12

Form und Grenze leistet werden: Der Beobachter muss seine eigenen Beobachtungen beobachten. Nur so kann er von seinen getroffenen Unterscheidungen abstrahieren und zu Aussagen gelangen, die auch außerhalb von mystudy Gültigkeit besitzen. Auf der Grundlage des Formbegriffs ist es möglich, mit den einhergehenden Schwierigkeiten umzugehen, indem ein Beobachterstandpunkt zweiter Ordnung eingenommen und reflektiert wird. Wir gehen also davon aus, dass jede Beobachtung auf dem Umstand beruht, dass mit ihr anderes von der Beobachtung ausgeschlossen wird. Die Tatsache, dass beobachtet wird, sowie die Fragen danach, wie beobachtet wird, was und was nicht beobachtet wird, können nur durch eine Betrachtung der Form von mystudy beleuchtet werden. Eine solche Betrachtung richtet sich nicht nur auf den Funktionsumfang von mystudy, sondern auch auf die Wahl der Technologien und die Gestaltung des Interfaces. Und selbst dies bliebe vordergründig, wenn man nicht dem Umstand Rechnung tragen würde, dass es sich um eine Plattform zur Kommunikation in der Präsenzlehre handelt. Es ist also die Frage zu stellen, wie sich eine Universität sieht, die ein System wie mystudy zur Unterstützung der Präsenzlehre entwickelt und anwendet, statt ihre Anstrengungen in das Angebot einer e-learning-plattform zu investieren. Eben diese Frage soll in den folgenden Abschnitten behandelt werden. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen kann eine Anwendung wie mystudy als eine geronnene Form der Unterscheidung verstanden werden. 11 Sie stellt eine Ansammlung von Unterscheidungen dar, die durch ihre Programmierer und Gestalter in bestimmten Phasen der Entwicklung getroffen worden sind und die nun in der Funktion der Technik automatisiert sind. Solange die Technik funktioniert, werden die in Ihr geronnenen Unterscheidungen durch das Gesetz des Nennens bestätigt. Das Kreuzen der Grenze ist dagegen nicht möglich, solange man kein Programmierer ist, der Zugriff auf den Quellcode hat, um die Funktionen des Programms umzuschreiben, neue Funktionen hinzuzuprogrammieren oder vorhandene zu entfernen. Hier zeichnet sich ab, dass die Stellung von Open Source-Technologien eine besondere ist, da hier die Möglichkeit des Kreuzens, durch die Offenlegung des Quellcodes offener handhabbar ist als bei proprietären Angeboten. 12 Gerinnung der Form 11 Das Verständnis von Technik als geronnene Form von menschlichen Handlungen und Entscheidungen geht auf Max Weber zurück: Eine leblose Maschine ist geronnener Geist (Weber 1988, 332). 12 Unter dem Ausdruck proprietäre Software wird jene Software zusammengefasst, deren Quellcode durch die Urheberrechte des Eigentümers (englisch: proprietor) geschützt wird und daher nicht einsehbar ist. Die Freigabe des Quellcodes erlaubt es dagegen dem Benutzer, Änderungen an der Software vorzunehmen. Diese auf den Benutzer übertragene Freiheit macht Open Source-Strategien gegenüber Krisensituationen relativ unempfindlich. Die Stabilität des Linux-Betriebssystems dient hierfür als Hinweis. Diese und angrenzende Fragen werden im dritten Kapitel ausführlicher bearbeitet. 13

mystudy im Spannungsfeld zwischen e-learning und Präsenzlehre Die Beschreibung von mystudy als geronnene Form von Unterscheidungen darf nicht als Starrheit missverstanden werden. Es handelt sich vielmehr um ein dynamisches System, in welchem sich durch seine Nutzung Strukturen herausbilden, die wiederum als Unterscheidungen anzusehen sind. Sie impliziert, das ein Nutzer bei der Anwendung einer Unterscheidung ein Handlungsmotiv hat, ein Ziel, das er mit der Unterscheidung verfolgt, das aber mit ihr selbst nicht zu verwechseln ist. 2.2 Grenzen und Anschlussfähigkeit Wie erläutert wurde, markiert der Begriff der Grenze die Teilung eines Raumes in eine Innen- und eine Außenseite. Die landläufige Verwendung des Begriffs impliziert oft, dass eine Überwindung dieser Grenze wenn auch nicht unmöglich, so doch aber mit erheblichen Anstrengungen verbunden ist. Wer an seine Grenzen gelangt, kann meist nicht über diese hinausgehen, und wenn doch, so scheint dies die erwähnenswerte Ausnahme der Regel zu sein. Der Grenzbegriff, wie ihn Spencer-Brown beschreibt, unterscheidet sich von der üblichen Verwendung, denn wie schon im vorhergehenden Abschnitt angedeutet wurde, ist die Grenze Voraussetzung für verschiedene Anschlussmöglichkeiten. Die Operationen des Nennens und des Kreuzens sowie das re-entry werden erst auf der Grundlage der vorgängigen Unterscheidung möglich. Sie markiert somit nicht das Ende von etwas, sondern gerade den Anfang von vielen weiteren Unterscheidungen, die sich kaskadisch fortsetzen. 13 Begrenzung und Entgrenzung können insofern als einander konstituierende Phänomene gedeutet werden. Offenheit und Geschlossenheit Dieser Zusammenhang kann in Anlehnung an Niklas Luhmann näher beschrieben werden. Zwar können hier nur einzelne Aspekte der Systemtheorie angeführt werden, jedoch ist festzuhalten, dass die Systemtheorie die allgemeinen Eigenschaften der Zwei-Seiten-Form am Fall von System und Umwelt expliziert (Luhmann 1999a, 63). Die These von Begrenzung und Entgrenzung lässt sich für diese Explikation reformulieren: Alle Offenheit von Systemen beruht auf ihrer Abgeschlossenheit. Etwas ausführlicher gesagt, heißt dies, daß nur operativ geschlossene Systeme eine hohe Eigenkomplexität aufbauen können, die dann dazu dienen kann, die Hinsichten zu spezifizieren, in denen das System auf Bedingungen seiner Umwelt reagiert, während es sich in allen übrigen Hinsichten dank seiner Autopoiesis Indifferenz leisten kann. (Luhmann 1999a, 68) 13 Metaphorisch kann der Sündenfall als die Ur-Unterscheidung der Welt gesehen werden (vgl. Luhmann 1999a, 62), denn er installiert die erste Asymmetrie zwischen Richtig und Falsch. Gleichzeitig stellt die Vorstellung vom Paradies die Rückkehr in den ununterschiedenen Zustand der Symmetrie in Aussicht. 14

Grenzen und Anschlussfähigkeit Luhmann geht es bei diesem Gedanken noch nicht um die Beschreibung von Gesellschaftssystemen. Jeder Beobachter bietet vielmehr ein solches abgeschlossenes und autopoietisch operierendes System, welches nicht nur im psychischen Sinne, sondern auf einer abstrakten und entmaterialisierten Ebene zu begreifen ist, auf der Beobachtung nicht an spezifische oder gar organische Operationen gebunden ist, sondern nur an Unterscheidung und Bezeichnung. Der Erkenntnistheoretiker Gregory Bateson unterscheidet in seinem Vortrag Double bind im Jahre 1969 (Bateson 1981, 353ff) zwischen den Erklärungswelten der Substanz und der Form. Der Welt der Substanz rechnet Bateson Kräfte und Einflüsse zu, während die Welt der Form durch Unterschiede und Ideen geprägt ist. Im Zuge seiner Überlegungen definiert Bateson den Begriff Information als einen Unterschied, der einen Unterschied macht (Bateson 1981, 353). Die begriffliche Überschneidung zwischen Bateson und Spencer-Brown ist sehr auffällig 14, und die Kenntnis des Unterscheidungstheorie kann helfen, Batesons Definition besser zu verstehen. Tatsächlich lässt sich der Begriff Information im Sinne Spencer-Browns wörtlich verstehen als In-Form-ation, also als Substantiv für das In-Form- Befindliche, im Gegensatz zum Formlosen. Wenn aber die Form für die beiden Seiten einer Unterscheidung sowie ihrer Grenze steht, ist die Information nichts als der Unterschied selbst. Jede Information stellt also einen Unterschied dar. Erst wenn der Unterschied aber einen weiteren Unterschied nach sich zieht, sieht Bateson die Bedingungen von Information erfüllt. Information ist demnach eine Unterscheidung, die anschlussfähig ist und die, wie Spencer-Brown zeigt, selbst Gegenstand von Unterscheidung werden kann. Eine zentrale Rolle für die Anschlussfähigkeit von kommunikativen Operationen spielt die Frage nach Sinn. Sinn ist im systemtheoretischen und konstruktivistischen Verständnis keine Entität an sich, sondern vielmehr ein Produkt von Unterscheidungsoperationen, das somit nur im Moment der Unterscheidung besteht, weder vorher noch nachher. Alle Orientierung ist Konstruktion, ist von Moment zu Moment reaktualisierte Unterscheidung. (Luhmann 1999a, 45) Wie kommt es dann aber dazu, dass sich in der Selbstbeobachtung sinnkonstruierender Systeme die Illusion von stabilen Identitäten herausbildet? Information Sinn Beobachtende Systeme unterscheiden sich selbst mit Hilfe ihrer Beobachtungen von der Umwelt, sie unterscheiden Selbstreferenz und Fremdreferenz. Die Selbstreferenz ist somit die Innenseite einer Zwei-Seiten-Form, deren Außenseite die Fremdreferenz ist. Indem das System beobachtet, 14 Inwiefern Bateson und Spencer-Brown im Jahre 1969 voneinander Kenntnis genommen haben, ist allerdings unklar. Erst später bezieht sich Bateson explizit auf Spencer-Brown (vgl. Bateson 1987, 113). 15

mystudy im Spannungsfeld zwischen e-learning und Präsenzlehre produziert es jene Form, die wiederum auf ihrer Innenseite beobachtbar ist. Genau dies beschreibt die oben erläuterte Vokabel des re-entry. Das System oszilliert auf diese Weise zwischen Selbst- und Fremdreferenz und begreift den Eigenwert dieser steten Rückkopplung als Sinn. 15 Die Produktion von Sinn ist folglich die stete Herausforderung beobachtender Systeme, die mit Hilfe ihrer Operationen aus ausgewählten Überraschungen und Irritationen sinnvolle Informationen gewinnen. Gleichzeitig ist die Produktion von Sinn also die Folge von rekursiven Unterscheidungen, aber auch die Bedingung, die den Anschluss weiterer Unterscheidung und damit die Fortführung weiterer Sinnproduktion erst erlaubt. Im selbstkonstituierten Medium Sinn ist es unerläßlich, Operationen an Unterscheidungen zu orientieren. Nur so läßt sich die für Rekursionen erforderliche Selektivität erzeugen. (Luhmann 1999a, 48) Betrachtet man Kommunikationsprozesse, so bezeichnet Sinn das Kriterium der Selektivität, durch welche die Auswahl einer Anschlusskommunikation eingeschränkt wird. Hierdurch wird gewährleistet, dass eine beliebige Kommunikation nicht beliebig fortführbar ist. Die Unterscheidung, die durch eine Kommunikation vermittelt wird, transformiert die unbestimmte Kontingenz des beliebigen Anfangs in eine bestimmte Kontingenz des Anschlusses, dessen Selektion nur im Medium des Sinns erfolgen kann. Sinnlose Kommunikationen sind daher nicht anschlussfähig. Kommunikation Der Kommunikationsbegriff bedarf weiterer Erläuterungen, um in der Frage nach Anschlussfähigkeit und schließlich auch hinsichtlich einer konstruktivistischen Anschauung von Lernprozessen fruchtbar Anwendung zu finden. Luhmann beschreibt Kommunikation als eine Trias von Information, Mitteilung und Verstehen und versucht auf diese Weise, sich von einem Kommunikationsbegriff zu lösen, der sich an der Metaphorik des Besitzens, Habens, Gebens und Erhaltens (Luhmann 1996, 193) orientiert. Der Kommunikationsakt zieht keine Übertragung von Informationen nach sich, er ist vielmehr zu sehen als ein Selektionsvorschlag, der aufgegriffen und prozessiert werden muss, damit Kommunikation zustande kommt. Information entsteht erst in der Bemühung des prozessierenden Systems, die Irritation des Selektionsvorschlags in Einklang mit den eigenen Vorstellungen und Sichtweisen zu bringen, mit anderen Worten, zu verstehen. Während Information und Mitteilung die Voraussetzung für das Verstehen bilden, kann eine Kommunikation nur als geglückt begriffen werden, wenn sie auch verstanden worden ist 16, so dass aus ihr auf der Seite des Empfängers wiederum sinnvolle 15 Auf diese Weise kommt es im Zeitverlauf zu ständigen Verschiebungen dieses Eigenwertes und historisch gesehen zu einem Driften von Bedeutungen, welches Jaques Derrida für den Bereich der Sprache mit dem Stichwort différance expliziert (vgl. Derrida 1991, 76). 16 Verstehen schließt in diesem Sinne auch Missverstehen ein. 16

Grenzen und Anschlussfähigkeit Informationen gewonnen werden können. Dabei beruht das Verstehen wesentlich auf der erfolgreichen Unterscheidung der Information von ihrer Mitteilung (Luhmann 1996, 195). Die Systemtheoretikerin Elena Esposito liefert hierfür ein Beispiel: Für denjenigen, der die Kommunikation versteht, bleibt die Differenz zwischen einer durch die Wahrnehmung gewonnenen Information und einer kommunikativen Information fest [...]. Er verwechselt z.b. die Direktübertragung eines Feuers nicht mit dem Feuer in seiner Wohnung. (Esposito 1993, 343) Kommunikation beschreibt also das organisierte Zusammentreten von diesen drei Selektionen: Information als Unterscheidung dessen, was kommuniziert wird, von dem, was noch kommunizierbar wäre; Mitteilung als Selektion eines Verhaltens, das diese Information wahrnehmbar macht; und Verstehen als Unterscheidung von Information und Mitteilung. Allein das Verstehen bewirkt bei dem Adressaten von Kommunikationen eine Veränderung, unabhängig davon, ob dieser die Information, die er aus einer Mitteilung generiert hat, annimmt oder ablehnt: Man liest: Tabak, Alkohol, Butter, Gefrierfleisch usw. gefährde die Gesundheit, und man ist (als jemand, der das hätte wissen und beachten können) ein anderer - ob man s glaubt oder nicht! (Luhmann 1996, 203) Das heißt, dass für den Kommunikationsbegriff zunächst unerheblich ist, ob überhaupt eine weitere Reaktion nach außen, beispielsweise in Form einer Änderung von Konsumgewohnheiten, wahrnehmbar ist. Dies aber zeigt, dass jede Kommunikation die Freiheit evoziert, sich so zu ihr zu positionieren, wie man es für richtig hält. Als Selektion schafft sie zwar eine Einschränkung der Beliebigkeit des Kommunizierbaren in Form des Kommunizierten, gleichzeitig erzeugt sie aber auf der Seite ihres Anschlusses die Kontingenz von Annahme und Ablehnung. Auch in der Anwendung der Unterscheidungsfigur auf die Kommunikation zeigt sich in der gleichzeitigen Reduktion und Entfaltung von Komplexität die Ambivalenz von Begrenzung und Entgrenzung. Ein solches Verständnis von Kommunikation soll nun zunächst zusammengeführt werden mit einem konstruktivistischen Verständnis von Lernen und Wissen. Auf der Basis dieser Überlegungen kann dann für eine Ergänzungsstrategie von Präsenzlehre und vernetzter Technologie votiert werden, wie sie durch das Angebot und den Einsatz von mystudy verfolgt wird. 17

mystudy im Spannungsfeld zwischen e-learning und Präsenzlehre 2.3 Konstruktivismus und Form Ernst von Glasersfeld beschreibt den wesentlichen Unterschied des Konstruktivismus gegenüber den vielen anderen Denktraditionen in der Geschichte der westlichen Erkenntnislehre mit dem neuen Verhältnis zwischen Wissen und Wirklichkeit (vgl. Glasersfeld 1981, 16ff). Während die vorgängigen Denkarten stets darüber stritten, was wirklich existiert, zeigt der Konstruktivismus eine neue Qualität, weil er die Vorstellung von Wirklichkeit revolutioniert, und konstatiert, dass es eine Übereinstimmung von Wissen und Wirklichkeit nicht geben kann. Unter Berücksichtigung der vorangegangenen Überlegungen kann festgehalten werden, dass die Beobachtung einer Wirklichkeit wie jede Beobachtung auf der Basis von Unterscheidungsoperationen vor sich geht und daher mit den Begriffen von Spencer-Brown beschrieben werden kann. Bezüge Der radikale Konstruktivismus 17 befindet sich in der Tradition der kantischen, subjektorientierten Philosophie, löst sich jedoch konsequent von dem Postulat einer subjektunabhängigen Realität. Die Frage, ob es eine objektive Realität der Außenwelt gibt oder nicht, ist im Konstruktivismus irrelevant für das Entstehen von Erkenntnis und Wissen. Eine sehr konkrete und bedeutende Rolle für die Entwicklung dieser Position haben die psychologischen Arbeiten von Jean Piaget gespielt (vgl. Glasersfeld 1981, 17), welche die Vorgänge des Erwerbs von Wissenstrukturen vor allem beim Kind beschrieben haben 18. Bemerkenswert ist, dass Piaget bereits in den 40er Jahren zu Erkenntnissen gelangt, die sich weitgehend mit denen der Konstruktivisten der 80er Jahre decken. Die zentrale Schlußfolgerung seiner empirischen Arbeiten ist die Vorstellung, dass das Individuum seine kognitiven Konzepte selbst generiert und Wissen nur in der Rückkopplung mit der Umwelt erwirbt (vgl. Schlumeister 1997, 71f). Auf der Basis dieser Prozesse bildet das Individuum seine Kognitionsfähigkeiten ständig weiter aus. Die naturwissenschaftliche Grundlage der konstruktivistischen Idee bilden die Ergebnisse der modernen Biologie, wie sie hauptsächlich von Maturana und Varela formuliert worden sind. Ausgehend von der Beschaffenheit der Zelle als Ur-Einheit des Lebens liefern sie das Konzept des autopoietischen und selbstreferenziellen Systems (vgl. Maturana 1985, 180ff), welches vom Konstruktivismus übernommen wird. Sie begreifen Organismen als beobachtende Systeme, die autonom und rekursiv organisiert sowie informationell geschlossen sind. 19 Solche Systeme können Informationen nicht als 17 18 Die Bezeichnungen radikaler Konstruktivismus und Konstruktivismus werden als gleichbedeutend verwendet, wie es dem Gebrauch in der Literatur weitgehend entspricht. Im Originaltitel ist das Werk benannt: La construction du réel chez l enfant. Schon der Titel lässt Rückschlüsse auf Piagets Verständnis von Realität als Ergebnis einer Konstruktionsleistung des Beobachters zu (vgl. Piaget 1975). 18

Konstruktivismus und Form objektive Gegebenheiten aufnehmen, sondern nur individuell interpretierend erkennen. Im Kontext der ausgeführten Theorie der Unterscheidung kann diese Annahme nicht überraschen. Schließlich werden Anschlussoperationen in individuellen Sinnzusammenhängen individuell selektiert und angenommen oder abgelehnt. Die traditionelle Vorstellung von Subjekt und Objekt, derer sich die ontologische Erkenntnistheorie stets bedient hat, basiert auf einem altgriechischen Naturbegriff, der aus konstruktivistischer Sicht mit wesentlichen Irrtümern behaftet ist (vgl. Luhmann 1987, 44), denn er geht davon aus, dass die Natur der Erkenntnis vorgelagert ist. Aufgabe der Erkenntnis war es daher, die Natur zu entdecken 20 und mit Hilfe reduzierter Programme zu beschreiben. Eine Folge dieser Zielsetzung war schließlich die Erfindung des Subjekts. Der Beobachter nahm sich damit aus der Natur (=Objekt) heraus, ohne sich dabei dieser unzulässigen Verkürzung gewahr zu werden. In der konstruktivistischen Betrachtung wird diese Differenz zurückgenommen, weil das Objekt - mit Spencer-Brown gesprochen - in die Grenzen des Subjekts wieder eintritt. Was ehemals als ontische Subjekt-Objekt-Differenz empfunden und auch theoretisch begründet wurde, erweist sich nun als epistemologische Einheit, die nur scheinbar durch jede neue Beobachtung aufgebrochen wird, sich aber gerade darin erneut konstituiert. Der Konstruktivismus geht also davon aus, dass Erkennen vor allem ein selbstbezüglicher Prozess ist, der ohne die Entität des Objekts funktioniert. Betrachtet man Wissen und Erkennen als korrelative Begriffe, so lässt sich daraus ableiten, dass ein beobachtendes System nur dann über Wissen verfügt, wenn es dieses über seine eigenen kognitiven Operationen erzeugt. Wissen als Resultat eines Erkenntnisprozesses ist demnach nicht ein Abbild einer äußeren Wirklichkeit sondern ein Konstrukt, welches individuell erzeugt werden muss, um operativ verfügbar zu sein. Subjekt - Objekt Wissen Die Konstruktion von Wissen wird von beobachtenden Systemen vorgenommen, um den unstrukturierten Erlebnisraum in wiedererkennbare Einheiten zu gliedern, deren Beziehungen untereinander in einer sinnvollen Ordnung stehen. Da die Möglichkeiten der Konstruktion solcher Ordnungen stets durch vorhergehende Konstruktionen eingeschränkt sind, da also die möglichen Anschlüsse von Unterscheidungen an Unterscheidungen gebunden sind an Selektionsvorschläge wie z.b. Information, Mitteilung und Verstehen, kann auch ein Scheitern von Konstruktionen lediglich mit Hilfe eben jener 19 Die Begriffe von Beobachtung und Handlung sind in diesem Kontext nach Maturana/Varela als kongruent zu verstehen: Jedes Tun ist Erkennen, und jedes Erkennen ist Tun. (Maturana/Varela 1987, 31) 20 Der Verwechslung von Erfindung und Entdeckung widmet sich in anschaulicher Art und Weise auch der Metalog von Gregory Bateson Was ist ein Instinkt? (Bateson 1981a). Demnach hat beispielsweise Sir Isaac Newton die Schwerkraft nicht entdeckt sondern erfunden. 19

mystudy im Spannungsfeld zwischen e-learning und Präsenzlehre Unterscheidungen beobachtet werden, die schon zu ihrem Aufbau verwendet worden sind. Glasersfeld bringt diesen Gedanken auf den Punkt, indem er den Grenzbegriff wieder aufnimmt: Was immer wir als Bausteine wählen, [...] bestimmt Grenzen. Wir erfahren diese Grenzen aber sozusagen nur von innen [...]. Die Schranken der Welt an denen unsere Unternehmen scheitern, bekommen wir nie zu Gesicht. Was wir erleben und erfahren, erkennen und wissen, ist notwendigerweise mit unseren eigenen Bausteinen gebaut und lässt sich auch nur aufgrund unserer Bauart erklären. (Glasersfeld 1981, 35) Zwar können jene Unternehmen an den Schranken unserer Konstrukte scheitern, dennoch sind sie nur konstruierend möglich geworden. Wiederum erweist sich die Grenze als beiderlei: als Begrenzung wie auch als Entgrenzung, hier im Spannungsfeld von Scheitern und Fortführung von Konstruktionen. Paradigmenwechsel Die Konsequenz dieser Erkenntnisse ist durchaus nicht das Ende der Wissenschaft, vielmehr hat man es nun mit einer Verschiebung des erkenntnistheoretischen Paradigmas zu tun. Das Verhältnis von Wissen und Wirklichkeit wird nicht mehr als Problem der Korrespondenz betrachtet, sondern als Problem des Passens in einem darwinistisch evolutionären Sinne (vgl. Glasersfeld 1981, 20f). So wie in der Evolution der Einfluss der Umwelt darin besteht, nichtpassende Varianten zu eliminieren, setzt die Erlebniswelt den Prüfstein für die kognitiven Strukturen beobachtender Systeme. Die erkenntnistheoretische Fragestellung lautet daher nicht mehr Was ist Wissen? sondern Wie erwerben wir Wissen? und schließlich diskurskritisch: Wie und unter welchen Bedingungen wird Wissen als solches anerkannt? Siegfried J. Schmidt formuliert diesen Paradigmenwechsel folgendermaßen: Es empfiehlt sich, von Was-Fragen auf Wie-Fragen umzustellen; denn wenn wir in einer Wirklichkeit leben, die durch unsere kognitiven und sozialen Aktivitäten bestimmt wird, ist es ratsam, von Operationen und deren Bedingungen auszugehen statt von Objekten [...]. (Schmidt 1996, 15) Der Beantwortung dieser neuen Wie-Fragen widmet sich der Konstruktivismus also aus einer Richtung, die insbesondere durch die Erkenntnisse der Neurophysiologie motiviert und begründet ist. Sein Ziel ist die theoretische Ausgestaltung und die Positionierung der Erkenntnistheorie als Metawissenschaft. Das Problem der Vermittlung und Erzeugung von Wissen 21 ist allerdings weitgehend auch ein pädagogisches, vor allem dann, wenn es um 21 Schon der Begriff der Wissensvermittlung ist im Rahmen konstruktivistischer Theorien äußerst problematisch. Zu sprechen wäre eigentlich besser von der Irritation wahrnehmender Systeme, um kognitive Prozesse anzuregen. Allerdings wird hier dem gängigen Sprachgebrauch der Vorzug gegeben. 20