Pflegephilosophie für Demenzkranke



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Transkript:

Pflegephilosophie für Demenzkranke St. Maria Seniorenpflegeheim Dischingen I Kategorie Gesundheit Das St. Maria Seniorenpflegeheim führt Humanitude in Deutschland ein eine ganzheitliche Pflegephilosophie für Demenzpatienten. Das Potenzial Menschen mit Demenzerkrankungen leben in einer eigenen Welt, die durch geistige und körperliche Defizite bestimmt wird. Sprache und Wahrnehmung, Emotionen und Erinnerungen können von Betroffenen schwer oder gar nicht mehr kontrolliert werden, was zu einem verzerrten Realitätsbild führt. Pflegekräfte sind so täglich mit der Herausforderung konfrontiert, diesen Menschen ein Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit zu vermitteln. Humanitude, das Konzept mitmenschliche Pflege, ist ein ganzheitlicher Ansatz demenzkranken Menschen auf Augenhöhe zu begegnen. Neben dem Pflegepersonal werden in St. Maria auch die Mitarbeiter aller anderen Bereiche in dieser Haltung geschult. Wichtig sind hier die vier Grundpfeiler: demenzkranken Menschen respektvoll zu begegnen, ihnen über Blickkontakt, direkte Ansprache und einfühlsame Berührung positive emotionale Erlebnisse im Zusammenhang mit der Pflege zu ermöglichen, sodass sie bis zuletzt aufrecht am Leben teilnehmen können. Damit sind sie Mitmenschen, Gleiche unter Gleichen, anstatt selbst letztlich nur noch passiv sein zu müssen, wie es im Pflegebereich leider noch viel zu häufig vorkommt. Hier legt man Wert darauf, dass jeder einzelne Mitarbeiter der Einrichtung Verständnis und Einfühlungsvermögen im Hinblick auf die Bedürfnisse und das Erleben der Pflegebedürftigen entwickelt und weiß, wie er mit ihnen kooperieren kann. Die Schaffung einer echten, von Achtung geprägten Beziehung hat Priorität vor jeder Pflegefunktion. In einem solchen Klima voll Zuwendungsbereitschaft blühen die Demenzkranken häufig wieder auf und finden zurück ins Leben: Schritt für Schritt, durch die Kraft persönlicher Nähe. Seite 1

Die Personen Claudia Stegmann-Schaffer ist nur in zweiter Linie Heimleiterin im Pflegeheim St. Maria in Illertissen. In erster Linie ist sie Kämpferin für ein liebevolles Miteinander. Claudia Stegmann-Schaffer, Sie beschäftigen sich intensiv mit Demenz. Ich bin seit fast 14 Jahren Heimleiterin hier im Pflegeheim St. Maria. Und die Demenzkranken sind mit Abstand unsere größte Gruppe. Über 40 von 60 Bewohnern leiden darunter. Da ist es doch ganz normal, dass man alles versucht, um so viel wie möglich über sie zu wissen. Und so sind Sie dann auf das neuartige Humanitude -Konzept gestoßen? Jein. Jein? Ich war auf einem Kongress in Nürnberg und bin eher zufällig in einen Vortrag von Yves Gineste geraten. Er hat das Konzept zusammen mit seiner Ehefrau Rosette Marescotti entwickelt. Yves zeigte uns damals einen kleinen Film, der mich fast umgehauen hat. Um was ging es? Um eine Frau, die drei Jahre völlig zusammengekrümmt in ihrem Bett lag und keinerlei Kontakt mehr mit der Außenwelt hatte. Klingt traurig. War es auch. Aber das Faszinierende war: Nachdem Yves es eine Weile mit ihr zu tun hatte, war es möglich, sie auf die Bettkante zu setzen und sie lief dann sogar drei Schritte. Ich dachte nur: Wenn das keine Schwindelei ist, will ich wissen, wie es geht. Haben Sie es herausgefunden? Ich habe mich intensiv mit dem Konzept beschäftigt, mit Yves und seiner Ehefrau Kontakt aufgenommen, mich schulen lassen und 2011 die Zulassung bekommen. Ich bin die erste deutschsprachige Humanitude -Trainerin. Wissen Sie, was ich daran so erstaunlich finde? Keine Ahnung. Dass Yves Gineste und Rosette Marescotti ursprünglich gar nicht aus dem Pflegebereich kommen. Sie waren Sportlehrer. Das stimmt. Aber manchmal ist es gerade der Blick von außen, der für neue Sichtweisen sorgt. Wie sah das in diesem Fall aus? Die beiden waren in verschiedenen Pflege-Einrichtungen zur Rückenschulung und sind dort fast verzweifelt. Seite 2

Weshalb? Weil sie ein aufwendiges Konzept hatten, von dem sie eigentlich gute Erfolge erwarteten. Aber? Bei den Demenzkranken funktionierte es nicht. Sie kamen einfach nicht voran. Also haben sie sich Gedanken gemacht, woran das liegen könnte. Und? Sie stellten fest, dass in vielen Fällen eine vertrauens- und liebevolle Basis fehlte. Die Pflegebedürftigen waren eher eine Art Objekt der Pflege, für die die Pflegekräfte handelten. Also versuchten Yves und Rosette, dies mit einem neuen Konzept zu ändern. Der Erfolg gibt ihnen recht. Wie sieht der Erfolg aus? Die Bettlägerigkeit wird deutlich verringert, das auffällige Verhalten und die Anzahl der Medikamente ebenso. Verblüffend! Das ist es in der Tat. Aber bitte nicht missverstehen es ist nicht wie bei Jesus, der sagte: Stehe auf, nimm dein Bett und wandle. Wir können keine Wunder bewirken, die Menschen sind immer noch krank. Aber: Wir können ihre Lebensqualität deutlich verbessern. Wie machen Sie das konkret? Indem wir eine vertrauens- und liebevolle Basis schaffen, die auf gegenseitigem Respekt beruht. Sollte das in der Pflege nicht Standard sein? Natürlich. Aber schauen Sie: Es macht einen Unterschied, ob ich es mit einem demenzkranken oder gesunden Menschen zu tun habe. Nehmen wir unser Gespräch. Wenn wir uns in einem Jahr zufällig wiedertreffen, werde ich mich daran erinnern, dass wir ein Interview hatten. Wir haben also eine gemeinsame Basis. Aber der Demenzkranke hat mich bereits nach kurzer Zeit wieder vergessen. Das heißt: Ich muss mir sein Vertrauen jeden Tag aufs Neue erarbeiten und immer wieder aufs Neue eine mitmenschliche Beziehung zwischen uns schaffen. Wie zum Beispiel? Bevor wir in das Zimmer kommen, klopfen wir an treten aber nicht gleich ein, wie das oft üblich ist. Wenn wir keine Antwort bekommen, klopfen wir noch mal. Und zur Not noch mal. Erst dann gehen wir ins Zimmer und nähern uns immer im Blickfeld. Niemand soll sich überfallen fühlen. Oder nehmen Sie die Pflege, das Waschen. Was ist damit? Das ist ein sehr intimer Vorgang, für den es zwei Möglichkeiten gibt. Seite 3

Welche? Ich kann jemanden mechanisch waschen wie ein Auto, danach ist er hygienisch einwandfrei. Ich kann die Kranken aber auch wie Mitmenschen behandeln, damit sie sich gut fühlen. Das ist ganz entscheidend. Denn Demenzkranke vergessen fast alles aber das emotionale Gedächtnis funktioniert bis in den Tod. Humanitude verankert positive Erlebnisse im Zusammenhang mit der Pflege im Gedächtnis der Kranken. Das heißt? Dass sie bereits in der Vorbereitung auf die Pflege signalisiert bekommen sollten: Es folgt etwas Schönes. Das beinhaltet, dass wir in der Ansprache nur positive Worte verwenden, dass wir uns immer wieder neu vorstellen und um das Einverständnis für die Pflegehandlung bitten. Oder dass wir nicht mit dem Gesicht oder einer sensiblen Zone anfangen, sondern mit den neutralen Zonen. Wir nähern uns behutsam und bleiben in Beziehung. Dazu gehört, dass wir sanfte Handgriffe verwenden und niemals Pflegemaßnahmen gegen den Willen der Patienten durchführen. Kostet das alles nicht Zeit, die man in Ihrem Bereich heutzutage gar nicht mehr hat? Mangelnde Zeit das ist in der Pflege ja immer das Totschlagargument. Aber das greift hier nicht. Warum nicht? Weil ich doch viel mehr Zeit verliere, wenn der Bewohner eine Abwehrhaltung einnimmt. Und was noch hinzukommt: Wenn Sie so arbeiten, gehen Sie mit keinem guten Gefühl nach Hause. Aber wir alle haben diesen Beruf doch gewählt, weil wir etwas bewirken wollen. Es geht um ein Miteinander? Ich glaube an die Beziehung zwischen Menschen egal, ob sie krank sind oder nicht. Erst der Kontakt zu anderen macht mich zum Mitmenschen. Besteht nicht die Gefahr, dass man so die Arbeit zu nah an sich heranlässt? Ich habe noch nie an die professionelle Distanz geglaubt. Nein? In unserem Beruf geht es um Menschlichkeit. Natürlich muss ich abends auch wieder loslassen können. Aber wenn mich das Leiden anderer Menschen nicht mehr berührt, muss ich aufhören. Bei Ihnen im Haus gilt das für alle? Wir haben alle Mitarbeiter so geschult, dass sie das Konzept Humanitude leben. Sogar den Hausmeister. Seite 4

Den Hausmeister? Auch er hat regelmäßig Kontakt mit den Bewohnern, ebenso wie die Mitarbeiterinnen der Hauswirtschaft und der Verwaltung. Die Aufgabe aller Menschen, die bei uns arbeiten egal, in welcher Position ist: ein Zuhause zu schaffen, in dem sich die Bewohner als Mitmenschen angenommen fühlen. Denn eines sollte man nie vergessen: Wir bieten den Menschen kein schickes Hotel, sondern ein Zuhause. Wir wird das Konzept denn angenommen? Besucher, die gar nicht wissen, nach welchem Konzept wir arbeiten, sagen oft: Bei euch herrscht eine so warme Atmosphäre! Ein schöneres Kompliment für unsere Arbeit gibt es nicht. Das hört sich nachahmenswert an. Das finde ich auch. Leider bin ich keine Marketing-Fachfrau. Aber ich habe mir ganz fest vorgenommen, dieses Konzept in Deutschland bekannter zu machen. Denn ich bin zu hundert Prozent davon überzeugt. Homepage: www.pflegeheim-st-maria.de Seite 5

Die Expertin Adelheid von Stösser kennt die Probleme und Nöte in der Pflege. Sie sieht in Humanitude mehr als nur eine Methode, mit Demenzkranken besser umzugehen. Frau von Stösser, wie ist es um die Pflege von Demenzkranken bei uns im Land bestellt? Nicht gut. Die Pflege ist viel zu körperbezogen. Angefangen von den Kriterien, nach denen die Pflegestufen anerkannt werden. Zu 90 Prozent geht es um Verrichtungsdinge Zeit für Zuwendung wird erst gar nicht kalkuliert. Bei Unruhe und anderen Auffälligkeiten werden allzu schnell Medikamente eingesetzt, auch wenn die Nebenwirkungen fatal sind. Laut einer Studie werden mehr als 400.000 Demenzkranke zeitweise fixiert, weil man nicht weiß, wie man anders mit ihnen klarkommen kann. Das klingt dramatisch. Ist zumindest Besserung in Sicht? Na ja. Einige erhoffen sich von einer Änderung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs Besserung. Es soll künftig fünf statt drei Pflegestufen geben und die besondere Situation der Demenzkranken soll dabei besser berücksichtigt werden. Wir unterstützen diese Neuerung jedoch nicht. Warum? Weil das Stufensystem den Pflegebedarf regelrecht fördert. Nicht selten wird sogar nachgeholfen, und sei es nur, dass dem Bewohner in der Dokumentation Fähigkeiten abgesprochen werden, damit er in eine höhere Pflegestufe kommt. Wissen Sie, früher wurde für jeden Pflegeheim-Bewohner der gleiche Betrag von den Kassen bezahlt. Da war der Anreiz größer, die Pflegebedürftigen fit zu halten. O je! Die Lage ist also mehr als ernst. Umso wichtiger dürfte da der Ansatz aus Frankreich sein, den Claudia Stegmann-Schaffer in ihrem Heim eingeführt hat. Es würde mich sehr freuen, wenn dieser Ansatz deutschlandweit Einzug in die Pflegeheime und Krankenhäuser nehmen würde. Frau Stegmann-Schaffer hat dafür einen wichtigen Grundstein gelegt. Was ist denn das Besondere an Humanitude, im Unterschied zu anderen Konzepten? Als ich von dem Konzept aus Frankreich hörte, war mein erster Gedanke: Der Pflege mangelt es nicht an Konzepten, sondern an der Umsetzung. Aber dann habe ich einige Beispiele gesehen, die mich sehr beeindruckt haben. Einzigartig an Humanitude ist vor allem, dass dieses Konzept konsequent an der Beziehungsebene ansetzt. Wenn das Schule macht, dann lernen Pflegekräfte in Zukunft wieder, den Menschen in den Vordergrund zu stellen. Seite 6

Das klingt vielversprechend und nachvollziehbar. Warum ist keiner früher draufgekommen? Vermutlich, weil es fast schon zu einfach ist. Wir neigen dazu, Dinge komplizierter zu machen. Und wir berufen uns auf eingefahrene Standards und Gewohnheiten, die viel zu selten hinterfragt werden. Die Entwickler von Humanitude kamen ursprünglich nicht aus der Pflege. Deshalb haben sie die Pflegeabläufe mit ganz anderen Augen beobachtet und immer wieder gefragt: Warum macht ihr das so? Habt ihr es schon einmal anders probiert? Nach allem, was wir bisher über Humanitude erfahren haben, sollte man meinen, dass sämtliche Einrichtungen in Deutschland daran interessiert sein müssten. Warum ist die Nachfrage eher noch verhalten? Zum einen, weil es zu Humanitude derzeit noch keine Literatur auf Deutsch gibt. Zum anderen hängt das mit der Historie und der Mentalität der Pflege zusammen. Manche reagieren geradezu allergisch auf alles Neue. Es heißt zu oft: Wie sollen wir das auch noch machen? Haben Sie dennoch Hoffnung? Ja. Denn dieses Pflege-Konzept hat nur Vorteile. Und zwar nicht nur für die Pflegebedürftigen, sondern auch für die Pflegekräfte und die Angehörigen. Der Erfolg wird kommen, wenn es uns mit vereinten Kräften gelingt, den Gewinn für alle herauszustellen. Wie kann das gelingen? Wir müssen die positiven Beispiele bekannter machen. Und Frau Stegmann-Schaffer hat das Zeug dazu, dies als Paradefrau nach außen zu tragen. Die Vorstellung hier ist ein gutes Beispiel. Aktuell ist eine eigene Internetseite auf Deutsch geplant. Welche Vorteile könnte dieser Pflegeansatz für die Region haben? Jeder kann durch diesen Ansatz gewinnen. Nicht zuletzt die Familien in der Region, denen ja auch sehr viel Stress und deprimierende Erlebnisse erspart werden, wenn der Umgang mit verwirrten Angehörigen entspannter abläuft. Denn nicht nur die Fachkräfte lernen hilfreiche Methoden kennen, sondern jeder, der Kontakt mit einem Demenzkranken hat. Wenn Sie bedenken, dass der Anteil der Demenzkranken steigen wird und schon heute fast jede Familie betroffen ist, können Sie vielleicht erahnen, was noch auf uns zukommt. Die Demenz ist eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung. Um zu verhindern, dass das in einer sozialen Katastrophe endet, bedarf es humanitärer Konzepte. Seite 7

Sie sehen also in Humanitude einen Ansatz zu einer humanen Lösung des Demenzproblems. Ja. Diese Pflegephilosophie hat weitreichendes Potenzial. Nicht zuletzt, weil ein Großteil der Probleme, die Pflegekräfte und Angehörige heute haben, verhindert oder wenigstens gemildert werden kann. Den Pflegebedürftigen kann damit viel Leid erspart bleiben. Und die Pflegenden können viel Zeit, die Kommunen viel Geld sparen. Aus meiner Sicht steckt die Pflege aktuell landauf, landab in der Sackgasse. Humanitude könnte ein Weg aus der Sackgasse sein. Zur Person: Adelheid von Stösser ist Pflegeexpertin. In Fachkreisen kennt man sie vor allem durch ihre Fachbücher und Vorlagen für Pflegestandards (Stösser-Standards). Diese Standards veröffentlichte sie zwischen 1992 und 1996 in mehreren Büchern. Dabei handelt es sich um eine umfassende Pflegekonzeption, bei dem der Mensch als Person im Vordergrund steht. Darüber hinaus macht sie die Fachwelt durch Artikel, Vorträge und Internetseiten auf die psychische Komponente der Alzheimer-Demenz aufmerksam. Sie ist Vorsitzende des Pflege-Selbsthilfeverbandes e.v. (www.pflege-shv.de), den sie 2005 mitbegründete. Seniorenpflegeheim St. Maria Zollbergstr. 1 89165 Dietenheim-Regglisweiler claudia-stegmann-schaffer@pflegeheim-st-maria.de www.pflegeheim-st-maria.de Seite 8