Mobilität der Identität Kritische Auseinandersetzung mit der deutschen Wiedervereinigung in Heinz Czechowskis literarischer Ortsbeschreibung 1



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Transkript:

Kritische Auseinandersetzung mit der deutschen Wiedervereinigung in Heinz Czechowskis literarischer Ortsbeschreibung 1 MIYAZAKI Asako Humboldt Universität zu Berlin Das Phänomen der Wiedervereinigung erweckte einerseits das erneute Zugehörigkeitsbewusstsein zum Nationalstaat, andererseits war die Wende auch das Ereignis, durch das ein kollektives Subjekt der Ostdeutschen entstanden sein muss, das sich, auch wenn für kurze Zeit, mit keinem Staatssystem identifizieren lässt. Wie kam das kollektive Identitätsbewusstsein der Ostdeutschen, das nicht mehr von der institutionellen Basis der DDR geprägt, aber auch noch nicht in die BRD integriert war, zur Sprache? Konnte die Auseinandersetzung mit so einem instabilen Zustand trotz der wirtschaftlichen Schwierigkeiten eine kritische Perspektive gegenüber der Ordnung des Nationalstaates in die Öffentlichkeit bringen? Davon scheint in den herrschenden Diskursen nur selten gesprochen zu werden, in denen eine Polarisierung auf die offizielle, meistens staatlich geführte Aufarbeitung der SED-Diktatur und auf die Ostalgie in den Massenmedien zu beobachten ist. Einen alternativen Ansatz dazu bietet die Literatur. Als ein Beispiel dafür interpretiere ich Heinz Czechowskis Essay von 1991, in dem sowohl die Identifizierung mit der DDR als auch die mit der BRD vermieden wird. Heinz Czechowski, der 1935 in Dresden geboren ist und in der DDR zum Dichter wurde, veröffentlichte diesen Essay unter dem Titel Im Schatten des Denkmals in der Zeitschrift neue deutsche literatur. Mein Augenmerk ist auf den Ort des Erzählens gerichtet, der immer im Vergangenheitsbezug steht. Auffällig sind Vokabeln wie Halbruine, Trümmer usw. Der Ort heißt Stötteritz, ein Stadtteil 1 Das Thema dieses Beitrags bildet einen Teil des Problemfeldes der Erinnerung in der Nachwendeliteratur, mit dem ich mich in meinem Dissertationsprojekt zum Thema Topographische Vergangenheitsbilder des sozialistischen,ostens in der Nachwendeliteratur beschäftige.

im Südosten Leipzigs, in dem das größte Denkmal in Deutschland, das Völkerschlachtdenkmal, steht. Dieses Denkmal wurde von 1898 bis 1913 als Erinnerung an die dort gekämpfte Schlacht im Napoleonkrieg von 1813 erbaut. Die hundert Jahre, die von der Schlacht bis zur Einweihung des Denkmals vergingen, zwingen die Besucher nicht nur zur Erinnerung an die Schlacht und deren Tote, sondern auch zur Erinnerung an die Bewegung des völkischen Nationalismus, der den Bau des Denkmals verwirklichte. Auch die Erbauer, vor allem der Deutsche Patriotenbund zur Errichtung eines Völkerschlachtdenkmals Leipzig, der dafür Geld sammelte, beabsichtigten, dass das Denkmal nicht nur an die Völkerschlacht erinnern, sondern auch zur Reaktivierung des verloren geglaubten Gemeinschaftsgefühls unter den Deutschen veranlassen sollte. 2 Der Erzähler in Czechowskis Text erinnert sich zwar sowohl an die Schlacht als auch an die Geschichte der Erbauung, aber nicht im Sinne der Absicht der Erbauer. Sondern diese wird kritisiert, gerade weil anlässlich der Wiedervereinigung von 1990 die nationalistische Bedeutung, die das Denkmal am Anfang hatte, plötzlich an Aktualität gewinnt. Der Erzähler erkennt solch eine Stimmung und lehnt sie ab. [ ] ich hoffe sehr, das vereinte Volk möge es [das Denkmal] nicht noch einmal zum Symbol von Deutschlands Einheit und Größe erheben. 3 So wird vor dem Nationalismus gewarnt. Das Wir, das der Erzähler verwendet, bezieht sich nicht auf die Gemeinschaft der Deutschen, sondern allein auf die Ostdeutschen: er sagt, Wir ehemaligen DDR- Bürger 4. Das heißt jedoch nicht, dass er sich mit der DDR identifiziert. Der Anspruch der staatlichen Ideologie der DDR, sich mit dem sozialistischen Arbeiter-und-Bauern-Staat zu identifizieren, wird für ungültig erklärt. Das Wir dieses Textes bezieht sich nicht auf einen Staat. Sein Zustand als Kollektiv ist so instabil, dass er als Zustand der Schizophrenie bezeichnet wird. 2 3 4 Peter Hutter: Die feinste Barbarei. Das Völkerschlachtdenkmal bei Leipzig. Mainz (Philipp von Zabern) 1990, S. 84. Heinz Czechowski: Im Schatten des Denkmals. In: ndl 9/1991, S. 58 59 a.a.o., S. 54. 151

Miyazaki Asako Ist das der Zustand der Schizophrenie, in dem ich lebe, ein ehemaliger DDR-Bürger und doch noch kein Bundesbürger, obwohl doch Sachsen eines der fünf neuen Bundesländer ist, denen ich angehöre? 5 Zwar erscheint es als eine notwendige Folge, dass sich bei den Ostdeutschen, vor allem der älteren Generationen, das Zugehörigkeitsbewusstsein als Bundesbürger erst später als die juristische Vereinigung etabliert, zumal wenn diese viel schneller durchgeführt wurde als erwartet. Trotzdem ist es schwierig, diesen instabilen Zustand festzuhalten und sprachlich zu artikulieren, was dieser Text versucht. Der Zustand der Schizophrenie wird hier nicht nur genannt, sondern auch in der Form des Textes verkörpert, der aus einem Prosateil und aus sieben in die Prosa eingefügten Strophenteilen besteht, womit das Ich des Textes in ein erzählendes Ich und ein lyrisches Ich geteilt wird. Der schizophrene Zustand kommt am stärksten in den fragmentarischen Versen zum Ausdruck, vor allem in der folgenden Stelle, wo selbst die Wörter zerteilt werden: [ ] Eigenheime, die Ihre Erbauer vergaßen. Na- Poleonstein, Mon- Archenhügel: Geschichte Als Wille und Vorstellung, die Welt. 6 Zwei Wörter werden hier getrennt: Napoleonstein und Monarchenhügel. Die beiden sind Neologismen und haben einen klaren Trennpunkt im Wort: Napoleon-Stein und Monarchen-Hügel. Im Gedicht werden sie jedoch anders entzweit. Die Trennung der Wörter sieht unnatürlich aus. Was ist die Funktion dieser Entzweiung der Wörter? Plastizität. Damit wird sichtbar, dass ein Wort andere Wörter enthält. Da Napoleon jetzt in zwei Zeilen, in Na und Poleon getrennt wird, tauchen die Wörter wie Pole oder Leon auf, die in dem einen Napoleon unterdrückt waren. Auch bei Mon-Archenhügel treten die Wörter wie Mon ( mein auf Französisch) oder Arche auf, sie beginnen ihre Anwesenheit zu behaupten. Die Bindekraft der Wortkonstruktion in Napoleon und Monarchen wird aufgehoben und die absolute Macht von Napoleon und dem 5 6 a.a.o., S. 56. a.a.o., S. 54 55. 152

Monarchen wird nun von den Anderen, von Polen, von Leon oder von der Arche, bedroht. Diese plastische Auflösung des Wortes verkörpert auf der sprachlichen Ebene gerade die Mobilität, die der Erzähler direkt vor diesen Versen der Identität gegenüberstellt. Dies passiert in Stötteritz. Das Viertel, in dem die Wohnung lag, die Höhle, die wir jetzt zu verteidigen haben gegen die vom Westen Andrängenden, die bezahlen werden, was wir bald nicht mehr werden bezahlen können, war das Terrain, das uns unserer Identität versicherte, die wir nun mit einer Mobilität werden vertauschen müssen, die uns fremd ist. 7 Die sprachliche Mobilität ist auch in der Konstruktion der Verse sichtbar. Phrasen und Sätze sind oft in mehrere Zeilen geteilt, indem die Kommas und die Doppelpunkte nicht am Ende der Zeile, sondern meistens in der Mitte gesetzt werden, damit der fließende Verlauf der Sprache gesichert wird. Auf der semantischen Ebene wird die Mobilität durch die abwechselnde Wiederholung von Erinnerung und Vergessen erarbeitet. An der Stelle, wo Napoleon und Monarch aufgelöst werden, funktioniert so eine mnemotechnische Dynamik. Das Schlachtfeld Bebaut im Gründerzeitstil und Mit Siedlungen: Eigenheime, die Ihre Erbauer vergaßen. Na- Poleonstein, Mon- Archenhügel: Geschichte Als Wille und Vorstellung, die Welt. Eine brennende Kugel (auch sie Erinnert an etwas, das Ich vergaß). Auf dem Eis Vor dem Bunker die Kinder von Breughel: Winterbilder, Die an die eigene Kindheit erinnern, so fern, Als hätte es sie Niemals gegeben. 8 7 8 a.a.o., S. 54. a.a.o., S. 54 55. 153

Miyazaki Asako In diesem lyrischen Teil werden die Verben erinnern und vergessen doppelt verwendet, und jedes Mal verwickeln sich Erinnerung und Vergessen. Eine brennende Kugel, das Objekt der beiden Verben, verkörpert Dinge, die wir immer vergessen, z. B. dass der Erdball eine brennende Kugel ist, und diese verfremdende Erinnerung führt zur Erinnerung an etwas. Die Erinnerung nähert sich hier dem Vergessen. Auch Kindheitsbilder sind vage, Als hätte es sie/niemals gegeben. Dies bringt ans Licht, wie diskontinuierlich die Erinnerung ist. Die Identität ist aber nichts anderes als das, was die Diskontinuität der Erinnerung eliminiert und deren Heterogenität nivelliert. Die Mobilität, die in diesem Text der Identität gegenübergesetzt wird, ist deshalb dadurch zu gewinnen, dass man sich nicht nur daran erinnert, was man vergessen hat, sondern gleichzeitig auch daran, dass man es einmal vergessen hat. So werden der Gründungsmythos eines Staates oder die Geschichte eines Volkes vermieden, die die heterogenen Vergangenheiten in eine fiktive Kontinuität bringen. Diese Mobilität, die wir bisher sowohl in der sprachlichen Bewegung als auch in den diskontinuierlichen Erinnerungen gefunden haben, basiert in Czechowskis Text auf der Darstellung von Stötteritz. Der Stadtteil liegt im Schatten des Denkmals, so der Titel, wo die zwei historischen Vergangenheiten spürbar werden, nämlich die Zeit der Errichtung des Denkmals und die Zeit der DDR. Das sind die Vergangenheit des Nationalismus und die des Sozialismus. Wenn der Erzähler die Geschichte vom Bau des Denkmals beschreibt, erinnert er sich auch an das, was in den Erzählungen des Vereinigungsmythos unterdrückt wird, nämlich an die Tatsache, dass die Sachsen 1813 auf der Seite Napoleons standen. Zwar hatte 1806 das Herzogtum Sachsen auf der Seite Preußens gegen Napoleon gekämpft, aber es trat dann dem Napoleonischen Rheinbund bei, weil es verloren hatte. Das Herzogtum Sachsen wurde im Rheinbund zum Königreich Sachsen erhoben und beteiligte sich an den Kriegen im Jahre 1813 auf der Seite Napoleons, nun als Gegner Preußens. Diese sächsische Geschichte kollidiert mit der Vereinigungslegende, dass die Deutschen alle zusammen um die Befreiung von Napoleon gekämpft hätten, und wird oft unterdrückt (z. B. auf der Internetseite des Fördervereins Völkerschlachtdenkmal e.v.). Bei Czechowski wird das aber erwähnt, und sogar betont, durch den Ausdruck Die Sachsen, die auch 1813 auf der falschen Seite standen. Darin zeigt sich die Ironie des Erzählers, dass es die Sachsen falsch machten, nicht nur 154

weil sie zu den Verlierern des Kriegs gehörten, sondern auch weil sie als Deutsche, die zusammen gegen Franzosen kämpfen sollten, einen ideologisch falschen Weg nahmen. Die andere Seite der zwiespältigen Historizität ist die Vergangenheit des Sozialismus. In der DDR wurde das Völkerschlachtdenkmal zum Symbol für die brüderliche Beziehung der DDR mit der Sowjetunion. Diese Umdeutung basiert aber auch darauf, dass die Preußen und die Russen auf der gleichen Seite gegen Napoleon kämpften, und dass Preußen die Geschichte Deutschlands vertritt, obwohl das Denkmal in Sachsen steht. Diese DDR-Deutung wurde allerdings schon etwas früher als der Zusammenbruch der DDR ungültig, sagt der Erzähler. Wichtig ist, dass bei Czechowski die Vergangenheit des Nationalismus und die des Sozialismus in Diskontinuität aufgerufen werden. Die Erzählung geht zwischen beiden hin und her, und so wird der Blickpunkt, der sich von beiden distanziert, gesichert. Die verschiedenen Vergangenheiten werden nicht in eine Geschichte integriert, sondern an einem Ort gesammelt, an dem Ort mit dem Denkmal. Bei Czechowski ist Stötteritz der Ort der Identitätsauflösung der Geschichte. Das Ich des Textes kann sich im Zustand der Schizophrenie auch nicht mit diesem Ort identifizieren. Der Erzähler gesteht sein ambivalentes Gefühl in Bezug auf Stötteritz und nennt es Haßliebe. 9 Zum Schluss zeige ich, dass diese Kraft der Ent-Identifizierung von Stötteritz auf der Wortebene schon am Anfang des Textes verkörpert wird. Dort findet die Auflösung des Ortsnamens Stötteritz statt. Stötteritz (St. Ötteritz), der Leipziger Höhenluftkurort des 18. Jahrhunderts, ist erstarrt; nichts pulsiert mehr bei minus 14 Grad im Schatten des Denkmals auf blutgedüngtem Boden. Das Dorf S., dessen Anger samt Marienkirche und Gutshaus noch zu sehen ist, war wie seine Nachbardörfer Mölkau, Baalsdorf, Holzhausen Zeuge der Schlacht, wenn auch nicht, wie diese, niedergebrannt. 10 [Unterstreichung von A. M.] 9 10 a.a.o., S. 54. a.a.o., S. 51 52. 155

Miyazaki Asako Was den Ortsnamen Stötteritz zu St. Ötteritz oder zu Dorf S. macht, ist die Kraft der Identitätsauflösung, die in diesem Text eingesetzt wird. Ein Personenname wie St. Ötteritz hat nichts mit der Herkunft des Ortsnamens Stötteritz zu tun, der sich vermutlich von einem altsorbischen Wort für seichter Acker auf Felsengrund oder Ähnlichem ableitet und aus dem etwa aus dem 14. Jahrhundert stammt. 11 St. Ötteritz ist also ein neuer Name, einer, der sich erst als Folge der Teilung des Ortsnamens manifestiert, so wie Pole und Leon in Napoleon. Durch eine weitere Teilung tritt dann die Bezeichnung Dorf S. auf, die an Anonymität gewinnt, und dennoch als Leipziger Stötteritz zu erkennen bleibt, das den Anger, die Marienkirche, das Gutshaus und das Denkmal hat und von den konkret benannten Nachbardörfern umgeben ist. Primärliteratur Heinz Czechowski: Im Schatten des Denkmals. In: neue deutsche literatur, 9/1991, S. 51 59. Sekundärliteratur Peter Hutter: Die feinste Barbarei. Das Völkerschlachtdenkmal bei Leipzig. Mainz (Philipp von Zabern) 1990. Bernd Rüdiger u.a.: Stötteritz. Eine historische und städtebauliche Studie. Leipzig (Pro Leipzig) 1996. Kirstin Anne Schäfer: Die Völkerschlacht. In: Etienne Francois, Hagen Schulze (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte. Bd. 2, München (C. H. Beck) 2001, S. 187 201. 11 Ernst Eichler, Elisabeth Lea, Hans Walther: Die Ortsnamen des Kreises Leipzig. Halle (VEB Max Niemeyer Verlag) 1960, S. 89 90; Ernst Eichler. Slawische Ortsnamen zwischen Saale und Neiße. Ein Kompendium. Bd. III, Bautzen (Domowina-Verlag) 1994, S. 258. 156