Saarländischer Rundf unk Fu n kh au s Hal ber g 66100 Saar br ü cken w w w.sr -on l i n e.de B ü c h e r L e s e Ein Magazin für Leserinnen und Leser SR 2 KulturRadio mittwochs, 19:15 20:00 Uhr SR 2 KulturRadio Programmgruppe Künstlerisches Wort / Literatur Dr. Ralph Schock Tel. 0681 / 602 2173 BUCHREZENSION Autor: Peter Buwalda Titel: Bonita Avenue Verlag: Rowohlt Rezensent: Katharina Borchardt Sprecher: + P. Buwalda Länge: 7 16 Produktionstermin: Juni 2013 Sendetermin: 16. August 2013 COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen
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Peter Buwalda: Bonita Avenue Eine Rezension Saarländischer Rundfunk (SR2) : Katharina Borchardt Redakteur: Ralph Schock Länge: 7:16 Sendetermin: 14.08.2013 Bibliographische Angaben: Peter Buwalda: Bonita Avenue. Aus dem Niederländischen von Gregor Seferens. Rowohlt-Verlag, 640 Seiten, 24,95 Euro. ***** Informationen für die Anmoderation: Peter Buwalda (41) ist in den Niederlanden ein Literaturstar. Bis vor zwei Jahren kannte man ihn noch überhaupt nicht, doch dann erschien sein Debütroman Bonita Avenue, und der schlug in Holland ein wie eine Bombe. Über 150 Mal ist Peter Buwalda seither mit seinem Buch aufgetreten (bei Diskussionsveranstaltungen, Lesungen etc.). Der Roman wurde schon über 300.000 Mal auf Niederländisch verkauft, was in einem so kleinen Sprachgebiet ein außergewöhnlicher Erfolg ist. Normalerweise werden neue Bücher auch in Holland nach wenigen Monaten bereits von nachdrängenden Neuerscheinungen aus den Regalen geschoben, doch Bonita Avenue liegt auch zwei Jahre nach Erscheinen noch immer stapelweise in den Buchhandlungen und an Bahnhofskiosken. Der Verkauf geht also weiter. Bei uns ist der Roman natürlich nicht so ein Knüller wie in den Niederlanden, aber er ist auch hier sehr erfolgreich. Rowohlt ist mit einer Erstauflage von 25.000 Exemplaren an den Start gegangen. Warum sich das Buch in den Niederlanden so gut verkauft hat, erklärt nun Katharina Borchardt. Sie hat auch mit dem Autor Peter Buwalda gesprochen. ***** In den Niederlanden ist Peter Buwaldas Debütroman Bonita Avenue ein Bestseller. Überhäuft mit Literaturpreisen und Rezensionen sind sich Leser und Kritiker zumindest größtenteils einig: Der Roman ist plastisch, mitreißend und dramatisch. Man kann nicht aufhören, ihn zu lesen, lautet das allgemeine Urteil. Diesen Erfolg hat der 41jährige Autor nicht erwartet: 1. O-Ton Peter Buwalda Dit succes... als je het zou hebben verwacht, dan was je gek eigenlijk en ook een beetje arrogant en ook megalomaan. Dat kan ja alleen maar achteraf konstateren maar waar je nooit van uit durft gaan - zeker niet als debutant! Nee, ik had hier nooit verwacht. Nee, echt niet! Voiceover Wenn ich mit diesem Erfolg gerechnet hätte, dann wäre ich ja größenwahnsinnig gewesen. Sowas kann man nur im Nachhinein zur Kenntnis nehmen, aber davon darf man als Autor niemals ausgehen schon gar nicht als Debütant! Nein, das hätte ich niemals erwartet. Auf den ersten Blick hat Peter Buwalda in seinem Debütroman Bonita Avenue Vieles verrührt, was ein wuchtiger Familienschmöker braucht: Lug und Trug, unterdrückte Triebe und schließlich das gewaltvolle Zerbersten einer Familie, das auch noch parallel zur Explosion einer Feuerwerksfabrik erzählt wird. Der Roman hat zahlreiche grelle Passagen, ist aber trotzdem alles Anderes als eine Kolportage. Dies liegt an seinen differenzierten Charakteren, seinem sprachlichen Niveau das auch die fulminante Übersetzung von Gregor Seferens wiedergibt und an seiner komplexen Verwebung dreier Erzählperspektiven.
Zentral in diesem Roman steht Siem Sigerius: Er ist ein brillanter Mathematiker und Rektor der Tubantia-Universität. Siem ist aber nicht nur Intellektueller, sondern auch Kraftprotz und Judokämpfer, den Aaron, der Freund seiner Stieftochter, sehr bewundert: 2. Zitat aus Bonita Avenue (S. 7) / Aaron Siem Sigerius war ein gedrungener, dunkel behaarter Mann mit einem Paar Ohren, auf das man unwillkürlich den Blick richtete; sie waren gekräuselt, sahen aus wie frittiert, und weil Aaron Judo gemacht hatte, wusste er, dass es Blumenkohlohren waren. Die bekam man davon, dass die groben Baumwollärmel ständig an ihnen entlangscheuerten, dass die Ohrmuscheln immer wieder zwischen harten Körpern und rauen Matten zusammengefaltet wurden, so sammelten sich Blut und Eiter zwischen dem Knorpel und der babyweichen Haut. Doch trotz seiner auffälligen Körperlichkeit ist Siem Siegerius ein fast asexuelles Wesen. Dies ändert sich erst, als er sich in eine Studentin verliebt und unbekannte Begierden in ihm aufkeimen. Mit ihnen kommt er nicht zurecht, die Beziehung geht in die Brüche, und Siem landet stattdessen Triebstau auf Pornoseiten im Internet. Einen Monat vor der realen Explosion der Feuerwerksfabrik in Enschede im Jahr 2000 wird Siem zum zahlenden Gast auf einer apart gestalteten Erotikseite. Erst nach einer Weile erkennt er, dass er dort in die Körperöffnungen seiner Stieftochter Joni schaut. Er ist außer sich und entdeckt, dass Joni die Bilder zusammen mit ihrem Freund Aaron gemacht hat. Mit den elftausend Abonnenten ihrer Seite sind die beiden heimlich reich geworden. Heimlich das ist das große Thema dieses Romans: Denn in der Familie Sigerius wird dauernd verheimlicht, vertuscht und gelogen. Der schöne Schein einer glücklichen Familie wird nicht nur nach außen, sondern auch innerhalb der Familie gewahrt. Deshalb hat auch Siems missratener leiblicher Sohn Wilbert keinen Platz in dieser Familie. Tochter Joni erinnert sich: 3. Zitat aus Bonita Avenue (S. 419f.) / Joni Mein Vater war allergisch gegen Wilberts ganze Art, das war nur allzu deutlich, aber von all seinen Verärgerungen schien eine besonders tief zu sitzen und dabei am wenigsten sichtbar zu sein: Wilberts, wie nennt man das, Zügellosigkeit? Ja, es war mehr als Hemmungslosigkeit. Seine Aggressivität, seine Faulheit, seine Entschiedenheit (seine Dummheit, wie mein Vater fand), darüber konnte man hervorragend streiten, darüber konnten sie sich mit offenem Visier die Köpfe einschlagen, nicht aber über dieses schlüpfrige und versaute Reden, dieses permanente Rasen seiner Hormone, das ging einfach nicht.
Mit dem verstoßenen Wilbert wird es übel enden, und mit Wilbert wird auch Siem untergehen. Peter Buwalda hat keine Angst vor Drastik und Dramatik, nicht einmal vor einem Kreissägenmassaker. Doch Spannung entsteht vor allem deswegen, weil sich die komplexen Verhältnisse innerhalb der Sigerius-Familie erst nach und nach enthüllen. Denn Buwalda erzählt die Geschichte aus drei Perspektiven: In jeweils voneinander geschiedenen Kapiteln sprechen Vater Siem, Tochter Joni und ihr Freund Aaron. Und sie tun dies teils aus der Er-, teils auch der Ich-Perspektive sowie teils in der Gegenwart und teils im Rückblick: 4. O-Ton Peter Buwalda Het kiezen voor die drie perspektieven heeft alles te maken met het watermolelcuul dat ze samen vormen. Aaron, Joni en Siem zijn heel erg op elkaar betrokken. Want Joni en Aaron hebben een liedesrelatie, dat is duidelijk. Joni en Siem, die zijn vader en stiefdochter, dat is ook heel sterk, die band. Maar Aaron en Sigerius, die hebben ook een sterke band, want Aaron is onder het invloed van het charisma van Sigerius en hij is zijn schoonvader. Voiceover Ich habe mich für diese drei Perspektiven entschieden, weil Aaron, Joni und Siem in meinen Augen ein Wassermolekül formen. Die drei sind eng aufeinander bezogen: Joni und Aaron sind ein Paar. Siem und Joni sind Vater und Stieftochter, das ist auch ein starkes Verhältnis. Aaron steht schließlich sehr unter dem Einfluss von Siems Charisma. Und Siem ist natürlich sein Schwiegervater. Wenn ein Wassermolekül aufgespaltet wird wie bei Buwalda, wird Energie freigesetzt. In Peter Buwaldas Roman bleibt am Ende tatsächlich kein Stein auf dem Anderen. Diejenigen, die das Familiendesaster überlebt haben, hat es größtenteils ins Ausland katapultiert. Beschleunigt wird die familiäre Detonation auch durch die Explosion der Feuerwerksfabrik in Enschede, sagt Peter Buwalda: 5. O-Ton Peter Buwalda Het kan een soort katalysator zijn voor het hele boek op een metaforisch niveau, maar ook op een echt narratief niveau. Qua verhaal. Want heel veel dingen komen voort in het verhaal uit het feit dat die vurrramp er is geweest. En ik woonde, toen die plaats vond, ook in Enschede en ik kende ook de sfeer daar heel goed omheen: Het ging een half jaar lang. Waar je ook was, als je in een café zou zitten, hoorde je aan dat tafeltje praten. En als je ging luisteren, dan ging het over de vuurwerkramp. De hele stad was in de ban van de vuurwerkramp. Ik vond het ook wel gepast en realistisch en mooi, als die vuurwerkramp zo n indirekte invloed had op dat gezin. Voiceover Die Feuerwerkskatastrophe wurde zu einem Katalysator für das das ganze Buch. Auf metaphorischer, aber auch auf narrativer Ebene. Denn viele Dinge gehen ja erst aus dieser Katastrophe hervor. Ich wohnte damals übrigens auch in Enschede, und wohin man auch ging, zum Beispiel in ein Café, da sprachen die Leute am Nebentisch noch ein halbes Jahr später über die Feuerwerkskatastrophe. Die ganze Stadt war im Bann dieses Unglücks. Ich fand es dann sehr passend und realistisch, diese Katastrophe auch einen indirekten Einfluss auf die Familie Sigerius ausüben zu lassen.
Aaron geht danach nach Belgien, die dominante Joni fegt die Katastrophe sogar bis in die USA. Sie arbeitet schließlich als Produzentin bei einer Pornofirma, nennt sich Joy und hat alles hinter sich gelassen. 6. Zitat aus Bonita Avenue (S. 99) / Joni Im San Fernando Valley haben die Leute keine Eltern. Auch ihren kleinen Sohn überlässt sie ihrem Exmann. Kann man eine Familie wirklich hinter sich lassen? Sich neu erfinden? Und dann vielleicht eine Familie neu zusammenwürfeln? Auch diese Frage spielt Peter Buwalda, der selbst in einer Patchwork-Familie aufgewachsen ist, in seinem Roman an mehreren Figuren durch. Bonita Avenue ist in diesem Sinne eine beklemmende Anti-Familiengeschichte und ein niederländischer Gesellschaftsroman zugleich. Die Splatterszene, in die die Geschichte mündet, hat sensiblere Leser in den Niederlanden abgeschreckt. Peter Buwalda belässt es nicht bei der genauen Analyse der Sigerius-Familie. Er lässt es richtig krachen. Wer davor keine Angst hat, wird diesen Roman nur noch ungern aus der Hand legen.