Die nach der Äbtissin Hildegard von Bingen (1098 1179) benannte



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Transkript:

107 Arzneimittel der komplementären Medizin, REICHLING, MÜLLER-JAHNCKE, BORCHARDT (HRSG.), 2001 Govi-Verlag, Eschborn HILDEGARD-MEDIZIN Die nach der Äbtissin Hildegard von Bingen (1098 1179) benannte»hildegard-medizin«stellt eine neuere komplementäre Heilmethode dar, die in den 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts von den deutschen Ärzten Gottfried Hertzka und Wighard Strehlow vorgestellt wurde. Bis zu dieser Zeit kannten die lateinisch abgefassten und veröffentlichten Werke Hildegards fast nur Historiker und Theologen. Erst die Übersetzungen einiger dieser Werke ins Deutsche durch M. Böckeler, H. Schipperges, A. Führkötter und P. Riethe machten Hildegards Theologie und medizinisch-pharmazeutische Vorstellungen einem breiteren Publikum zugänglich. Die Neunhundertjahrfeier des Geburtstages der gelehrten Äbtissin im Jahre 1998 erneuerte und vertiefte einerseits die historisch-kritische Diskussion um die Stellung Hildegards in ihrer Zeit, zeigte andererseits aber auch, dass sich die»hildegard-medizin«als komplementäre Heilmethode großer Beliebtheit erfreut. DER LEBENSLAUF HILDEGARDS Hildegard von Bingen wurde 1098 als Tochter der fränkischen Adligen Hildebert und Mechthild von Bermersheim geboren. Als zehntes Kind der Familie nach mittelalterlichem Denken sozusagen als»zehnte«(also eine Steuerabgabe) für das geistliche Leben bestimmt, kam das Mädchen in die Obhut von Jutta von Sponheim, der Tochter des begüterten Grafen Stephan von Sponheim, der mit der Familie von Bermersheim bekannt oder vielleicht sogar verwandt war. Mit einer dritten Gefährtin gründeten sie eine Frauenklause nahe dem Benediktinerkloster auf dem Disibodenberg, in die sie am 1. November 1106 feierlich einzogen. Die Mitgift, die Hildegards Eltern dem Kloster von Disibodenberg zukommen ließ, sorgte für eine angemessene Versorgung der Tochter. Die drei Frauen legten noch im Jahre ihres Einzugs in die Frauenklause das Gelübde ab und wurden Benediktinerinnen den Schleier empfingen sie standesgemäß aus der Hand des Bischofs Otto von Bamberg. Mit Unterstützung des Mönches Volmar konnte sich die kleine Frauenklause durchsetzen, und Hildegard erhielt Unterricht im Lesen und Schreiben. Dabei erwarb sie Kenntnisse der Bibel sowie der Kirchenväter und fand auch Zugang zu säkularen wissenschaftlichen Schriften. Bald vergrößerte sich die kleine Frauenklause, da weitere junge Nonnen

Arzneimittel der komplementären Medizin, REICHLING, MÜLLER-JAHNCKE, BORCHARDT (HRSG.), 2001 Govi-Verlag, Eschborn 108 in die Benediktinerinnengemeinschaft aufgenommen wurden. Nach dem Tode Jutta von Sponheims am 22. Dezember 1137 wurde Hildegard zur neuen»meisterin«auf dem Disibodenberg gewählt. Wie zu dieser Zeit durchaus üblich, fanden lediglich adlige Jungfrauen Zugang zum Konvikt, was Hildegard späterhin Kritik von anderen Benediktinerinnen einbringen sollte. Das Jahr 1141 stellt einen Wendepunkt im Leben Hildegards dar, da sie nun erstmalig Visionen empfing, die sie wie folgt beschreibt:»aus dem offenen Himmel fuhr blitzend ein feuriges Licht hernieder. Es durchdrang mein Gehirn und setzte mein Herz und die ganze Brust wie eine Flamme in Brand; es verbrannte mich, war aber heiß, wie die Sonne den Gegenstand erwärmt, auf den ihre Strahlen fallen«(koring 1998). Zudem habe sie eine Stimme gehört, die sie aufforderte:»sage und schreibe, was du siehst und hörst!«mit dem Abfassen des»liber scivias«(wisse die Wege) setzt das visionäre Schrifttum der Äbtissin ein, die zunächst zögerte, diese Visionen anderen mitzuteilen. Doch unterstützt vom Mönch Volmar, der von 1141 bis 1173 Hildegards Berater und Sekretär war, und der gebildeten Nonne Richardis von Stade, begann Hildegard, die Visionen aufzuzeichnen. Von Zweifeln gequält, wandte sie sich 1146/47 in einem Brief an den einflussreichen Bernhard von Clairvaux (1091 1153), um von ihm geistlichen Beistand zu ihren Visionen zu erbitten. Obgleich Bernhard zurückhaltend reagierte, wurde Hildegard in ihrem visionären Auftrag unterstützt, da ihre Schriften auf der Synode von Trier unter dem Vorsitz des Papstes und Zisterziensers Eugen III. (1145 1153), an der auch Bernhard von Clairvaux teilnahm, geprüft und beglaubigt wurden. Bald eilte Hildegard der Ruf einer»prophetissa germanica«, also einer deutschen Prophetin, voraus, und sie wurde zu einer Person des öffentlichen Interesses. Rat Suchende pilgerten zum Kloster ABBILDUNG 15 DAS KLOSTER RUPERTSBERG ZUR ZEIT DES DREISSIGJÄHRIGEN KRIEGES VOR DER ZERSTÖRUNG DURCH DIE SCHWEDEN

Arzneimittel der komplementären Medizin, REICHLING, MÜLLER-JAHNCKE, BORCHARDT (HRSG.), 2001 Govi-Verlag, Eschborn Disibodenberg, und die Politiker und Gelehrten des 12. Jahrhunderts standen mit ihr in regem Briefwechsel. Unterdessen versuchte die anwachsende Frauengemeinschaft sich von den Mönchen auf dem Disibodenberg zu emanzipieren. Diesem Plan stand der Abt des Klosters keineswegs wohlwollend gegenüber, musste er doch im Fall des Wegzugs der Nonnen auf einen erheblichen Pilgerzustrom mit den damit verbundenen Pfründen verzichten. Trotz einer nervlichen Krise setzte sich Hildegard durch, und mit Hilfe der Markgräfin von Stade, Mutter der Mitschwester Richardis, erwarb sie 1147 auf dem Rupertsberg in der Nähe von Bingen Gelände für ein neues Kloster. Nach dem Bau erfolgte die Übersiedlung der Äbtissin mit 25 Nonnen in das neue Kloster, dessen Kirche am 1. Mai 1152 geweiht wurde. Nach anfänglichen Schwierigkeiten, die vor allem durch die Wegberufung der Nonne Richardis und finanzieller Auseinandersetzungen mit dem Kloster Disibodenberg gekennzeichnet waren, erblühte das Benediktinerinnenkloster auf dem Rupertsberg, das 1163 durch Kaiser Friedrich I., genannt Barbarossa, umfangreiche Privilegien erhielt. Trotz äußerlicher Schwierigkeiten empfing Hildegard weitere Visionen; seit 1148 beschäftigte sie sich zudem intensiv mit Gesängen, die der hochmittelalterlichen Gregorianik nahe stehen. Neben den naturkundlich-medizinischen Werken»Physica«und»Causae et curae«entwarf Hildegard eine Geheimschrift und beendet 1163 das Werk»Liber vitae meritorum«, das sich in Dialogform mit den Tugenden und Lastern befasst. Neben der Leitung eines großen Klosters und der Niederschrift der Visionen unterhielt Hildegard auf dem Rupertsberg eine umfangreiche Korrespondenz, von der über 300 Briefe überliefert sind. Während des Kirchenschismas von 1159 zeigte sich Hildegard zunächst abwartend, wechselte aber später auf die Seite der römischen Päpste. Oftmals wird von Reisen Hildegards berichtet, bei denen sie unter freiem Himmel vor dem Volk gepredigt haben soll; die neuere Forschung nimmt allerdings an, dass diese Predigten vornehmlich schriftlich fixiert und zur Unterweisung von Mitbrüdern und -schwestern gedacht waren. 1165 gründet Hildegard von Bingen in Eibingen oberhalb von Rüdesheim einen zweiten Konvent in einem Augustinerkloster, das seit 1148 bestand, jedoch verlassen worden war. Unablässig zwischen Rupertsberg und Eibingen pendelnd, schrieb die nunmehr 65-Jährige ihr drittes Visionswerk nieder, den»liber de operatione dei«(welt und Mensch). Nach unermüdlicher Tätigkeit verstarb Hildegard von Bingen 81-jährig am 17. September 1179 in ihrem Kloster auf dem Rupertsberg; ihre letzte Ruhe fand sie in der Abtei der Kirche ihres Klosters. 1660 wurden die noch vorhandenen Gebeine in das Kloster Eibingen überführt, wo sie heute noch bewahrt werden. Schon bald nach ihrem Tod gab es Bestrebungen, Hildegard heilig zu sprechen, zumal sie ihren Zeitgenossen bereits als»beispiel der Heiligkeit«galt. Indes scheiterten die Bemühungen um eine Heiligsprechung zwischen 1227 und 1243 daran, dass man keine genauen Namen von Geheilten und Zeugen der Wunder beibringen konnte. So unterblieb die feierliche Kanonisation Hildegard von Bingens bis heute. Dennoch wird sie hoch verehrt, und 109

110 vor allem an ihrem Todestag, dem 17. September, wallfahren viele Menschen zum Rupertsberg, um die»heilige«hildegard zu verehren. Arzneimittel der komplementären Medizin, REICHLING, MÜLLER-JAHNCKE, BORCHARDT (HRSG.), 2001 Govi-Verlag, Eschborn DIE MEDIZINISCHEN UND NATURKUNDLICHEN SCHRIFTEN HILDEGARD VON BINGENS Zurecht bemerkt die Bochumer Medizinhistorikerin und Apothekerin Irmgard Müller, eine der besten Kennerinnen des medizinisch-naturkundlichen Werkes von Hildegard von Bingen:»Noch immer ist die handschriftliche Überlieferung der naturkundlich-medizinischen Schriften Hildegards von Bingen weitgehend ungeklärt «(I. Müller 1998), und auch die beiden großen Hildegard-Jubiläen brachten neue Texteditionen nicht auf den Weg. Das Werk»Subtilitates diversarum naturarum creaturarum«, das wohl nur in Grundzügen von der Äbtissin niedergeschrieben worden ist, wurde schon bald nach ihrem Tod in einen»liber simplicis medicinae«und einen»liber compositae medicinae«aufgeteilt. In späterer Zeit wählte man die heute gebräuchlichen Bezeichnungen»Physica«(Naturkunde) für den»liber simplicis medicinae«(buch der einfachen Arzneien) und»causae et curae«für den»liber compositae medicinae«(buch der zusammengesetzten Arzneien). Von beiden Werken existiert in den europäischen Bibliotheken eine Anzahl von Handschriften, aus denen Karl Daremberg jeweils eine Leithandschrift für seine Ausgabe in den»patrologiae latinae«jean-paul Mignes auswählte und, in einem Band zusammengefasst, 1855 in Paris veröffentlichte. Dabei berücksichtigte Daremberg die lateinischen Ausgaben der»physica«, Straßburg 1533 (Editio princeps) und Straßburg 1544 (Nachdruck von 1533) nicht. In der Zwischenzeit tauchten weitere Handschriften mit Hildegard-Texten auf, die I. Müller 1982 und 1988 auflistete. Als bedeutsam erwies sich die Auffindung des»speyerer Kräuterbuchs«mit den Heilpflanzen Hildegard von Bingens, das B. Fehringer 1994 edierte. Auch die umfangreiche synoptische Arbeit von A. Müller (1997)»Krankheitsbilder im Liber de Plantis der Hildegard von Bingen (1098 1179) und im Speyerer Kräuterbuch (1456)«gibt weiteren Aufschluss über die Textzusammensetzung und Textkompilation der beiden medizinisch-naturkundlichen Bücher. Der Textedition bei Migne folgte eine Reihe deutscher Übersetzungen: So legte P. Riethe 1959 seine Übersetzung der»naturkunde. Das Buch von dem inneren Wesen der verschiedenen Naturen in der Schöpfung«vor, und M.-L. Portmann veröffentlichte 1997»Heilkraft der Natur Physica. Rezepte und Ratschläge für ein gesundes Leben«. Auch Hildegards Schrift»Causae et curae«wurde mehrmals übersetzt: Vom Altmeister der Hildegard-Forschung, H. Schipperges liegt die 1957 in Salzburg erschienene»heilkunde. Das Buch von dem Grund und Wesen der Heilung der Krankheiten«vor, und M. Pawlik veröffentlichte dasselbe Werk unter dem Titel»Heilwissen. Von den Ursachen und der Behandlung von Krankheiten der

111 Arzneimittel der komplementären Medizin, REICHLING, MÜLLER-JAHNCKE, BORCHARDT (HRSG.), 2001 Govi-Verlag, Eschborn ABBILDUNG 16 ST. HILDEGARD BEIM NIEDERSCHREIBEN IHRER OFFENBARUNGEN AUF DEM RUPERTSBERG hl. Hildegard von Bingen«(Augsburg 1990). Weniger aus den»causae et curae«als aus der»physica«schöpften die Autoren der»großen Hildegard- Apotheke«, Dr. Gottfried Hertzka und Dr. Wighard Strehlow, die 1989 in Freiburg erschien. Die Komplexizität der Textgeschichte dieser beiden Werke, auf die sowohl H. Schipperges als auch I. Müller immer wieder aufmerksam machten, fand in den Werken zur»hildegard-medizin«keine Rezeption, sondern zeigt vielmehr,» wie fragwürdig die bisher unter Hildegards Namen tradierte Textgrundlage des medizinisch-naturkundlichen Werkes ist«(i. Müller 1998). Als Forschungsstand kann festgehalten werden, dass die Texte»Physica«und»Causae et curae«zu den nichtvisionären Schriften Hildegards zählen, die in ihrer Textrezeption mannigfachen Veränderungen unterworfen waren. MEDIZINISCH-PHARMAZEUTISCHE VORSTELLUNGEN IM HOCHMITTELALTER Die reiche mediko-pharmazeutische Literatur der Antike war bekanntlich nur in Bruchstücken auf das frühe Mittelalter gekommen. Die»Regula sancti Benedicti«, die Benedikt von Nursia auf Monte Cassino für seine Mitbrüder als gültige Ordensregel gegeben hatte, sah eine karitative Be-

Arzneimittel der komplementären Medizin, REICHLING, MÜLLER-JAHNCKE, BORCHARDT (HRSG.), 2001 Govi-Verlag, Eschborn 112 handlung in sehr eingeschränktem Maße alleine für Mönche vor, da im mittelalterlichen Mönchtum die christliche Vorstellung galt, dass Krankheit eine Folge der Sünde und daher letztlich eine Strafe Gottes sei. So ist es auch verständlich, dass sich die in der Aufklärung abfällig als»mönchsmedizin«bezeichnete kurativ-medikale Medizin vor allem auf Ordensmitglieder erstreckte. Obgleich die Kirche fast ausschließlich an der Überlieferung der Schriften beider Testamente, der Kirchenväter und entsprechender Kommentare interessiert war, wandten sich einzelne Kleriker dennoch dem mediko-pharmazeutischen Schrifttum zu. Die aus der Antike bruchstückhaft überlieferten Texte von Galen, Dioskurides, Plinius und Pseudo-Apuleius wurden abgeschrieben und zum Teil auch kommentiert, so dass spätestens seit dem 9. Jahrhundert eine»mittelalterliche«medizinische Literatur vorlag, wie sie sich beispielsweise im»lorscher Arzneibuch«, dem»hortulus«des Walahfrid Strabo oder auch im St. Gallener Klosterplan zu erkennen gibt. Erst als zur Mitte des 12. Jahrhunderts, also zu Lebzeiten Hildegards, der ehemalige Kaufmann und Mönch Constantinus Africanus in Salerno, ins Arabische übertragene Texte antiker Autoren zu übersetzten begann, formte sich zögerlich ein zunächst wenig laizistischer, im Laufe der Zeit aber differenzierter Heilberuf der Arzt, dem wenig später der Apotheker folgen sollte aus. Die»Schule von Salerno«erlebte ihre Blüte jedoch erst zu Ende des Jahrhunderts, wie sich auch die Universitäten mit ihren drei Stammfakultäten Theologie, Jurisprudenz und Medizin im 13. Jahrhundert zu etablieren begannen. Vor diesem Hintergrund muss es als eine erstaunliche Leistung Hildegard von Bingens angesehen werden, die Kenntnisse ihrer Zeit zusammengefasst zu haben. Indes erfolgte die Niederschrift dieser Werke nicht im Hinblick auf das Laienpublikum, das weitgehend ohne ärztliche Hilfe auskommen musste; vielmehr sollten sie den Mitschwestern als Anleitung dienen, sich Grundzüge medizinisch-naturkundlichen Wissens anzueignen. So verwundert es auch nicht, dass sich Hildegards medizinische Vorstellungen nach der Vier-Säfte-Lehre, dem Makro-/Mikrokosmos-Schema und vor allem nach einer christlich gefärbten Heils- und Heilkunde richten. H. Schipperges hat darauf aufmerksam gemacht:»der Ganzheitlichkeit der Lebensordnungen in Hildegards Weltbild wird man erst gerecht werden, wenn man die Regularien der Lebensordnung eingeordnet sieht in den ganz konkreten täglichen Lebensstil.«(Schipperges 1998) Die mediko-pharmazeutischen Vorstellungen Hildegards erweisen sich als eine Summe antiker und mittelalterlicher Lehren zu Medizin und Diätetik (Lebenskunst), wobei die Krankheiten, die der Mensch in seinem Elend selbst verschuldet hat, letztlich nur durch geistliches Heil und Reue gemildert werden können. Dennoch beschreibt Hildegard in der»physica«heilmittel für körperliche und geistige Gebrechen. Die»Physica«ist traditionell aufgebaut und berücksichtigt die»tria regna naturae«(drei Reiche der Natur)»Vegetabilia«(Pflanzen),»Animalia«(Tiere) und»mineralia«(metalle und Mineralstoffe); hinzu tritt ein eigener Abschnitt über die vier Elemente und die (Edel)steine. Die»Vegetabilia«werden in Pflanzen und

Bäume gegliedert; das Tierreich erfährt eine Differenzierung in Fische, Vögel, allgemeine Tiere und Reptilien. Diese Aufteilung entspricht der mittelalterlichen Naturbeschreibung, wie man sie später auch bei Albertus Magnus und den Enzyklopädisten des Hochmittelalters wieder findet. Auch wenn Hildegards Quellen insbesondere im Abschnitt über die Pflanzen im Einzelnen nicht nachweisbar sind, so hat I. Müller es 1982 unternommen, einzelne Heilpflanzen zu identifizieren und Hinweise auf ihre antiken Textvorlagen zu geben. Hier muss beachtet werden, dass die Urfassung der»physica«nicht vorliegt und jede Transformation des Textes wie auch jede Übersetzung Gefahren birgt. Es ist also nicht wie bisher angenommen endgültig geklärt, ob die deutschen Synonyma und Begriffe in den lateinischen Text der»physica«wirklich von Hildegard von Bingen eingeführt worden sind oder ob es sich um spätere Zusätze handelt. Die Schwierigkeiten, die sich bei der Synonymik mittelalterlicher Pflanzennamen ergeben (Müller 1982) und die unsichere Tradierung hätten eigentlich Anlass geben sollen, sich den Arzneimitteln Hildegard von Bingens vorsichtig anzunähern. Doch diese Vorsicht wurde von den Protagonisten der»hildegard- Medizin«völlig außer Acht gelassen. 113 Arzneimittel der komplementären Medizin, REICHLING, MÜLLER-JAHNCKE, BORCHARDT (HRSG.), 2001 Govi-Verlag, Eschborn DIE HILDEGARD-MEDIZIN UNSERER ZEIT Nachdem die deutschen Übersetzungen der medizinisch-naturkundlichen Werke durch H. Schipperges und andere vorlagen, schufen die Ärzte Gottfried Hertzka und Wighard Strehlow die»hildegard-medizin«, die sie als ein»naturheilverfahren aus Empirie«bezeichnen, dessen»ungenützte natürliche Heilmittel«sie nutzen wollen. Ihr Werk»Die Große Hildegard- Apotheke«(1983) gilt ihnen als eine»echte Wald- und Wiesenapotheke«, deren Arzneimittel sie beschreiben und alphabetisch nach Befindlichkeitsstörungen oder Krankheiten ordnen. Die»Große Hildegard-Apotheke«beginnt mit dem Abschnit»Appetit«und gibt gegen Appetitmangel als Heilmittel aus den drei Reichen der Natur beispielsweise Diamant, Himbeerblätter, marinierten Karpfen, Kupferwein I und Pfeffer zu den verschiedenen Indikationen an. Das Werk endet mit»zähnen«und den bei Zahnbeschwerden empfohlenen Arzneimitteln Myrrhe, Aloe-Mischung, Salatkerbelwein, Salmknochenpulver, Wasser, Weinrebaschenlauge, Nachtschattenkraut und Wermut-Eisenkraut-Mischung. Wie bereits gezeigt, verwandte Hildegard von Bingen Arzneimittel aus allen»drei Reichen der Natur«, die der Materia medica (Arzneimittelschatz) der Antike entsprachen. Vor uns liegt also der Wissensstand des 12. Jahrhunderts, der für die heutige Medizin mit Unschärfen belastet ist: So stimmen wie Hertzka und Strehlow glauben machen wollen die lateinischen Kräuternamen nicht unbedingt und in jedem Fall mit der heutigen Nomenklatur überein. Auch die Krankheitsbezeichnungen Hildegards, die gleichfalls zeitbedingt sind, führen heute zu Unsicherheiten. So wird beispiels-

Arzneimittel der komplementären Medizin, REICHLING, MÜLLER-JAHNCKE, BORCHARDT (HRSG.), 2001 Govi-Verlag, Eschborn 114 weise»gicht«wie in der Antike als ein durch Schleim verursachtes»skelettleiden«angesehen. Diese mangelnde Präzision in der»hildegard-apotheke«mag größtenteils dadurch abgeschwächt werden, dass die Mehrzahl der pflanzlichen Drogen in ihren verschiedenen Zubereitungen durchaus mit irrationalen phytotherapeutischen Grundsätzen in Einklang zu bringen sind. Wenn aber unter dem Stichwort»Krebs«Anguillan, Birkhuhnkloakendarm, Roggenbrot und Schlehenkernpulver als Therapeutika angeführt werden, sollte der naturwissenschaftlich ausgebildete Pharmazeut entschiedene Zurückhaltung üben, auch wenn die Autoren meinen:»da lobe ich mir die Naturheilkunde. Sie ist oft klug genug, nicht klug zu sein und stellt lieber keine (klassische) Diagnose, wenn diese beispielsweise mit dem Omen der Unheilbarkeit verbunden wäre«(hertzka, Strehlow 1989). Auch bei der von Hertzka und Strehlow empfohlenen Edelsteinmedizin Hildegards ist Vorsicht geboten. Die Edelsteine zählten für Hildegard wie Pflanzen und Tiere zu den Heilmitteln, und sie glaubte wie viele gelehrte Ärzte vor und nach ihr an deren Wirkung. Inzwischen sind die Inhaltsstoffe jedoch bekannt, und man könnte sie allenfalls in der Spurenelement-Therapie einsetzen. Ob dies aber ausreicht, um die nicht billige Steinsammlung zur Hildegard-Edelsteinmedizin zu kaufen, muss dahingestellt bleiben. Die mystisch-prophetischen Visionen Hildegards mögen bei ihren Anhängern zu einer geistigen Katharsis führen, wie es auch Gebete oder Exerzitien können. Es kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass die diätetisch ausgewogene Ernährungslehre der Äbtissin, die vornehmlich auf dem Dinkel-Getreide beruht, im Sinne einer gesunden Lebensführung zur Vermeidung von Krankheit beiträgt. Dahingestellt bleiben mag ferner, ob die Arzneimittel aus dem Tier- und Pflanzenreich eine subjektive Wirkung auf den kranken Menschen entfalten können. Bei Fragen nach der objektiven Wirkung der von Hildegard von Bingen beschriebenen Phytopharmaka sollte der Apotheker indes jeden Ratsuchenden darauf hinweisen, dass nur die nach naturwissenschaftlichen Grundlagen der rationalen Phytotherapie erprobten Pflanzendrogen zum Einsatz kommen sollten.