SWR 2 Wissen Zelle mit Kinderbett



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Transkript:

SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR 2 Wissen Zelle mit Kinderbett Von Joachim Meißner Sendung: Donnerstag, 18.02.2016, 08.30 09.00 Uhr, SWR 2 Wissen Redaktion: Anja Brockert Regie: Maria Ohmer Produktion: 2016 Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Service: SWR 2 Wissen können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de Die Manuskripte von SWR 2 Wissen gibt es auch als E-Books für mobile Endgeräte im sogenannten EPUB-Format. Sie benötigen ein geeignetes Endgerät und eine entsprechende "App" oder Software zum Lesen der Dokumente. Für das iphone oder das ipad gibt es z.b. die kostenlose App "ibooks", für die Android-Plattform den in der Basisversion kostenlosen Moon-Reader. Für Webbrowser wie z.b. Firefox gibt es auch sogenannte Addons oder Plugins zum Betrachten von E-Books: Mitschnitte aller Sendungen der Redaktion SWR 2 Wissen sind auf CD erhältlich beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden zum Preis von 12,50 Euro. Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030 Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de

Atmo 1: Gefängnistor Frauengefängnis Preungesheim Ich stehe an der Pforte des Frauengefängnisses im Frankfurter Stadtteil Preungesheim. Besucher müssen hier ihr Handy abgeben, Beamte kontrollieren Ausweise und Taschen. Dann fährt das große, schwere Tor auf - und schließt sofort wieder hinter mir. Atmo 2: Fortsetzung Atmo 1 Im Inneren der Anlage empfangen mich meterhohe graue Betonwände, Kameras und doppelter Stacheldraht. Eine bedrückende Atmosphäre. Und dann, ganz unerwartet, nach ein paar Metern Fußweg über das weitläufige Gelände, schaue ich auf eine bunte Wand mit Kindermotiven. Einer meiner Begleiter, der Sozialpädagoge und Leiter des offenen Vollzugs, Klaus Hermes, folgt meinem überraschten Blick. Take 01: (Klaus Hermes) Das hat ein Künstler bemalt. Diese einzelnen Motive, die wir hier sehen, die sieht man auch nochmal später in den Zimmern. Wir haben den Künstler nochmal Schilder malen lassen mit denselben Motiven. Also mit der Lok oder den Zebras oder den Pandas und dann hängen wir das jeweils an die Zimmer, dass die Kinder sich ein bisschen identifizieren mit ihrem Zimmer und dem, was sie da an der Mauer sehen. Deshalb bin ich hier: hinter diesen Mauern wachsen Kinder auf, keine sechs Jahre alt. Ihre Mütter sind verurteilte Straftäterinnen. Atmo 3:Schließgeräusche, Schlüssel, Tür fällt ins Schloss, darüber: Ansage: Zelle mit Kinderbett. Mütter hinter Gittern. Eine Sendung von Joachim Meißner. Take 02: (Klaus Hermes) Wir sind hier im geschlossenen Mutter-Kind-Heim. Hier haben wir fünf Plätze für Mütter mit jeweils einem oder maximal zwei Kindern. Im geschlossenen Mutter-Kind- Heim sind Gefangene untergebracht, die aus bestimmten Gründen nicht nach draußen können, sondern fest in der Anstalt drin bleiben müssen. Klaus Hermes lädt mich zu einem Rundgang durchs Haus ein vorbei an den Mitarbeitern des Vollzugsdienstes, die hier zivile Kleidung tragen. So wird versucht, die Gefängnisatmosphäre auch im geschlossenen Mutter-Kind-Heim zumindest zu mildern. Take 03: (Klaus Hermes) So, jetzt sind wir in der oberen Etage. Hier ist der Wohnbereich, hier gibt's nur eine kleine Küche, um nachts noch schnell Fläschchen zu bereiten, hier kann man nicht kochen, oder mit der Mikrowelle was zu wärmen. Hier ist der Wohnbereich, Fernsehraum, den die Frauen nutzen können. Und die Zimmer, die zeige ich Ihnen 2

mal. - Hier sind jetzt aber auch Gitter dran? - Da sind jetzt Gitter dran, weil man da natürlich die Fenster kann man öffnen, da sind Gitter dran. Gitter im Flur da kann man nur hoffen, dass die Kleinen davon noch nichts mitbekommen. Im geschlossenen Mutter-Kind-Heim dürfen Kinder nur bis zum Alter von drei Jahren untergebracht werden. Im offenen maximal bis zur Schulpflicht. Take 04: (Zu Beginn mit Atmo: Aufschließen, Schlüsselklimpern) Die Zimmer sehen alle ähnlich aus. Haben alle keine Gitter, aber ein ziemlich dickes Glas, was sich nicht öffnen lässt. Man kann rausgucken, aber keinen Kontakt nach außen hin aufnehmen, also verbalen Kontakt. Auf den etwa 20 Quadratmetern stehen ein Bett, ein Tisch und ein Schrank für die Mutter sowie ein Wickeltisch, ein Kinderbett und ein kleiner Kühlschrank für Kindernahrung. Dazu eine Regalwand für Windeln, Puder oder Cremes. Und eine Waschgelegenheit. Take 05: (Klaus Hermes) Was wir nicht haben, was in anderen Abteilungen der Fall ist, wir haben keinen eigenen oder privaten Fernseher zugelassen im Mutter-Kind-Heim. Wir wollen nicht, dass der Fernseher zum Babysitter wird. Das geschlossene Mutter-Kind-Heim hat auch einen Spielplatz und einen Garten. Den können die Frauen mit ihren Kindern nutzen, wenn sie Freizeit haben und ein Bediensteter da ist. Im Unterschied zu den übrigen Insassinnen im geschlossenen Vollzug. Sie dürfen nicht einfach mal im Hof an die frische Luft, sondern müssen warten, bis man ihnen für den täglichen Hofgang aufschließt. Und es gibt noch einen Unterschied: Take 06: (Klaus Hermes) Am Abend wird die Haustür zugemacht, aber jedes Zimmer bleibt offen. Die Frauen haben einen Schlüssel für ihr Zimmer, können sich einschließen oder können es auch lassen. Die Frauen werden nicht eingeschlossen im Zimmer. Insbesondere der Grund ist: die Kinder werden nicht eingeschlossen. Im Frankfurter Frauengefängnis wird viel dafür getan, dass die Kinder unter möglichst ähnlichen Bedingungen wie außerhalb der Mauern aufwachsen. Das ist ein Kraftakt für alle Beteiligten. Immerhin müssen die Interessen und Anforderungen zweier Institutionen in Einklang gebracht werden: Die Haftanstalt muss für den Vollzug der Strafe sorgen, die Gefangenen kontrollieren, überwachen, notfalls auch disziplinieren und ihre Resozialisierung im Auge haben. Das Mutter-Kind-Heim hat vor allem das Wohl des Kindes im Blick und muss alles für seine gedeihliche Entwicklung tun, denn die Kinder sind keine Gefangenen. Warum aber lässt man Mutter und Kind überhaupt zusammen in einem Gefängnis leben? Die Antwort von Klaus Hermes führt zu Helga Einsele, die nach dem Krieg die Leiterin des Frankfurter Frauengefängnisses war. 3

Take 07: (Klaus Hermes) Der Ursprung des Ganzen war, dass Frauen hier in Frankfurt - Frau Einsele war Anstaltsleiterin - Kinder bekommen haben und sie zu der Erkenntnis kam, dass eine Trennung von Mutter und Kind für die weitere Entwicklung des Kindes schädlicher sind, als wenn man das Kind erst mal bei der Mutter lässt. Und so hat sie dann ab 47-48 schon angefangen, vereinzelt Frauen, die während der Haft ihre Kinder entbunden haben, bei der Mutter zu lassen. Erst mal nur in einem begrenzten Zeitraum, später immer länger und immer weiter, bis man das irgendwann in eine Konzeption eingebunden hat und sozusagen das erste Mutter-Kind-Heim errichtet hat. Helga Einseles Engagement sorgte dafür, dass sich das Mutter-Kind-Heim in Frankfurt etablierte. 1910 bei Halle geboren, wurde die Juristin und engagierte Demokratin von den Nationalsozialisten 1935 wegen politischer Unzuverlässigkeit aus dem juristischen Dienst gedrängt. Von 1947 bis 1975 leitete sie das Frauengefängnis. Gemeinsam mit Frankfurter Bürgern, die sich zu einem Förderverein zusammenschlossen, setzte sie sich für das Heim ein. Unterstützt wurde das Projekt von Hilda Heinemann, der Frau von Bundespräsident Gustav Heinemann. 1975 wurde das Heim eröffnet. Warum sie diese Einrichtung wichtig und notwendig fand, hat die 2005 verstorbene Helga Einsele in mehreren Interviews erklärt. Ihr Ausgangspunkt war zunächst die Verachtung, die vor allem weiblichen Gefangenen in den 1950er und 60er Jahren entgegenschlug. Und das nicht nur an Stammtischen, wie die streitbare Juristin schon kurz nach Amtsantritt erfahren musste. In einem Interview mit dem Hessischen Rundfunk erzählte sie 1992: Take 08: (Helga Einsele) Ich bin an einem der ersten Monate mit dem Generalstaatsanwalt, der damals in Frankfurt war, in ein heftiges Gespräch geraten. Der war der Meinung, jeder, der eine Freiheitsstrafe verbüßen muss, muss voll aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden, man kann ihn ja dann später wieder aufnehmen. Also das war die Grundhaltung, die sich natürlich im Umgang mit den Frauen ausdrückte. Die man für schlecht hielt sehr häufig, denen man auch ohne Sensibilität vor allen Dingen begegnete. Die wurden alle mit du angeredet, sie wurden mit Nachnamen angeredet. Also es war, die Grundhaltung hatte doch etwas Menschenverachtendes. Darum haben wir uns mal als erstes gekümmert. Auch Helga Einseles Gedanke, dass Mütter und Kinder im Strafvollzug nicht getrennt werden sollten, sorgte für heftigen Widerstand. Die Professorin erkannte darin vor allem ein für die Zeit typisches paternalistisches Denken: Take 09: (Helga Einsele) Es war so, dass es für einen Mann undenkbar war, dass Kinder im Gefängnis aufwachsen. Und wir stellten uns auf den Standpunkt, es ist wichtiger für ein Kind eine Mutter zu haben, als Gitter vor den Fenstern zu haben. Wir haben also sehr lange es nicht durchsetzen können. Haben es dann ein bisschen auf Brechtische oder Schweijksche Methoden durchgesetzt. 4

Diesen Geist trägt der Förderverein bis heute weiter. Das scheint auch bitter nötig, denn die Haltung mag sich geändert haben, kaum aber die Probleme und Defizite der Frauen und Mütter. Schicksale, die Ortrud Georg-Pathe, Vorsitzende des Vereins, und Klaus Hermes aus vielen Begegnungen und Gesprächen mit Frauen kennen. Take 10a: (Ortrud Georg-Pathe) Das ist kaum vorstellbar: Kinder, die keine Dusche kennen, die kein warmes Zimmer hatten, die keine geregelten Mahlzeiten so wie so nicht. Es gab immer wieder Frauen und es gibt auch Frauen, die mit den Kindern, ja die keinen festen Wohnsitz hatten, die mit den Kindern auf der Straße gelebt haben oder am Flughafen. Take 10b: (Klaus Hermes) Es gibt Frauen, die bekommen ihr erstes Kind hier während der Haft und die Erzieherin oder die Sozialarbeiterinnen müssen sich intensiv bemühen, sozusagen die Basics der Kinderpflege weiterzugeben. Das geht so weit, dass die Erzieherinnen mit der Frau üben müssen, wie man ein Kind hält, üben müssen wie man ein Kind wickelt, wie man ein Fläschchen gibt und dass man ein Fläschchen nicht irgendwie gibt, indem man das Kind ablegt in einem Kinderwagen und eine Konstruktion baut, wo der Körperkontakt fehlt, also wo man das Fläschchen sozusagen über eine Konstruktion dem Kind zu führt. Wie kommt es zu solchen Verhaltensweisen? Immer wieder heißt es, dass Frauen, die Täterinnen sind, oft auch Opfer waren. Ortrud Georg-Pathe kennt einige solcher Fälle. Take 11: (Ortrud Georg-Pathe) Es gibt sehr viele Frauen, die aus zerrütteten Familien kommen, es gibt Frauen, die schon selbst sexuell vom eigenen Vater missbraucht wurden, wo die Mutter alkoholabhängig ist. Also Frauen, die eigentlich überhaupt kein Familienleben kannten, da gibt es sehr viele. Wie kann man dabei helfen, eine von Gewalt, Demütigung und Straftaten geprägte Biografie wieder ins Lot zu bringen auch damit sie dem Kind nicht schadet? Im Frauengefängnis unterstützen unter anderem Erzieherinnen und Ehrenamtliche die Straftäterinnen. Take 12: (Ortrud Georg-Pathe) Wir bieten ( ) Gespräche an, Psychologen, Seelsorger kümmern sich, Ehrenamtliche machen Betreuung. Die Frauen haben die Chance, einen Schulabschluss nachzuholen oder eine Berufsausbildung zu absolvieren. ( ) Die Kinder lernen Fürsorge, Wärme, ( ) gestillt zu werden, wann sie abends ins Bettchen gehen, dass sie in die Badewanne gesetzt werden. ( ) Und sie bekommen irgendwo eine stabile Mutter, von der sie nicht getrennt werden und das ist ja eigentlich das Wichtigste. Denn jede Mutter, die mit Kind bei uns ist, ist viel leichter zu therapieren als Frauen, die alleine sind. 5

Das klingt so, als ließen sich die Resozialisierung der Mutter und die Förderung des Kindeswohls ganz gut in Einklang bringen. Doch Klaus Hermes warnt vor einfachen Schlussfolgerungen. Take 13: (Klaus Hermes) Wobei man immer sehen muss, dass das Kind kein Vehikel für die Resozialisierung der Mutter sein soll. Die Mutter kriegt von uns Unterstützung, dass sie draußen in der Gesellschaft wieder Fuß fassen kann. Aber wir können nicht das Kind allein als Instrument nehmen, dass das funktioniert. Nur Mutter sein alleine reicht nicht aus, um künftig sozusagen ohne Straftaten leben zu können. Die Frauen sollen an sich arbeiten, damit sie später ihr Leben draußen meistern, ohne wieder in Konflikt mit dem Gesetz zu geraten. Dazu gehört auch - aber eben nicht nur - zu lernen, wie man sein Kind versorgt, eine Bindung zu ihm aufbaut und es erzieht. Ein Mutter-Kind-Heim kann hierbei eine wichtige Funktion übernehmen. In zehn deutschen Gefängnissen gibt es derzeit eine solche Einrichtung. Manche im offenen, manche auch im geschlossenen Vollzug. Helga Einseles Beispiel hat Schule gemacht. Vielleicht auch wegen einer Erfahrung, mit der sie gar nicht gerechnet hatte. Take 14: (Helga Einsele) Und wir haben außerdem noch - und das war eigentlich ein Abfallprodukt, was wir kaum erwartet hatten - zufällig festgestellt, dass diese Mütter ja gar nicht rückfällig geworden sind. Da wurde von 50 Frauen, die auf diese Weise mit ihren Kindern gelebt hatten, eine einzige Frau rückfällig. Offenbar war es doch stabilisierend auch für das Leben der Mütter, dass sie diese Aufgabe der Kinder beibehalten haben, dass sie ihnen gestärkt worden ist im Vollzug. Aktuelle Studien zur Rückfallquote von Insassinnen des Mutter-Kind-Heims gibt es bislang nicht. Im Frankfurter Frauengefängnis sitzen momentan 240 Straftäterinnen ein, vier davon mit ihren Kindern im geschlossenen Mutter-Kind-Heim. Der fünfte Platz ist für eine Inhaftierte reserviert, die gerade schwanger ist. Die Straftaten der Mütter reichen hier von Raub über Drogenkriminalität bis zu Tötungsdelikten. In der offenen Mutter-Kind-Einrichtung sind gerade zehn Straftäterinnen und zwölf Kinder untergebracht. Hier sind Frauen inhaftiert, die vor allem wegen Diebstahls, Betrugs oder Drogenbesitz verurteilt wurden. Oder sie wurden aus dem geschlossenen Vollzug hierher verlegt, weil sie einen Großteil ihrer Strafe abgesessen haben. Der offene Vollzug soll sie auf ihre Entlassung vorbereiten. Grundsätzlich werden hier nur Kinder aufgenommen, die noch nicht in die Schule gehen. Das soll auch verhindern, dass die Kinder mit unangenehmen Fragen ihrer Mitschüler konfrontiert werden. Im geschlossenen Vollzug liegt die Altersgrenze noch niedriger. Take 15: (Klaus Hermes) Wir wollen nicht dass, die Kinder älter als drei Jahre im geschlossenen Mutter-Kind- Heim werden, weil wir glauben, dass dann sozusagen der Radius zu klein ist, dass die Einschränkungen, die so ein Strafvollzug mit sich bringen, auf die Kinder sich übertragen. Daher nehmen wir Kinder nur bis zum dritten Lebensjahr auf. 6

Der Tag beginnt in beiden Heimen mit einem gemeinsamen Frühstück. Mütter, Kinder und Erzieherinnen sitzen zusammen und besprechen anstehende Arzttermine, Besuche von Verwandten, aber auch Konflikte. Dann gehen die Mütter aus dem geschlossenen Vollzug zur Arbeit im Gefängnis. Ihre Kinder werden in die Kindergruppe im offenen Mutter-Kind-Heim gebracht mit dem Bus. Beide Einrichtungen sind zwar Teil der JVA, liegen aber weit auseinander. Regie: Atmo 5: Kindertoben Im offenen Mutter-Kind-Heim treffe ich an diesem Tag zum ersten Mal auf Kinder. Zwei Jungs in bunten Kinderlatzhosen und geringelten Pullis begrüßen Klaus Hermes begeistert und rennen mit lautem Geschrei auf ihn zu. Klar, ein Mann ist hier eher die Ausnahme! Die Räume sehen aus wie in einer ganz normalen Kinderkrippe: Fenster ohne Gitter, bunte Farben, Kinderstühle und kleine Tische aus Holz. Die Mütter können die Strafanstalt verlassen, um einer Arbeit außerhalb nachzugehen, um die Kinder kümmern sich zwei staatlich geprüfte Erzieherinnen. Auf der Terrasse fallen mir Tretautos auf. Take 16: (Klaus Hermes/Ortrud Georg-Pathe) Polizei- und Bobbycars sind natürlich ganz wichtig. Werden die auch angenommen? Sehr beliebt sind die, sehr! Werden die auch vom Verein angeschafft? Ja, ja, das haben wir komplett finanziert. Das sind halt zusätzlich Dinge, und da werden wir als Verein gefragt, ob wir einen Zuschuss geben können und da wir ja Bußgelder bekommen, für den guten Zweck sie wieder auszugeben, haben wir dann natürlich die Möglichkeit, Dinge davon zu kaufen, die dann aber wiederum von der Anstalt ausgesucht werden. Der Frankfurter Förderverein finanziert Spielzeug, Ausflüge und Fortbildungskurse. Er ist der einzige in Deutschland, der sich inhaftierter Mütter und ihrer Kinder annimmt. Er hilft nicht nur mit, die Räume freundlicher zu gestalten, sondern will auch die Beziehungen zwischen Müttern und Kindern stärken, erklärt mir Ortrud Georg- Pathe. Mir waren die Engelchen aufgefallen, die in den Fluren hängen. Take 17: (Ortrud Georg-Pathe) Das sind Sachen, die werden gebastelt in der Therapie für die Mütter, damit die Mütter auch eine Beschäftigung haben und selbst angeregt werden, auch mit den Kindern mal was zu basteln. Damit sie wissen, wie es geht und welche Möglichkeiten es gibt. ( ) Das haben die Frauen gebastelt in Anleitung mit den Erzieherinnen. Und es gibt noch mehr Angebote für die Mütter. Take 18: (Klaus Hermes) Im letzten Jahr hatten wir das große Thema Ernährung. Da hatten wir eine Zahnärztin da, die natürlich eine große Rolle gespielt hat. Dann hatten wir eine Dame da, die den Umgang mit Geld versucht hat zu vermitteln. Und dann haben wir noch ein bisschen Ernährungslehre gemacht, von jemandem vom Gesundheitsamt, um ein 7

bisschen reinzukriegen. Die Köchin legt natürlich Wert darauf, dass die Ernährung auch einigermaßen gesund ist, dass nicht so viele Süßigkeiten da sind. Oder Fastfood. Das Thema Ernährung der Kinder ist ein großes Thema im Mutter- Kind-Heim, erfahre ich, und unter Umständen auch konfliktreich. Take 19: (Klaus Hermes) Wir hatten vor einigen Jahren eine amerikanische Frau mit ihrem Sohn. Die war relativ lange im geschlossenen Mutter-Kind-Heim und war dann später auch hier im offenen Mutter-Kind-Heim. Und die Mutter hatte große Angst, dass ihr Sohn sich so sehr der deutschen Küche annähert. Das Lieblingsessen von dem Jungen war nämlich Leberwurstbrot und die Mutter ist, nachdem sie in den offenen Vollzug verlegt worden ist, am ersten Tag bei ihrem allerersten Ausgang sofort zu McDonald's und hat dann mit Schrecken festgestellt, dass der Junge überhaupt keine Hamburger mag. Und ist tatsächlich zum amerikanischen Konsulat und hat sich dort beschwert darüber, dass der Sohn nicht vernünftig verpflegt wird bei uns. Das Konsulat rief dann an und ich musste einen Plan schicken, was es alles zu essen gibt. Es gab natürlich deutsche Küche und seine Leberwurstbrote konnte er abends weiter essen, aber der Mutter war das nicht so recht. Hinter dieser Anekdote wird ein tieferes Problem deutlich. Was ist, wenn Mütter, Erzieherinnen und Bedienstete unterschiedliche Vorstellungen davon haben, was die Kinder tun und lassen sollen? Obwohl die Mütter das Sorgerecht haben, sind sie in ihrer Autonomie eingeschränkt. Das wird nicht nur beim Thema Essen deutlich, sondern auch wenn es um die Frage geht, welche Werte dem Kind vermittelt werden sollen. Take 20: (Klaus Hermes) Es gibt Mütter, die schon auch sagen, diese Pädagogik, die Sie da versuchen beizubringen, ist nicht die, die ich meinem Kind zuteil kommen lassen will. Eine Mutter hat mir mal gesagt: Sie erziehen hier mein Kind zum Mittelstands-Mann und das ist nicht die Gesellschaft, in der er sich behaupten muss. Ich brauche andere Sachen als das, was Sie ihm beibringen wollen! Das zeigt, in welchem Zwiespalt die Erzieherinnen und das Vollzugspersonal stecken: sollen sie ihre Vorgaben als allgemeingültig vertreten und durchsetzen, oder ist man auch bereit, individuelle Erziehungsvorstellungen der Mütter zu akzeptieren? Diese Frage stellt sich im geschlossenen Vollzug noch dringender, wie ich später erfahre. Aber zunächst habe ich ein Gespräch mit einer Strafgefangenen, Leyla Smaali. Das ist der Name, auf den wir uns für das Interview geeinigt haben. Frau Smaali ist Freigängerin und arbeitet in einem Kindergarten. Sie hat selbst zwei Töchter, vier und fünf Jahre alt. Ganz offen erzählt sie, warum sie hier ist. Take 21: (Frau Smaali) Mein Strafdelikt ist Betrug. Ich war mit meiner eigenen Bankkarte einkaufen, habe per Lastschrift bezahlt, sprich Unterschrift und ich habe aber gewusst, dass keine 8

Deckung auf dem Konto ist. Und das nennt sich dann Betrug. Ja und deswegen bin ich hier. Ihre Töchter, findet Frau Smaali, sind hier gut untergebracht. Während sie arbeitet, gehen die Mädchen einen öffentlichen Kindergarten draußen. Über Nacht sind sie bei der Mutter im Gefängnis. Am Wochenende gehen sie meist zu Verwandten. Vom Mutter-Kind-Heim würden die Töchter also nicht viel mitbekommen. Doch ganz so einfach, wie sie die Situation zunächst schildert, scheint sie dann doch nicht zu sein. Take 22: (Frau Smaali) Hier kommen Frauen und gehen und dann kommt manchmal die Frage von meinen Kindern, Mama warum ist denn die jetzt nicht mehr da, wo ist die denn, wo ist das Kind. Und dann sage ich: ja die wohnen halt nicht mehr hier, die sind jetzt wieder zu Hause. Dann heißt es, ja Mama wann gehen wir denn? Und das sind solche Momente, wenn die Kinder dann schlafen, wo ich schon Tränen vergieße muss ich ehrlich sagen. Zu den Schuldgefühlen kommt bei vielen Müttern Scham - und die Sorge, die Kinder schützen zu müssen. Einige Straftäterinnen im offenen Vollzug verheimlichen daher außerhalb, wie und wo sie gerade leben. Auch gegenüber ihren Kindern vermeiden viele das Wort Gefängnis. Frau Smaali geht zwar offener damit um, aber so ganz hat sie sich auch gegenüber ihren kleinen Töchtern nicht getraut, das G-Wort zu benutzen. Take 23: (Frau Smaali) Die haben mich einmal gefragt und ich habe gesagt: wir sind in einem Mutter-Kind- Heim. Und dann habe ich auch gesagt, wir müssen halt erst mal hier bleiben und das dauert ein bisschen, bis wir wieder nach Hause gehen. Und seitdem muss ich ehrlich sagen, kamen auch keine Fragen. ( ) Also ich denke, die haben das vielleicht auch so akzeptiert oder einfach hingenommen, dass wir halt einfach hier sind. Frau Smaali wird bald entlassen. Sie freut sich darauf, ihre Zeit, ihre Aktivitäten, ihren Bewegungsspielraum mit den Kindern wieder selbst bestimmen zu können. Eine schwierige Zeit geht für die 35-jährige zu Ende. Und doch sieht sie ihren Aufenthalt im Gefängnis zu meiner Überraschung nicht nur negativ. Take 24: (Frau Smaali) Es ist auch ganz gut so, dass es so gekommen ist, wie es gekommen ist. Ich habe jetzt zum Beispiel hier gelernt: ich habe so und so viel Geld in der Woche. Und damit muss ich halt klar kommen. Und hier habe ich das in dieser Zeit gelernt mit 50 Euro in der Woche klar zu kommen. Warum hast du es zu Hause nicht machen können? Es scheint nicht selten und nicht nur in Frankfurt so zu sein, dass Inhaftierte die Haftstrafe als positiv für den eigenen Lebensweg deuten. Musikakzent 9

Gut 350 Kilometer südlich von Frankfurt liegt die JVA Aichach. Auch hier gibt es zwei Mutter-Kind-Abteilungen mit insgesamt 16 Haftplätzen. Hier kann ich eine Mutter aus dem geschlossenen Vollzug interviewen. Take 25 (Hilli) Für mich selber, ich komme mit der Haft relativ gut zurecht, weil es hat halt natürlich nicht nur negative Seiten. Natürlich der Freiheitsentzug ist blöd. Ich wäre natürlich auch lieber mit meinem Kind draußen. Aber hier drin hat man halt eben doch auch einerseits Unterstützung, die sich Außenstehende vielleicht gar nicht so vorstellen können. Aber ich habe hier eben Therapie, ich habe einen Tagesablauf, was bei mir auch ganz wichtig ist, das brauche ich, weil sonst lässt man halt schnell was schleifen. Also ich habe hier schon gute Unterstützung. Hilli auch sie heißt in Wirklichkeit anders - ist eine noch sehr junge Frau. Heute endet ihr Mutterschutz. Arbeit und Schule liegen vor ihr, sie will während der Haft ihren qualifizierten Hauptschulabschluss nachholen. Ihr Vergehen: schwere Körperverletzung. Sie hat sich nicht im Griff gehabt, sagt sie. Die Folge: geschlossener Vollzug. Da war sie bereits schwanger, im 2. oder 3. Monat. Nach der Entbindung kam sie in die Mutter-Kind-Abteilung. Das Kind ist für sie eine große Motivation, nicht mehr rückfällig zu werden. Take 26 (Hilli) Da draußen da löst man viele Probleme mit Alkohol, mit Drogen, so in der Art. Das geht hier drinnen nicht. Hier drinnen wird man halt mit seinen Gefühlen, mit seinen Problemen konfrontiert und muss sich damit auseinandersetzen. Und da versuche ich halt, das mit der Therapeutin zu klären: wie kann ich was machen. Weil ich auch nach der Haft auf jeden Fall nicht in mein altes Muster verfallen möchte. Dann mache ich einen Fehler und dann ist mein Kind weg. So gesehen und das möchte ich nicht. Atmo Auch die beiden Mutter-Kind-Einrichtungen in Aichach sind in hellen, freundlichen Farben gehalten, es gibt Kindermöbel, Spielzeug, engagiertes Personal. Im geschlossenen Vollzug sind die Mütter jedoch stärker von den Erzieherinnen abhängig und müssen viel Vertrauen zu ihnen haben. Schon bei der Frage, wann ein Kind zum Arzt muss, kann es zu Differenzen kommen. Die inhaftierte Frau darf nicht selbst mit ihrem kleinen Sohn oder ihrer kleinen Tochter zum Doktor gehen, das müssen die Erzieherinnen übernehmen. Der Zeitpunkt hängt davon ab, ob genug Personal da ist - und ob sich überhaupt alle darüber einig sind, dass das Kind ernsthaft krank ist und behandelt werden muss. Im geschlossenen Vollzug, das wird hier deutlich, brauchen die straffälligen Mütter und vor allem ihre Kinder eine noch intensivere Betreuung. Und für Kinder, die hinter den Mauern aufwachsen und kaum Kontakt zur Welt außerhalb haben, können eigentliche Selbstverständlichkeiten zu einem verstörenden Ereignis werden: Take 27: (Hilli) 10

Ich find schon schön, dass mein Kleiner raus kann, auch wenn er nur zwei Monate bis jetzt ist. Aber die Mamas, die hier keine Familie draußen haben, die vielleicht aus einem anderen Land kommen oder so, die haben eben die Möglichkeit nicht. Und dann merkt man halt, wenn hier mal Männer vom Männervollzug vorbeilaufen, wie sie dann gucken, weil die kennen eben keine Männer. Das ist nicht so schön. Es ist dann was Neues, wenn die Kinder dann rauskommen. Solche Beobachtungen bestärken alle, die gegen Mutter-Kind-Einrichtungen im geschlossenen Vollzug sind. Aber ist die Trennung von der Mutter die bessere Lösung, die Unterbringung in Heimen oder bei Pflegefamilien? Viele der Mütter sind alleinerziehend, nicht selten sind die Väter nicht bekannt, zum Beispiel nach einer Vergewaltigung, oder sie sind selbst straffällig geworden und sitzen ebenfalls ein. Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter hat bereits 1986 darauf verwiesen, dass die Trennung eines Kindes von seiner Bezugsperson also zumeist der Mutter in den ersten Lebensjahren der Persönlichkeitsentwicklung erheblich schaden kann. Darüber wird immer wieder diskutiert. Erzieherinnen wie Sandra Stadler von der JVA Aichach bemühen sich darum, dass die Kinder möglichst viel vom Leben draußen erfahren. Take 28: (Sandra Stadler) Wir versuchen Einkaufssituationen, Alltagssituationen zu erleben, dass man Enten füttern geht, dass man Autoverkehr sieht, dass man Leute auf der Straße beobachten kann. Und haben als Ergänzung auch noch eine Ehrenamtliche, die sich immer speziell um ein Kind annimmt und für regelmäßige Besuche abholt, wo jetzt ganz klar ist, das Kind hat keine Familienangehörigen oder Familienangehörige können nicht hierher kommen, um das Kind abzuholen. Den pädagogischen Mitarbeitern, den Vollzugs-Beamten, den Jugendämtern, den Ehrenamtlichen: allen ist die Schwierigkeit bewusst, dass die Kinder keine Gefangenen sind und doch in einem Gefängnis leben. Es sind immer Einzelfallentscheidungen, ob ein Kind mit zur inhaftierten Mutter darf. Dass es seine ersten Lebensjahre in einer Mutter-Kind-Abteilung im Gefängnis verbringt, ist sicher nur die zweitbeste Möglichkeit. Doch unter Umständen kann es auch eine Chance sein. Das hängt von den Müttern ab - und von den Hilfen, die man ihnen gibt. Die Resozialisierung von Gefangenen und das Kindeswohl sind letztlich auch eine gesellschaftliche Aufgabe. * * * * * 11