D E R K Ö R P E R D E S M E N S C H E N D I E E R S T E N M I N UTEN L E B E N S B E DR O H L I C H E NO T F Ä L L E D E R T R AU M AP AT I E N T



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Transkript:

1 2 3 D E R K Ö R P E R D E S M E N S C H E N D I E E R S T E N M I N UTEN L E B E N S B E DR O H L I C H E NO T F Ä L L E 4 5 6 7 D E R T R AU M AP AT I E N T K R AN K H E I T E N U N D VERG I F T U N G E N SCHWANGERSCHAFT UND ÜBERRASCHENDE GEBURT N O T F Ä L L E I M K I N DE S AL T E R 8 9 10 NOTFÄLLE INFOLGE PHYSISCHER EINWIRKUNGEN P S Y C H I AT R I S C H E NOTFÄLLE V E R L AG E R U N G D E S PAT I E N T E N 9 11 12 13 14 15 K AT AS T R O P H E N D I E M E D I Z I N I S C H E N O T F AL L H I L F E T E C H N I S C H E S AN L AG E N W O R T E R KL Ä R U N G E N

PSYCHIATRISCHE NOTFÄLLE INHALT 9.1 Der Sanitäter und die dringenden psychischen Probleme 9.2 Selbstmord, Selbstmordversuch oder Selbstmorddrohung 9.3 Akuter Erregungszustand 9.4 Sonderfälle

P s y c h i a t r i s c h e N o t f ä l l e 9.2 9.1 Der Sanitäter und die dringenden psychischen Probleme Sanitäter werden regelmäßig mit Personen mit psychischen Problemen konfrontiert. In 4 auf 10 Fällen handelt es sich um Kranke mit einer echten psychischen Krankheit: Psychose, Schizophrenie oder Depression in einer akuten Phase. Es handelt sich um was Notfallpsychiatrie genannt wird. Aber am häufigsten geht es um Krisen infolge schwerer Beziehungskonflikte zwischen Personen. Oft handelt es sich um familiäre Probleme (zwischen Ehepartnern, Eltern und Kindern). Man spricht dann von Krisen situationen. Der Sanitäter ist nicht befugt, um zwischen den verschiedenen psychiatrischen Pathologien zu unterscheiden. Es gehört auch nicht zu seiner Ausbildung. In diesem Kapitel wird erklärt, wie der Sanitäter sich in solchen Situationen verhalten soll EINE PERSON IN DER KRISE Eine Person lebt nicht allein. In jeder Lebens- oder Arbeitsgemeinschaft gelten geschriebene und ungeschriebene Gesetze, Verpflichtungen, Rechte und Sitten. So wird unsere Gesellschaft geregelt. Es gibt auch Zwänge, mit denen bestimmte Individuen genau dann in Konflikt geraten, wenn sie Probleme mit sich selbst oder mit ihrer Umgebung haben. Ereignisse unterschiedlicher Art können eine Paarbeziehung, eine Familie, das Arbeitsmilieu, die Schule oder eine Gemeinschaft maßgeblich beeinflussen oder verändern. Eine Geburt, eine Krankheit, ein Sterbefall, eine Hochzeit, eine Scheidung, das Erwachsensein, die Pubertät, ein Umzug, eine Kündigung, die Arbeitslosigkeit verändern die zwischen menschlichen Beziehungen oder verursachen berufliche Probleme. Diese Ereignisse können sich so störend auswirken, daß es zur Krise kommt. Gewöhnlich sind solche Krisen schmerzhaft, aber sie sind nicht unbedingt etwas Negatives. Eine Krise ist in der Tat auch ein Zeitpunkt, an dem eine positive Veränderung möglich sein kann. PSYCHIATRISCHE NOTFÄLLE SIND KRISENSITUATlONEN Eine Reaktion auf eine Krise kann sein, daß jemand bestehende Regeln bricht. Dies kann sich in Form von Selbstmordgedanken, Angstzuständen

P s y c h i a t r i s c h e N o t f ä l l e 9.3 oder in Form von körperlichen Beschwerden und Krankheiten äußern. Eine Krise kann zu einen Alkohol- oder Drogenmißbrauch führen Manchmal machen Krisen gewalttätig oder aggressiv. Der Saratäter muß zwischen zwei Krisensituationen unterscheiden können: 1. Selbstmord, Selbstmordversuch oder Selbstmorddrohung; 2. akuter Erregungszustand.

P s y c h i a t r i s c h e N o t f ä l l e 9.4 9.2 Selbstmord, Selbstmordversuch oder Selbstmorddrohung Sanitäter haben manchmal mit Menschen zu tun, die gerade einen Selbstmordversuch gemacht haben oder die mit Selbstmord drohen. Das heißt aber nicht, daß diese Menschen wirklich sterben möchten. In den meisten Fällen handelt es sich um den letzten Hilferuf eines Menschen, der sich in einer Krise befindet. Er versucht verzweifelt die Aufmerksamkeit seiner Umgebung auf sich zu ziehen. Es handelt sich also nicht immer um einen mißlungenen Selbstmordversuch. V ER H AL T E N BEI E INEM S EL BS T MORD OD ER BEI EINEM SELBSTMORDVERSUCH Den Ernst der Lage beurteilen, indem die Vitalfunktionen des Patienten mit Hilfe der Primäruntersuchung überprüft werden. Sind die Vitalfunktionen nicht bedroht, können die notwendigen Maßnahmen zur Behandlung der Verletzungen ergriffen werden; im Fall von Erhängen das ABC-Protokoll anwenden und auf Halswirbelfrakturen achten. Die Maßnahmen bei Vergiftungsfällen werden in Kapitel 5 behandelt. Nach der Ersten Hilfe kann der Sanitäter den psychiatrischen Problemen mehr Zeit widmen. Diese Probleme gehören eigentlich zur Sekundäruntersuchung. Patienten, die einen Selbstmordversuch gemacht haben oder damit drohen, sollten ernst genommen werden. Der Sanitäter sollte davon ausgehen, daß der Patient sich wirk ich umbringen kann und daß er mit seinem Versuch nicht nur die Aufmerksamkeit auf sich lenken wollte. Es ist Aufgabe des Arztes zu bestimmen, in welchem Maße der Todeswunsch wirklich vorhanden ist. Der Patient muß immer zum Krankenhaus gebracht werden. Der Sanitäter allein darf nicht entscheiden, daß der Vorfall nicht schlimm ist. Ein Selbstmordversuch oder eine Selbstmorddrohung ist immer ernst zu nehmen. Es würde sich um grobe Fahrlässigkeit handeln, wenn einem Patienten, der eine Überdosis an Medikamenten eingenommen hat, erklärt wurde, "daß das Medikament nicht gefährlich ist und der Patient nur ein bißchen schlafen wird". Der Sanitäter kann weder die eingenomme Menge bestimmen, noch die Lage des Patienten schnell in ihrer Gesamtheit beurteilen. Er würde die Angehörigen hierdurch zu Unrecht beruhigen und es könnte die Gefahr bestehen, daß der Selbstmordversuch nicht ernst

P s y c h i a t r i s c h e N o t f ä l l e 9.5 genommen wird. Der Patient wäre somit seinem Schicksal überlassen, was ZU einem erneuten Versuch mit einer diesmal tödlichen Dosis führen könnte. MAßNAHMEN Der Sanitäter stellt sich vor: Ich bin Sanitäter Und heiße X. Ich werde Ihnen helfen... Ruhig bleiben und versuchen den Patienten zu beruhigen. Der Sanitäter ist ein Helfer und kein Richter. Zuerst dem Patienten zuhören und dann den Umstehenden, wenn diese etwas mitteilen möchten. Versuchen zu verstehen, wie das Problem begonnen hat, wer oder welche Umstände die Krise ausgelöst haben. Wer hat den 100 oder die Polizei gerufen? Beurteilen, wie erregt, aggressiv oder gewalttätig der Patient ist. Sind die Vitalfunktionen gefährdet, schnell entscheiden, ob der NAW angefordert werden muß. Ebenfalls beurteilen, ob Polizei benötigt wird, um die eigene Sicherheit und die der Umgebung zu sichern (bei Gewalttätigkeit oder bei Waffengebrauch). Immer neutral bleiben. Keine Partei ergreifen. Höflich und freundlich bleiben. Nie auf persönliche Attacken reagieren. Nicht auf Provokationen eingehen. Bedenken, daß der Patient krank ist und Hilfe braucht. WAS IST ZU VERMEIDEN? Keine übereilten Schritte. Keine Anwendung von körperlicher Gewalt zum Ruhigstellen des Patienten, bevor Dialog und beruhigender Zuspruch versucht wurden. Ruhig bleiben, nicht in Panik geraten. Sich nicht persönlich angegriffen fühlen. Keine erregten oder aggressiven Reaktionen Diese könnten nur die Angst und die Erregung des Patienten und des Umfeldes steigern. Niemals in der Öffentlichkeit eine Diagnose wie nervenkrank oder psychiatrischer Patient stellen. Der Sanitäter verfugt weder über die entsprechende Ausbildung, noch über die nötige Kompetenz. Darüber hinaus wurde der Patient so nur abgestempelt, was eventuell schwere Folgen für die Beziehungen zwischen Patienten und Familie oder Umgebung haben könnte. Stellt die Familie Fragen, kann der Sanitäter von Aufregung sprechen: wurden Medikamente eingenommen, kann er von einer Medikamentenvergiftung sprechen. Der Sanitäter soll sich nicht seiner Verantwortung entziehen. Er soll nicht erklären, er sei nicht für diese Sache zuständig. Er ist Sanitäter und die Öffentlichkeit erwartet von ihm, daß er hilft. Die Umstehenden erwarten keine Wunder, sondern Hilfe. Das Problem der Polizei oder Gendarmerie überlassen, ist nicht unbedingt eine gute Lösung.

P s y c h i a t r i s c h e N o t f ä l l e 9.6 9.3 Akuter Erregungszustand Der 100 wird regelmäßig zu Patienten gerufen, die plötzlich erregt, unruhig, aggressiv oder verwirrt sind. Der Notruf wird gewöhnlich nicht vom Betroffenen, sonder von seinen Mitmenschen ausgelost, die keinen Ausweg mehr wissen; manchmal rufen Polizisten oder Nachbarn den 100. Solche Situationen sind für den Sanitäter schwer zu meistern. Hinter den Verwirrungs- und Erregungszuständen können schwere Erkrankungen verborgen sein. Diese Krankheiten können das Leben des Patienten in Gefahr bringen. Es reicht also nicht, den Patienten ruhigzustellen und zu bezwingen Es muß immer eine schnelle Beurteilung der Vitalfunktionen vorgenommen werden, um die Möglichkeit einer darunter liegenden medizinischen Notlage ausschließen zu können. ERSTE MAßNAHMEN Auskünfte bei den Umstehenden oder bei der Polizei, wenn sie bereits vor 0rt ist, einholen. Das Umfeld beobachten. Wie hat die Erregung begonnen? Wer hat angerufen? Wie hat der Patient sich verhalten? Was sagt der Patient? Wurden bereits Medikamente verabreicht? Hat der Patient Drogen eingenommen? Hat er Alkohol getrunken? Die Personen, die den Patienten gefunden haben, wissen gewöhnlich mehr über die Umstände, die die Krise ausgelöst haben, und über das Verhalten des Patienten. Die Reaktion des Patienten beim Einschreiten der Polizei ist manchmal vielsagend. Die Angehörigen und die naheren Bekannten sind sehr gute Informationsquellen. Wie hat die Erregung begonnen? Sind andere Krankheitszeichen oder Beschwerden zu beobachten? Leidet der Patient an anderen Krankheiten? Befand er sich bereits in stationärer psychiatrischer Behandlung? Trinkt er? Nimmt er Drogen oder bestimmte Medikamente ein? Es ist äußerst wichtig, Auskünfte über die Krankheitsgeschichte des Patienten zu gewinnen. Diabetes kann bei Hypoglykämie (Unterzuckerung) (siehe Kapitel 6) zu einem Erregungszustand fuhren. Alkohol, Drogen oder Medikamente können einen Erregungszustand verursachen. Diese Auskünfte sind sehr wichtig für die Aufnahme und die Behandlung im Krankenhaus. Oft sind die Sanitäter die einzigen Helfer, die diese Auskünfte vor Ort sammeln können.

P s y c h i a t r i s c h e N o t f ä l l e 9.7 KOMMUNIKATION MIT DEM PATIENTEN Der Sanitäter soll immer versuchen, einen Dialog mit dem Patienten herzustellen. Auch wenn das Gespräch nur kurz dauert, so ist es von großer Wichtigkeit. Wenn möglich mit dem Patienten unter vier Augen sprechen. Die Umstehenden können, wenn auch unfreiwillig, die Atmosphäre des Gesprächs beeinflussen. Ruhig sprechen, ohne die Stimme zu heben, ohne zu drohen. Versuchen, die Ruhe zu verwahren, auch wenn die Lage besonders ungewöhnlich und bedrohlich ist. Ein erregter Patient ist besonders empfindlich für die Angst und die Aggressivität der Einsatzkräfte, die zahlreicher und somit, stärker sind. Der Sanitäter soll entschlossen, aber nicht aggressiv handeln. Auf diese Weise wird er Herr der Lage. Er muß wissen, was er will. BEURTEILUNG DER ERREGUNG In solchen Situationen können verschiedene Arten der Erregung unter schieden werden. 1. Nur der Patient ist erregt. Die Umstehenden sind nicht von dem Problem betroffen, außer daß sie durch das unverstandliche Verhalten des Patienten verwirrt sind. Hier entsteht überwiegend der Eindruck von einer Zusammenhanglosigkeit und Verwirrung, die sich auf den Patien- ten beschrankt Es ist ein Bruch mit der Realität festzustellen; der Patient hat den Kontakt mit der Wirklichkeit und seiner Umgebung verloren. Es handelt sich um ein Delirium, ein Erregungszustand, der für die Zuschauer unverständlich ist. 2. Die Erregung des Patienten und der Umstehenden wird durch einen offensichtlichen Konfliktherd oder durch einen erkennbaren Grund genährt. Es handelt sich um einen verständlichen Erregungszustand. 1. Unverständliche Erregung Man spricht von unverständlicher Erregung, wenn das Verhalten des Patienten völlig unzusammenhängend ist. Es besteht überhaupt kein Kontakt zwischen dem Patienten und seiner Umgebung, die Trennung scheint vollständig zu sein. Manchmal ist der Patient nur verwirrt, durcheinander, hat den Kopf verloren. Die Gedankengänge, die Handlungen und das Verhalten des Patienten haben keinen Zusammenhang. Die Umstehenden sind vor allen Dingen erschrocken und sind nicht Teil des Problems. In einigen wenigen Fallen wird die unverständliche Erregung durch eine Geistesverwirrung verursacht. In den anderen Fällen handelt es sich um ein Delirium. Die Verwirrung ist durch eine zeitliche und räumliche Orientierungslosigkeit gekennzeichnet: Der Patient weiß nicht, wieviel Uhr es ist, wo er

P s y c h i a t r i s c h e N o t f ä l l e 9.8 sich befindet und wer seine Angehörigen sind. Der Patient leidet an Gedächtnissstörungen und scheint zu träumen. Manchmal leidet er an visuelle und auditive Wahnvorstellungen. Er spürt z.b. elektrische Stromschläge oder riecht Gerüche, die nicht existieren. Einer erregten Person immer nur einfache Fragen stellen wie z.b. "Wo sind Sie?", "Welcher Tag ist heute? Welcher Monat? Welches Jahr?" Antwortet der Patient, so ist seine Antwort meistens falsch "Wir sind im Jahre 1914, wir sind im Theater." Diese Art der Verwirrung kann durch eine Vergiftung, einen Alkoholoder Drogenmißbrauch hervorgerufen werden. Die gleichen Phänomene können aber auch bei Alkohol- oder Drogenentzug auftreten. Häufig entsteht eine Verwirrung infolge von Krankheiten oder Verletzungen wie ein frisches Hirntrauma, ein epileptischer Anfall, eine diabetische Hypoglykämie, eine CO-Vergiftung, eine Hirnhautentzündung, hohes Fieber oder ein Herzinfarkt (durch die verringerte Sauerstoffversorgung des Gehirns). Ein Delirium ist an der großen Erregung des Patienten zu erkennen, er redet unentwegt und verhält sich theatralisch. Ein verwirrter Patient scheint erregt zu sein, ist aber vor allen Dingen in Raum und Zeit verloren und spricht wenig. Ein phantasierender Patient erzählt eine sonderliche und märchenhafte Geschichte: er sieht Dinge, die andere nicht sehen, hört etwas, was andere nicht hören und gibt seltsame Behauptungen von sich: "Man will ihn umbringen", oder "Man will was von ihm". Manchmal ist er größenwahnsinnig: "Ich bin Gottes Sohn", "Ich bin der König", "Ihr sollt Achtung vor mir haben". Phantasierende Patienten sind sehr selbst sicher. Die Wahnvorstellungen werden vom Patienten als real empfunden. Maßnahmen bei einer unverständlichen Erregung Überprüfen, ob Verletzungen oder Krankheiten vorliegen, die eine Erklärung für die Verwirrung sein könnten. Bei Schädelwunden, Diabetes oder anderen Erkrankungen werden die in den jeweiligen Kapiteln gezeigten Maßnahmen getroffen. Niemals die Situation eines Patienten mit einer unverständlichen Erregung ins Banale ziehen; sich niemals über den Patienten lustig machen Alles, was er erzählt, sollte sehr ernst genommen werden. Manche Patienten können plötzlich aggressiv werden, wenn sie einen Gesichtsausdruck, ein Lächeln oder ein Zeichen eines Umstehenden oder eines Helfers falsch interpretieren Zuerst mit dem Patienten sprechen. Versuchen, den Patienten davon zu überzeugen, daß ein Besuch im Krankenhaus notwendig ist. Ihm sagen, daß ihm nicht wehgetan wird. Ist ein Gespräch völlig unmöglich, wie bei schwerem Delirium oder bei schwerer Verwirrung, bleibt leider nichts anders übrig, als Verstärkung anzufordern. Mit dem herbeigerufenen Arzt zusammenarbeiten. Manch mal müssen die Sanitäter und der NAW die Polizei rufen, um den Patienten im Krankenwagen aufladen zu können.

P s y c h i a t r i s c h e N o t f ä l l e 9.9 2. Verständliche Erregung Bei einer verständlichen Erregung kann zwischen der Erregung und der vorgefundenen Krisensituation ein Zusammenhang hergestellt werden. Hier spielen die Konflikte zwischen Patient und Umgebung eine wichtige Rolle. Die Situation ist jedoch recht spektakulär und mit Geschrei, verbaler Gewalt und vielerlei Klagen verbunden. Die Umgebung ist stark von der Situation des Patienten betroffen. Sanitäter und Polizisten werden oft reichlich beschimpft. Häufig geht es um einen Familien- oder Ehestreit, der entartet und in Streitigkeiten und Schlägereien endet. Manchmal ist es gerade der theatralische Aspekt dieser Konflikte, aufgrund dessen der 100 gerufen wird. Eine der Konfliktparteien ruft den 100 und benutzt den Notruf als Argument gegen die andere Partei. Maßnahmen bei einer verständlichenerregung Bei einer verständlichen Erregung handelt es sich nicht um eine psychiatrische Krankheit. Die wichtigste Aufgabe der Sanitäter besteht darin, die Konfliktparteien zu trennen, ohne Partei zu ergreifen. (Vorsicht! Die Streitenden mochten, daß die Sanitäter oder das medizinische Team Partei ergreifen, was aber auf jeden Fall zu vermeiden ist.) Durch wohlwollendes, ruhiges und neutrales Zuhören erreicht man mehr als durch Verabreichung von Beruhigungsmitteln. Um die Krise zu losen, muß manchmal ein Arzt gerufen werden. Um den Streit zu beenden ist es manchmal notwendig, eine der Parteien ins Krankenhaus zu bringen. Hier ist eine Zusammenarbeit mit dem Arzt notwendig.

P s y c h i a t r i s c h e N o t f ä l l e 9.10 9.4 Sonderfälle TETANIEANFALL Die Tetanie ist ein ausgeprägter Muskelkrampf der Glieder oder des Gesichtes. Auslöser einer Tetaniekrise kann eine sehr seltene Kalziummetabolismus-Erkrankung sein. Aber die Mehrheit der Krisen entsteht infolge Streß. Der Patient klagt über Prickeln rundum den Mund und in den Gliedern; manchmal über Schmerzen, Herzklopfen, Schwitzen und Muskelkrampfe häufig von einer Hyperventilation mit Erstickungsgefühl begleitet. Bestimmte Personen zeigen ein klinisches Bild von Verkrampfungen die man Spasmophilie nennt. Der Krankenhaustransport oder das Unterbringen in einem ruhigen Ort genugt manchmal. TRUNKENHEIT ODER ALKOHOLVERGIFTUNG Es wurde bereits in Kapitel 6 über Alkoholvergiftungen gesprochen. Die Sanitäter haben of mit Trunkenheit zu tun. Diese geht anfangs mit einem Wortschwall, stereotypen Bewegungen und manchmal mit Erregung oder Gewalt einher. Anschließend geht die Trunkenheit in Verwirrung über und entwickelt sich eventuell zur Schläfrigkeit. Das Endstadium ist ein echtes Ethylkoma. Der Erregungszustand kann für den Patienten und die Umgebung gefährlich sein. Nie aus den Augen verlieren, daß diese Erregungszustände in Verbindung mit Alkohol gefährlichere Schädigungen wie eine Gehirnblutung oder einen Schadelbruch verdecken können. Manchmal kommt es bei schwerer Trunkenheit zu einer ernsten Hypoglykämie mit hypoglykämischem Koma. Die enthemmende Wirkung von Alkohol kann Trinker dazu bringen, sich selbst oder Umstehenden zu verletzen. HYSTERISCHE ERREGUNG Eine hysterische Erregung macht sich häufig auf lärmende und theatralische Weise bemerkbar, wird aber - meistens unbewußt - vom Patienten kontrolliert. Das Verhalten und die Blicke der Zuschauer bestimmen größtenteils den weiteren Verlauf der Krise. Man soll den Patienten nie-

P s y c h i a t r i s c h e N o t f ä l l e 9.11 mals reizen. Der Patient leidet unter einer schweren Störung und braucht Hilfe. Ohne Hilfe kann sich die Krise steigern und das Selbstmordrisiko zunehmen. Die Rettungsdienste können einen hysterischen Patienten nicht abweisen, weil dies schlimme Folgen haben kann. DER GEWALTTÄTIGE PSYCHOPATH Die meisten Psychopathen sind ungefährlich. In seltenen Fallen wird man jedoch mit einem gewalttätigen Verhalten konfrontiert, das meistens ohne erkennbare Vorwarnung ausbricht. Gewaltsame Psychopathen halten sich an keine sozialen Regeln und stellen für die Zeugen und die Helfer eine Gefahr dar. Wenn sich die Sanitäter nicht sicher fehlen, müssen sie die Ordnungshüter zum Schutze des medizinischen Teams anfordern. ABB. 9.4 ÜBE RWÄLTUNG EIN ES G EWALTS AM EN PAT I EN T EN I Den Patienten mit genügend Helfern gemäß einem vorher festgelegten Handlungsablauf einkreisen. 2 Will der Patient einen Helfer schlagen, weicht dieser vor der drohenden Bewegung zurück 3 Jeder Helfer faßt eine Gliedmaße, während der Einsatzleiter den Kopf des Patienten schützt 4 Der Patient wird am Boden festgehalten. 5 Die Gliedmaßen ruhigstellen, sich vor Bissen und Kopfstößen hüten.

P s y c h i a t r i s c h e N o t f ä l l e 9.12 ZUSAMMENFASSUNG VON KAPITEL 9 Einnahme von Medikamenten und/oder Alkohol oder eines anderen Giftstoffes Primäruntersuchung Beurteilung des Bewußtseins Beurteilung der Atmung Beurteilung der Herz-Kreislauf-Funktion Sekundäruntersuchung und Erkundung des Notfallortes Welche Medikamente oder Giftstoffe? Mit oder ohne Alkohol? Welche Mengen? Seit wann? Suche nach der Substanz vor ort (Arzneischrank, Mülleimer, Toilette). Verpackungen, Spritze, Tabletten mit zur Notaufnahme nehmen. GRUNDLAGEN ZUR SITUATlONSBESTIMMUNG 1. Unverständliche Erregungen Nur der Patient wirkt aufgeregt; seine Umgebung scheint nicht von dem Problem betroffen sein, ist aber verängstigt! Der allgemeine Eindruck ist der von Zusammenhang losigkeit, eines Bruchs mit der Normalität (Verworrenheit, Delirium). 2. Verständliche Erregungen Die allgemeine Erregung des Patienten und seiner Umgebung findet ihren Ursprung in einem deutlich erkennbaren Konflikt oder in einer gut lokalisierbaren Ursache. Es handelt sich um eine Krisensituation, die mit einem Normalzustand vergleichbar ist, aber mit übertriebe- nen Reaktionen. MAßNAHMEN Primäruntersuchung. Erkennen des Problemauslösers Mögliche Gewalt? NAW anfordern? Polizei? Verstärkung? VERMEIDEN Angst und/oder Erregung steigern. Aufgeben und sofort die Polizei anfordern. Patienten als geisteskrank oder als psychiatrischer Fall bezeichnen.