Gott, heute bin ich wieder zur Schule gegangen. Es war merkwürdig, wieder zur Schule zu gehen. Alle waren irgendwie merkwürdig. So still. Die Jungs haben auf die Tischplatte gestarrt. Die Mädchen haben Blicke getauscht. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. In den Pause haben wir Hinkelkasten gespielt, ohne uns zu streiten oder zu lachen. Es war so ein sicheres Gefühl, wenn Papa in den Pausen Aufsicht hatte. Er hat dann immer eine gelbe Weste getragen. Damit alle wussten, dass Papa aufpasst. Dann hat sich keiner getraut, mich zu ärgern. Oder was Dummes zu sagen. Wir haben Fangen gespielt und Spaß gehabt. Macht Papa jetzt die Pausenaufsicht im Himmel? Gott, Ich bin mir nicht sicher, ob ich zu dir beten will. Weil ich nämlich wütend auf dich bin. Mama hat gesagt, du bist mächtig. Aber wenn du so viel Macht hast, warum lässt du dann falsche Dinge passieren? Warum bist du so ungerecht? Mama hat doch gar nichts getan. Papa auch nicht. Du hättest mich bestrafen sollen, Gott. Warum hast du mich nicht bestraft? 5
Einmal habe ich eine Tafel Schokolade mitgenommen, ohne zu bezahlen. Man darf keine Schokolade stehlen. Das weiß ich wohl. Und ich weiß, dass es hässlich ist, zu lügen. Trotzdem habe ich öfter gelogen, als ich mich erinnern kann. Ist es meine Schuld, dass Mama und Papa gestorben sind? Hast du dich vielleicht geirrt? Wolltest du eigentlich mich bestrafen? Aber du hast mich und Oma und Opa leben lassen. Oma und Opa sind lieb. Du bist nicht lieb, Gott. Jedenfalls nicht zu mir. Mama hat mich oft mit in die Kirche genommen. In dein Haus. Da habe ich gelernt, zu dir zu beten. Ich habe gelernt, dass du alle Gebete hörst. Aber wenn du alle Gebete hörst, wieso mussten Mama und Papa dann sterben? Warum hast du das Schreckliche geschehen lassen? Der Pastor sagt, du wärest der Herrscher über den Himmel und die Erde. Und dass Mama und Papa jetzt im Himmel sind, obwohl sie in der Erde begraben wurden. 6
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Gott, heute bin ich wieder zur Schule gegangen. Es war merkwürdig, wieder zur Schule zu gehen. Alle waren irgendwie merkwürdig. So still. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Wir haben Hinkelkasten gespielt. Ich hatte Opa noch nie weinen sehen. Ich wusste gar nicht, dass er weinen kann. Er kam aus dem Krankenhaus. Er sagte, es sei ein Unglück geschehen. Mit Mama und Papa. Ich hatte solche Angst. Im Krankenhaus roch es seltsam. Es gab lange Flure. Weiße Kittel. Grüne Uniformen. Einen Laden, in dem man Blumen und Schokolade kaufen konnte. Wir sind nicht in den Laden gegangen. Opa ist mit mir durch die Flure gelaufen. Er ist schnell gelaufen. Mama lag in einem Bett. Oma saß auf einem Stuhl neben dem Bett. Ein Mann im weißen Kittel stand neben dem Bett. Er sagte zu mir, dass Mama mich gerne sehen wollte. Ich sah Mama an. Ich konnte sehen, dass sie Schmerzen hatte. Sie sah gar nicht aus wie sonst. Sie hatte eine Maske vor dem Gesicht. Der Mann in dem Kit- 8
tel nahm die Maske ab. Mama sah mich an. Sie lächelte. Dann setzte der Mann in dem weißen Kittel ihr die Maske wieder auf. Ich durfte in einem Zimmer mit ganz vielen Kuscheltieren schlafen. Da waren Tieger, I-Ah und Ferkel, aber ich konnte Pu nirgendwo entdecken. Vielleicht hatte er zu viel Honig geschleckt und Bauchschmerzen? Oder er lag in einem Bett mit einer Maske vorm Gesicht. Opa lief im Zimmer auf und ab, dann setzte er sich auf die Bettkante und streichelte mir übers Haar. Am nächsten Morgen haben wir Mama verloren. Genau so hat Opa es gesagt. Wir haben Mama verloren. Wir haben sie verloren, während ich geschlafen habe. Während ich von Pu geträumt habe. Opa ging in den Laden, bevor wir das Krankenhaus verließen, und kaufte eine große Tafel Schokolade für mich. Jetzt hast du nur noch Oma und mich, sagte er. Wir werden es gut zusammen haben. 9
Über Papa haben wir erst beim Abendessen gesprochen. Papa hatten wir auch verloren. Ihn hatten wir zuerst verloren. Gott, sind Mama und Papa jetzt Engel? Wohnen sie bei dir im Himmel auf einer Wolke? Wenn Mama und Papa Engel sind, schick sie doch bitte auf die Erde runter, damit sie auf mich aufpassen können. Mama kann für mich beten und Papa kann auf mich aufpassen. Haben Mama und Papa jetzt strahlend weiße Flügel, Gott? Und Trompeten? Ich weiß, wie Engel aussehen. Ich habe viele Glanzbilder von Engeln. Die glitzern so schön. Ich habe Jens mal eine Schachtel mit Glanzbildern geschenkt, als wir noch in den Kindergarten gingen. Da waren viele Engel dabei. Und ein Auto. Jens hat sich, glaube ich, nicht wirklich darüber gefreut. Das Auto hat er unter seinen Garderobenhaken geklebt. Die Engel habe ich nie wieder irgendwo gesehen. 10
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Im Kindergarten habe ich mal ein Spielzeugauto geklaut. Ein kleines rotes Plastikauto. Es steckte in meiner Hosentasche, als ich nach Hause kam. Mama war ganz traurig, als sie die Hose waschen wollte und das Auto in der Tasche fand. Sie hat nicht geschimpft. Aber sie wollte, dass ich das Auto wieder zurück in den Kindergarten bringe. Meine allererste Erinnerung ist ein Auto, das mit hoher Geschwindigkeit auf mich zurast. Ich hatte das Gartentor geöffnet und war auf die Straße gegangen. Das war eine gefährliche Straße, eine große Fernstraße. Ich erinnere mich noch genau an das Auto. Es war braun und der Fahrer hatte einen geblümten Sonnenhut auf dem Kopf. Papa meinte, ich hätte einen echten Schutzengel gehabt. Wäre ich sonst auch im Himmel? Gott, warum haben nur so wenige Menschen Schutzengel? Was ist mit all den anderen? Hast du keine Lust, auf die aufzupassen? Wieso hatte ich einen Schutzengel, Mama und Papa aber nicht? Papa konnte nicht auf sich selber aufpassen. Er musste versuchen, das Auto wieder unter Kontrolle zu bekommen. 12
Im letzten Jahr ist Jens Mutter gestorben. Sie hatte Krebs und war ziemlich schnell tot. Alle haben gesagt, ihr Tod wäre sinnlos. Nicht einmal der Pastor hat gesagt, dass er einen Sinn hatte. Was hast du dir dabei gedacht, Gott? Hättest du nicht einen Schutzengel schicken können? Kannst du das nicht entscheiden? Gott, war Mamas und Papas Tod auch sinnlos? Das will ich nicht glauben. Im Sommer hab ich ein Nest aus dem Baum genommen. In dem Nest lagen zwei Eier, die habe ich auf den Ufersteinen zertreten. Hinterher hat es mir leidgetan. Ich habe 13
geweint und es Papa erzählt. Papa meinte, es wäre gut, dass ich ihm das erzählt habe. Ich bin auf den Baum geklettert und hab das Nest wieder an seinen Platz gesteckt. Aber die Eier konnte ich nicht wieder heile machen. In der Schule haben wir was über Vögel gelernt. Der kleinste Vogel in unserem Land ist der Zaunkönig. Er heißt König, obwohl er so klein ist. Papa hat mir die Geschichte erzählt, wie der Zaunkönig zu seinem Namen kam. Als die Vögel einen König wählen wollten, hat der Zaunkönig sich im Gefieder eines Adlers versteckt, um sich hoch in die Luft tragen zu lassen. Und am Ende flog er sogar höher als alle anderen Vögel. Es waren Eier eines Zaunkönigs, die ich zertreten habe. 14
Papa wollte wissen, wieso ich die Eier zertreten habe. Das konnte ich ihm nicht beantworten. Ich hab es einfach getan. Das war völlig sinnlos. Gott, sind die Vögel deine Freunde? Sind die Vögel, die am höchsten fliegen, deine liebsten Geschöpfe? Hast du deshalb den Zaunkönig zum König gemacht, obwohl er der Kleinste von allen ist? 15
Ich habe einem deiner Freunde was Böses angetan, Gott. Ich habe zwei seiner Jungen zertreten. Hast du mir deshalb Mama und Papa weggenommen? Gott, zählen Vögel auch als Engel? Sind Mama und Papa jetzt Vögel? Vielleicht fliegen sie ja über Omas und Opas Haus und bauen ein Nest in unserem Garten. Und vielleicht legen sie neue Eier in das Nest des Zaunkönigs. Oma und Opa fragen mich, wie es mir geht. Ziemlich oft in den letzten Tagen. Ich weiß nicht genau, wie es mir geht. Ich bin traurig. Und nachts habe ich Angst. Am meisten Angst habe ich davor, irgendwann ganz alleine zu sein. Was ist, wenn Oma und Opa auch sterben? Was wird dann aus mir? Wir reden viel über Mama und Papa. Oma sagt, dass Mama und Papa jetzt im Himmel sind. Sie glaubt, dass es ihnen im Himmel besser geht als auf der Erde. Aber mir geht es auf der Erde nicht besser, seit Mama und Papa im Himmel sind. Im Gegenteil. 16
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