9 2 Der Graue Star = die Katarakt Ronald D. Gerste R. D. Gerste, Der Graue Star, DOI 10.1007/978-3-662-47282-8_2, Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
10 Kapitel 2 Der Graue Star = die Katarakt 2 Um gleich mit der Tür ins Haus zu fallen: Fast jeder bekommt den Grauen Star. Was auf den ersten Blick etwas unerfreulich wirkt, ist indes die Folge einer insgesamt positiven Entwicklung. In den Industrienationen liegt heute die durchschnittliche Lebenserwartung eines neugeborenen Mädchens bei mehr als 90 Jahren, die Lebenserwartung der Herren ist statistisch ein wenig kürzer. Wir erreichen heute mehrheitlich ein Alter, in dem eine Trübung der Linse geradezu unvermeidlich ist. Der deutsche Begriff Grauer Star hat nichts mit der Singvogelspezies zu tun, sondern kommt aller Wahrscheinlichkeit nach vom Verb»starren«. Er stammt aus dem Mittelalter, als die Zeitgenossen den Eindruck hatten, ein erblindeter Mensch starre sie an: Bei einem voll ausgebildeten,»reifen«grauen Star (den es heute dank der Möglichkeit rechtzeitiger Kataraktchirurgie in unserem Teil der Welt kaum noch gibt) erscheinen die Pupillen fast weiß und vermitteln den Eindruck, der Blinde würde sein gegenüber anstarren. Die Heilkundigen jener fernen Epoche glaubten noch mehrere andere Formen des Stars zu kennen. Während zum Beispiel der schwarze Star aus dem Sprachgebrauch verschwunden ist, hat sich der Grüne Star im Deutschen gehalten es ist das Glaukom, eine Erkrankung des Sehnervs, auf die an anderer Stelle eingegangen wird. Der Fachausdruck ist Katarakt und zwar die Katarakt! Die männliche Variante, der Katarakt, beschreibt Stromschnellen im Nil oder ähnlichen großen Flüssen. Dieser Terminus ist in viele Sprachen der Welt eingegangen, auch ins Englische, das auch für die Medizin und die medizinische Forschung die unangefochtene Weltsprache ist:»the cataract«. Die medizinische Terminologie hat weitere Bezeichnungen, mit denen die altersbedingte Linsentrübung von den anderen Formen abgegrenzt wird. Der lateinische Ausdruck lautet Cataracta senilis, was ein wenig unfreundlich klingt, da der Kataraktpatient keineswegs senil sein muss und es meist auch nicht ist. Im Deutschen sprechen Augenärzte auch vom typischen grauen Altersstar bzw. von der altersbedingten Katarakt. Schon in jungen Jahren beginnt die Linse ihre völlige Klarheit zu verlieren Dass die Linse im Auge sich verändert, ist kein auf das Seniorenalter begrenzter Vorgang. Schon in vergleichsweise jungen Jahren beginnt die Linse ihre völlige Durchsichtigkeit, ihre glasklare Erscheinung, zu verlieren. Ein 40- oder 50-jähriger Mensch hat meist eine leicht gelblich verfärbte Linse. Eine Einschränkung beim Sehen bedeutet dies in aller Regel nicht. In dieser Lebensphase macht sich die Linse auch bei Menschen, die bislang auf ihre»guten Augen«stolz waren, erstmals mit einem Problem bemerkbar. Der Ziliarkörper, der die Krümmung der Linse und damit die Scharfstellung des von uns wahrgenommenen Bildes auf wechselnde Entfernungen steuert, verliert an Kraft und die Linse an Flexibilität. Das wirkt sich bei der Fokussierung auf die Nähe aus. Es gelingt immer weniger, kleine Schrift zu entziffern. Eine Zeitung wird zum Beispiel mit ausgestrecktem Arm gelesen für diesen Vorgang der sog. Altersweitsichtigkeit, der Presbyopie, hat sich die scherzhafte Formulierung durchgesetzt, dass»die Arme zu kurz«werden. Es ist Zeit für die erste Lesebrille, mit der man der Linse und damit dem Auge bei der Scharfeinstellung auf die Nähe hilft. Mit zunehmendem Lebensalter kommt es in der bereits leicht gelblichen Linse zu weiteren biochemischen Umbauprozessen, vor allem an den Proteinen (Eiweißen) der Linse, an denen diese reich
Der Graue Star = die Katarakt 11 2. Abb. 2.1 Die Linsentrübung kann in unterschiedlichen Gestalten und Farben auftreten: Diese Form hier nennen Augenärzte aus gutem Grund eine Christbaumkatarakt. (Mit freundlicher Genehmigung der Universitätsaugenklinik Düsseldorf unter Leitung von Prof. Dr. Gerd Geerling). Abb. 2.2 Ein Polstar, eine Trübung der hinteren Linsenkapsel obwohl nicht groß, kann er aufgrund seiner Lage mitten in der Sehachse die Sehschärfe ganz beträchtlich einschränken. (Mit freundlicher Genehmigung der Universitätsaugenklinik Düsseldorf unter Leitung von Prof. Dr. Gerd Geerling) ist. Die Linse wird nun zusehends grauer und dies kann erste Sehbeschwerden verursachen (. Abb. 2.1,. Abb. 2.2,. Abb. 2.3). Eine andere farbliche Entwicklung ist auch möglich: Bei zahlreichen älteren Menschen wird die Linse die durch den Alterungsprozess nicht nur ihre Farbe verändert, sondern auch anschwillt nicht grau, sondern eher braun. Die Mediziner sprechen in diesen Fällen von einer Cataracta brunescens.
12 Kapitel 2 Der Graue Star = die Katarakt 2. Abb. 2.3 Im Lichtreflex vor dem roten Augenhintergrund erkennt man eine sogenannte hintere Schalentrübung. (Mit freundlicher Genehmigung der Universitätsaugenklinik Düsseldorf unter Leitung von Prof. Dr. Gerd Geerling). Abb. 2.4 Bei der Kernkatarakt ist das Zentrum der Linse eingetrübt. (Mit freundlicher Genehmigung der Universitätsaugenklinik Düsseldorf unter Leitung von Prof. Dr. Gerd Geerling) Meist trübt die Linse zuerst in Teilbereichen ein Meist trübt die Linse nicht gleichmäßig ein, vielmehr beginnt die Trübung in einer Zone der Linse, während andere Segmente dieses Organteils noch über viele Jahre klar bleiben. Bei der altersbedingten Katarakt ist die Trübung meist zwischen Linsenkern und -rinde gelegen, man spricht dann von einer supranukleären Katarakt. Bei einer anderen Form ist es eher das Zentrum der Linse, das eintrübt ein solcher Grauer Star wird als Kernkatarakt bezeichnet (. Abb. 2.4). Diese Kataraktform hat eine Besonderheit: Sie verschlechtert nicht nur wie andere Varianten die Sehschärfe durch die zunehmende Trü-
Der Graue Star = die Katarakt 13 2. Abb. 2.5 Operation des Grauen Stars: der häufigste chirurgische Eingriff der modernen Medizin. (Mit freundlicher Genehmigung von Prof. Dr. Maya Müller, Pallas-Augenklinik Zürich) bung, sie macht das Auge auch zunehmend kurzsichtig, sodass die Betroffenen häufiger neue Brillengläser benötigen, die indes nicht die volle Sehschärfe wiederherstellen können. Wie für viele Krankheiten, haben Mediziner auch für die Katarakt eine Stadieneinteilung entwickelt oder, besser gesagt, hat es im Laufe der Zeit mehrere Stadieneinteilungen gegeben. Eine klassische Einteilung ist jene in immature und mature Katarakte. Hierunter versteht man Linsentrübungen, die noch nicht reif sind (immatur) oder die reif (matur) sind. Dies ist nicht nur ein objektives Kriterium, das der Arzt bei der Beurteilung des Auges an seinem wichtigsten Untersuchungsgerät, der Spaltlampe, erhebt. Die Frage, ob ein Grauer Star reif ist, basiert letztlich auf der subjektiven Einschätzung durch den Patienten selbst. Denn»reif«bedeutet letzlich: reif für die Operation (. Abb. 2.5). Dann gibt es noch die hypermature Katarakt, eine im wahrsten Sinne des Wortes überreife Linsentrübung (. Abb. 2.6). In diesen Fällen ist die ganze Linse Kapsel, Rinde, Kern völlig grau-weißlich eingetrübt, das betroffene Auge ist praktisch blind. Wie gesagt: In unseren Breiten sieht man dieses Bild kaum noch, in einigen wenig entwickelten Ländern, vor allem in Afrika südlich der Sahara, ist es hingegen noch traurige Realität. Dennoch: Auch hierzulande gibt es vereinzelt Menschen mit hypermaturer Katarakt. Diese haben eine Operation abgelehnt. Ein Grund dafür kann sein, dass das Auge aus
14 Kapitel 2 Der Graue Star = die Katarakt 2. Abb. 2.6 Mehr weiß als grau: eine hypermature,»überreife«linsentrübung. (Mit freundlicher Genehmigung der Universitätsaugenklinik Bochum unter Leitung von Prof. Dr. Burkhard Dick) einem ganz anderen Grund blind ist und die Entfernung der Linse daran nichts geändert hätte. Erstaunlicher und erschreckender: Es gibt auch einige wenige Mitbürger, die bei Verzicht auf die Behandlung des Grauen Stars die Erblindung in Kauf nehmen, um damit Blindengeld erhalten zu können. Die vollkommen weiße Linse, also die hypermature Katarakt, nicht zu operieren, birgt indes ein Risiko. Eine solche Linse ist kräftig angeschwollen, ihre Kapsel die äußere Hülle der Linse steht unter einem beträchtlichen Druck. Die Folge: Die Linse kann platzen, ihr Inhalt sich in die vordere Augenkammer ergießen. Dies ist ein gefährlicher Vorgang, der in aller Regel zu einem massiven Anstieg des Augeninnendrucks führt und damit eine Sonderform des Grünen Stars, des Glaukoms, auslöst: das sog. phakolytische Glaukom. Aufgrund dieser Gefahr empfehlen Augenärzte auch Patienten mit einem praktisch blinden Auge bei fortgeschrittener Linsentrübung, die Katarakt entfernen zu lassen.
http://www.springer.com/978-3-662-47281-1