Stress-Harninkontinenz Diagnostik, konservative und operative Therapie



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UROGYNÄKOLOGIE Stress-Harninkontinenz Diagnostik, konservative und operative Therapie Ralf Tunn, Annett Gauruder-Burmester In Deutschland leiden drei bis vier Millionen Frauen an Harninkontinenz. Bei einer jährlichen Inzidenz von ca. 1 % und der stetigen Steigerung der Lebenserwartung wird die Zahl der Betroffenen weiter steigen. Grund genug, sein Wissen zu dieser Thematik regelmäßig zu aktualisieren und sich ein effektives Diagnostik- und Therapieschema anzueignen. Im folgenden Beitrag wird ein einfaches Schema vorgestellt. Wir wollen damit unsere Kolleginnen und Kollegen ermutigen, sich der Frau mit Harninkontinenz-Beschwerden anzunehmen. Die Abklärung der Harninkontinenz (HI) untergliedert sich in die Basisund urogynäkologische Spezialdiagnostik. Die Basisdiagnostik kann in jeder Frauenarztpraxis durchgeführt werden, ist Voraussetzung für die Festlegung der konservativen Therapie und setzt sich wie folgt zusammen. Basisdiagnostik Anamnese-Erhebung und Miktionskalender Die zeitliche und tätigkeitsbezogene Zuordnung der Harninkontinenz-Epi- Diagnostik der Stress-Harninkontinenz soden erlaubt eine erste Verdachtsdiagnose bezüglich der Form der Inkontinenz. Belastungsabhängige Episoden lassen eine Stress-HI vermuten, wobei differenzialdiagnostisch auch an eine Überlauf-HI gedacht werden muss insbesondere dann, wenn es bei Erschütterungen oder beim Wechsel vom Liegen zum Sitzen oder Stehen zum Urinverlust kommt. Tritt die HI belastungsunabhängig auf und geht ihr ein Harndranggefühl voraus, ist eine Drang-HI zu vermuten. Ein insbesondere nach Operationen im kleinen Becken ständig auftretender, unbemerkter Harnverlust lässt an eine Urogenitalfistel denken. Standardisierte Erfassungsbögen nach Fischer (1) oder Gaudenz (2) erleichtern und vervollständigen die Anamnese-Erhebung. Diese Fragebögen erfassen auch die Miktionsfrequenz, Nykturie und den täglichen Vorlagenverbrauch Informationen, die meist sehr pauschal angegeben Um konkrete Antworten zu erhalten, sollte ein Miktionskalender angelegt werden, in dem zusätzlich auch die Trinkmenge dokumentiert wird. Nicht selten entdecken Patienten beim Führen des Miktionskalenders schlechte Gewohnheiten der erste Schritt zum Trink- und Blasentraining. Urinanalyse Auch Entzündungen der unteren Harnwege können die klinische Symptomatik einer Reizblase bzw. Drang-HI verursachen. Daher sollte bei jeder Erstvorstellung der Urin mittels Teststreifen geprüft und bei pathologischem Befund eine bakteriologische Untersuchung angeschlossen Urethritische Beschwerden sollten mittels Urethralabstrich (Chlamydien- und Mykoplasmennachweis) abgeklärt Genital- und Beckenbodenstatus Abb. 1: Diagnostik der Stress-HI. Nach Anamnese-Erhebung (unterstützt durch HI-Erfassungsbogen und Miktionsprotokoll) wird die Stress-HI objektiviert durch a) positiven Stress- bzw. Husten-Test b) Introitussonographie, mediosagittale Schnittebene, Trichterbildung der Urethra beim Pressen als Zeichen der urethralen Insuffizienz (S = Symphyse) c) Stressdruckprofil der Urethra bei Patientin mit Stress-HI. Nach Abzug des Blasendruckes vom Urethradruck kommt es mit jedem Hustenstoß zum Abfall des Urethraverschlussdruckes auf Null- bzw. Negativwerte. Eine detaillierte Abhandlung des Genitalstatus würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Er ist jedoch unabdingbar, um einen Descensus urogenitalis ausszuschließen, der bei prolabierter Zystozele eine Blasenentleerungsstörung und dadurch eine Überlauf-HI bedingen kann. Wird eine HI-Operation geplant, sollte ge- 1470

prüft werden, inwieweit im Bereich der vorderen Vaginalwand (vorderes Kompartiment, Level II und III) ein Lateral- (verstrichene Längsfurchen) bzw. Zentraldefekt (verstrichene Rugae vaginales) nachweisbar ist. Zur Objektivierung des unwillkürlichen Urinverlustes beim Husten sollte bei gefüllter Blase ein Stresstest durchgeführt werden (s. Abb. 1a). Ist er trotz anamnestischer Angabe einer Stress-HI negativ, sollte nach Abschluss aller Untersuchungen ein Vorlagenwiegetest durchgeführt Um festlegen zu können, ob eine initiale Beckenboden-Bewusstseinsschulung notwendig ist oder direkt mit der Konditionierung des Beckenbodens begonnen werden kann, muss vor Beginn einer konservativen Therapie der Stress-HI der Beckenbodenstatus erhoben Kontraktionsfähigkeit und -kraft können durch die Palpation seitengetrennt bewertet werden (3). Für die semiquantitative Befunddokumentation hat sich das Oxfordschema bewährt, das in die Grade 0 bis 5 (keine, angedeutete, schwache, mäßige, gute und sehr gute Kraft) unterteilt wird (4). Zusätzlich sollte mittels Perineal- bzw. Introitussonographie die Reaktionsfähigkeit des Beckenbodens (Elevation des Blasenbodens beim Kneifen) dokumentiert und der Patientin demonstriert werden (5). Urogenitalsonographie Neben einer verminderten Reaktionsfähigkeit des Beckenbodens ist eine Trichterbildung der Urethra beim Pressen (s. Abb. 1b) ein für die Stress-HI typischer Befund. Bei Drang-HI wird häufig eine Blasenwanddicke von mehr als 5 mm gemessen. Ursache von Dysurie und Stress-HI kann ein Urethradivertikel sein, das sonographisch im paraurethralen Gewebe dargestellt werden kann. Die sonographische Beurteilung der Mobilität des Blasenhalses in einen rotatorischen bzw. vertikalen Deszensus hat bedingt Einfluss auf die Operationsplanung, allerdings liegen hierzu noch keine validen Daten vor (5). Spezialdiagnostik Urodynamik Bei Verdacht auf Drang-HI sollte nach Ausschluss eines Harnwegsinfekts und ersten frustranen Therapieansätzen (postmenopausal lokale Estrogenisierung, anticholinerge Therapie) großzügig die Indikation zur Zystometrie gestellt werden, um eine motorische bzw. sensorische Hyperaktivität des M. detrusor vesicae objektivieren zu können. Vor jeder Stress-HI-Operation muss eine Hyperaktivität des M. detrusor vesicae ausgeschlossen Zusätzlich ist anhand des Ruhe- und Stressdruckprofils der Urethra die Stress-HI zu verifizieren. Ein hypotoner Ruheverschlussdruck der Urethra (<20 cm H 2 O) gilt als negativer Prognosefaktor für die Erfolgsaussicht einer Stress-HI-Operation (z.b. 10 % geringere Erfolgsaussicht für das TVT-Verfahren). Im Stressdruckprofil zeigt die Differenzschreibung von Urethra- und Blasendruck beim Husten einen Druckabfall auf Nullbzw. Negativwerte (s. Abb. 1c). Lässt sich urodynamisch die Stress-HI-Situation nicht objektivieren (auch nicht durch wiederholte Messung nach Reposition eines Deszensus), sollte eine geplante Operation nochmals in Frage gestellt Es liegen jedoch keine validen Daten vor, inwieweit quantitative Veränderungen des Urethradruckprofils (z.b. Höhe des Ruheverschlussdrucks, partieller oder vollständiger Verlust der Kontinenzzone) Einfluss auf die Operationsplanung haben sollten. Konservative Therapie der Harninkontinenz Die konservative Behandlung der Stress-HI ist lebensbegleitend und muss sich an der Mehrschritt-Therapie (1. konservativ, 2. operativ, 3. konservativ fortsetzen) orientieren (6). Aufklärung, Trink-, Blasenund Miktionstraining Die Patientin sollte umfassend über die Anatomie und Funktion des unteren Harntrakts und mögliche Ursachen von Funktionsstörungen informiert und aufgeklärt Nur so kann sie kompetent bei der Therapieplanung mit entscheiden, was wiederum das Verhältnis zum Arzt verbessert und nicht zuletzt auch die Motivation zur konservativen Therapie fördert. Anhand des von der Patientin erstellten Miktionskalenders können schlechte Trink- und Miktionsmuster korrigiert Als Beispiel dafür ist die Pollakisurie zu nennen ein Verhalten, mit dem die Patientinnen Stress-HI-Episoden zu vermeiden versucht, was zur funktionellen Schrumpfung der Blase führen kann. Bei Drang-HI haben viele Patientinnen das Bedürfnis, mit dem Spüren des imperativen Harndrangs sofort die Toilette aufzusuchen, hektische Bewegungen unterstützen dann den unwillkürlichen Urinabgang. Tritt ein imperativer Harndrang auf, sollte sich die Patientin stehend oder sitzend ganz auf die Blase konzentrieren, bis das Dranggefühl unterdrückt ist. Dann ist genug Zeit, um ohne Harnverlust die nächste Toilette aufzusuchen. Medikamentöse Therapie Für alle HI-Formen gilt die Infektsanierung entsprechend des Resistogramms und die lokale Estrogenisierung (Estriol-Präparate) in der Postmenopause. Eine medikamentöse Therapie der Stress-HI konnte sich bisher nicht durchsetzen. α-sympathomimetika sind theoretisch in der Lage, den Urethraverschlussdruck zu erhöhen, sind für diesen Therapieansatz in FORTBILDUNG + KONGRESS 1471

Pessartherapie a b c Abb. 2: Pessar zur Soforthilfe bei Stress-HI (Abb. b und c von J. Eberhardt, Frauenfeld) a) Urethrapessar mit Pelotte b) Grafische Darstellung der Stress-HI-Situation c) Grafische Darstellung des Kontinenzmechanismus bei liegendem Urethrapessar Deutschland aber nicht zugelassen und können bei relevanter Dosierung zu hypertensiven Krisen führen. Pessartherapie Wird vermutet, dass eine Zystozele für eine Drang-HI verantwortlich ist, müsste sich die Symptomatik nach Einlage eines Sieb- bzw. Würfelpessars bessern. Werden postoperative Narben als mögliche Ursache der Drang-HI diskutiert, können diese durch das Tragen eines Würfelpessars gelockert Die Pessartherapie sollte immer mit einer lokalen Estrogentherapie kombiniert Beckenbodentraining Die Pessartherapie bei Stress- HI überzeugt durch den sofortigen Therapie-Erfolg. Urethrapessare mit Pelotte (s. Abb. 2) sind für Patientinnen ohne Voroperationen, Einmalpessare wie Pro Dry -, Contam oder Conven -Tampons (oder auch einfache Hygiene-Tampons) für Patientinnen nach Hysterektomie bzw. vaginalen Plastiken geeignet. Die Pessare werden in unterschiedlichen Größen angeboten und müssen dementsprechend angepasst + Elektrotherapie Reaktionsfähigkeit des Beckenbodens Biofeedback Konditionierung Abb. 3: Hinweise zur Verordnung von Beckenbodentraining. Bei fehlender Reaktionsfähigkeit (-) mit Elektrostimulation beginnen, dann Biofeedback/Konen verordnen, bei ausreichender Reaktionsfähigkeit (+) Konditionierung durch Gymnastik/Konen fortsetzen. Daher ist es günstig, ein komplettes Set in der Sprechstunde vorrätig zu haben. Pessare sind ideal für Patientinnen, die nur bei bestimmten Belastungen wie Sport oder Wandern Urin verlieren oder bei denen die Operabilität nicht gegeben ist. Beckenboden-Bewusstseinsschulung und -Konditionierung Das Beckenbodentraining bei Stress- HI wird individuell festgelegt und orientiert sich am Beckenbodenstatus (s. Abb. 3). Ist die Patientin nicht in der Lage, bei Aufforderung die Beckenbodenmuskulatur entsprechend anzuspannen, sollte mit der Elektrostimulation (biphasische Rechteckimpulse mit einer Frequenz von ca. 50 Hz) begonnen Sobald die Reaktionsfähigkeit erlangt wurde, können verschiedene Formen des Biofeedback-Trainings (Veranschaulichung der Muskelaktivität durch ein visuelles oder akustisches Signal) empfohlen Hier bieten sich Elektrotherapiegeräte mit zusätzlicher Biofeedback- Funktion oder reine Biofeedback- Geräte an. Bei vorhandener Reaktionsfähigkeit ist die Konustherapie geeignet (s. Abb. 3). Voraussetzung ist, dass die Nr. 1 mindestens und die Nr. 5 noch nicht gehalten werden kann. Diese Maßnahmen haben den Vorteil, dass sie von den Patientinnen individuell und zeitlich flexibel durchgeführt werden können. Die Beckenbodengymnastik wird in Einzel- oder Gruppentherapie angeboten, hat bei vorhandener Reaktionsfähigkeit des Beckenbodens ihre Berechtigung und führt bei ca. 60 % der Patientinnen zur Besserung bzw. Heilung der Stress- HI (7). Voraussetzung für den Erfolg des Beckenbodentrainings ist schließlich die Motivation der Patientin, da sich frühestens nach zwei bis drei Wochen regelmäßigen Trainings die ersten Erfolge einstellen. Um Rezidive zu vermeiden, ist ein regelmäßiges Wiederholen des Trainings notwendig. 1472

Operative Therapie der Stress-Harninkontinenz Die operative Therapie der Stress-HI sollte erst dann angestrebt werden, wenn die konservative Therapie erfolglos war, die Patientin durch die Stress-HI einen hohen Leidensdruck angibt, die Stress-HI objektivierbar ist und eine geeignete Operationsmethode zur Verfügung steht. Unter Beachtung der Theorie von Enhörning (8), der Hängematten-Hypothese von DeLancey (9), der Integraltheorie von Petros und Ulmsten (10) und nach Bewertung der Literatur (11 13) konnten sich bisher die Kolposuspension modifiziert nach Burch (s. Abb. 4a) und die TVT- Plastik nach Ulmsten (s. Abb. 4b) als Standardoperationen zur Behandlung der Stress-HI mit vergleichbarem Erfolg (14) durchsetzen. Alle anderen Operationstechniken zeigen schlechtere Heilungsergebnisse, höhere Komplikationsraten oder bedürfen noch der wissenschaftlichen Prüfung. So sollte individuell geprüft werden, inwieweit z.b. klassische Schlingen als Ultima Ratio im Einzelfall nach frustranen Voroperationen und hypotoner Urethra bzw. periurethrale Injektionen bei eingeschränkter Operabilität angewendet werden können. Operative Therapie der Stress-Harninkontinenz Abb. 4: Etablierte Operationstechniken bei Stress-HI. a) Kolposuspension modifiziert nach Burch. Nur lockeres Verknüpfen der nicht resorbierbaren Fäden (13) b) TVT-Plastik nach Ulmsten. Spannungsfreie Einlage des Prolenebandes (P) in Höhe der mittleren Urethra (15) Es ist wissenschaftlich bisher nicht erwiesen, wann die Kolposuspension bzw. die TVT-Plastik das geeignete Verfahren ist. Erfahrungen zeigen, dass die Kolposuspension bevorzugt werden sollte, wenn ein paravaginaler Defekt vorliegt, dieser ohnehin durch eine abdominale Deszensusoperation korrigiert werden soll, eine zusätzliche Genitalpathologie ein abdominales Vorgehen erfordert, eine vorausgegangene TVT-Plastik erfolglos war oder eine vorausgegangene Kolporrhaphia anterior zu ausgeprägten Vernarbungen der vorderen Vaginalwand geführt hat. Die TVT-Plastik wird empfohlen, wenn ein zentraler Fasziendefekt bzw. eine hypotone Urethra vorliegen, ein zusätzlicher Deszensus von vaginal rekonstruiert werden soll oder eine Kolposuspension bereits erfolglos durchgeführt wurde. Bei einer postmenopausalen Patientin mit Stress-HI und beschwerdefreiem Descensus urogenitalis I. bis II. Grades sollte die TVT-Plastik angeboten werden, da hier eine Kolposuspension eine Entero-/Rektozele mit Beschwerden provozieren könnte. Eine prämenopausale Patientin sollte in die Entscheidung mit einbezogen werden, ob eine Kolposuspension gegenüber der TVT-Plastik durchgeführt werden soll, da Langzeitergebnisse über fünf Jahre hinaus nach TVT-Plastiken noch ausstehen und die von Kritikern aufgeworfene Frage nach Spätarrosionen des alloplastischen Materials noch nicht beantwortet werden kann. Komplikationen wie eine De-novo- Urgesymptomatik bzw. retropubische Hämatome schließlich treten bei der Kolposuspension und der TVT-Plastik in vergleichbarer Häufigkeit auf. Fazit Durch indikationsgerechtes Ausschöpfen aller Therapieverfahren kann die Stress-HI bei 90 95 % der Betroffenen erfolgreich behandelt Literatur 1. Fischer W: Epidemiologie der Harninkontinenz. In: Fischer W, Kölbl H (Hrsg.): Urogynäkologie in Praxis und Klinik. De Gruyter, Berlin 1995, 203. 2. Oelke M: Anamnese und klinische Untersuchung. In: Höfner K, Jonas U (Hrsg.): Praxisratgeber Harninkontinenz. Uni-Med Verlag, Bremen 2000 3. Tunn R, Perucchini D: Morphologische Diagnostik in der Urogynäkologie. Zentralbl Gynakol 123 (2001) 672 679. 4. Schuessler B, Laycock J, Norton P, Stuart S (Eds): Pelvic floor re-education. Springer, London 1994, 45 46. 5. Tunn R: Sonographie zur Diagnostik und zum Therapiemonitoring bei Stressharninkontinenz und Descensus urogenitalis. Gynäkol Prax 25 (2001) 283-94 6. Fischer W: Allgemeine Behandlungsgrundsätze. In: Fischer W, Kölbl H (Hrsg.): Urogynäkologie in Praxis und Klinik. De Gruyter, Berlin 1995, 219 221. 7. Peschers UM, Buczkowski M: Möglichkeiten und Grenzen der konservativen Therapie der Harninkontinenz. Zentralbl Gynakol 123 (2001) 685 688. 8. Enhörning GE: Simultaneous recording of intravesical and intraurethral pressure. A study on urethral closure in normal and stress incontinent women. Acta Chir Scand FORTBILDUNG + KONGRESS 1473

276 (1961) 1 68. 9. DeLancey JO: Structural support of the urethra as it relates to stress urinary incontinence: the hammock hypothesis. Am J Obstet Gynecol 170 (1994) 1713 1720. 10. Petros PE, Ulmsten U: An integral theory of female urinary incontinence. Experimental and clinical considerations. Acta Obstet Gynecol Scand 153 (1990) Suppl., 7 31. 11. Petri E: Die Kolposuspension zur Behandlung der weiblichen Stressinkontinenz. Urologe A 40 (2001) 292 299. 12. Nilsson CG, Kuuva N, Falconer C et al.: Long-term results of the tension-free vaginal tape (TVT) procedure for surgical treatment of female stress urinary incontinence. Int Urogynecol J Pelvic Floor Dysfunct 12 (2001) Suppl 2, 5 8. 13. Petri E, Kölbl H, Eberhard J: Operative Konzepte bei der weiblichen Harninkontinenz. Zentralbl Gynakol 123 (2001) 689 698. 14. Ward KL, Hilton P: A randomised trial of colposuspension and tension-free vaginal tape (TVT) for primary genuine stress incontinence 2 yr follow up (Abstract). Int Urogynecol J Pelvic Floor Dysfunct 12 (2001) 7 15. Bettin S, Fischer W, Tunn R: TVT-Plastik bei Harninkontinenz. Erfahrungen der Charité-Frauenklinik. Gynäkol Prax 24 (2000) 305 320. Dieser Beitrag ist zuvor bereits in gynäkologie + geburtshilfe 3/ 2002, S. 29 35 erschienen. Autoren PD Dr. med. Ralf Tunn Dr. med. Annett Gauruder-Burmester Campus Charité Mitte Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe Schumannstr. 20/21 10117 Berlin 1474