Dr. Claudia Ziegler (Diplom-Psychologin) Diabetes-Zentrum für Kinder und Jugendliche Hannover Geschwister von Kindern mit Typ-1-Diabetes- Besonderheiten, Risiken und Möglichkeiten
Agenda Wie erleben Geschwister den Diabetes? Wie geht es den Geschwistern? Was kann Geschwistern helfen?
Fallbeispiel Alles dreht sich um Paul (6Jahre), der Diabetes bekommen hat. Oma und Opa schenken ihm, was er will, für Lisa (12Jahre) gibt es nur ein Überraschungsei. Sie ist ja nicht krank. Mama und Papa haben auch keine Zeit mehr für sie, nicht mal, um ihr bei den Hausaufgaben zu helfen. Sie sind die ganze Zeit bei Paul im Krankenhaus. Wenn sie zu Hause sind, sehen sie so ernst aus. Lisa traut sich gar nicht irgendetwas aus der Schule zu erzählen. Es fragt aber auch keiner. Also ist sie lieber ruhig. Mama und Papa haben gesagt, dass Paul jetzt den Speiseplan bestimmen darf und Lisa auch nicht mehr soviel Süßes essen darf, wegen Paul. Außerdem müssen jetzt alle noch mehr auf Paul aufpassen. Deswegen wissen die Eltern nicht, ob sie sie noch so oft zu ihren Freunden fahren können. Lisa findet das gemein. Vielleicht kümmern sich alle um sie, wenn sie auch Diabetes hätte.
Wie viele Kinder und Jugendliche mit Diabetes gibt es in Deutschland? 21.000-24.000 Kinder unter 20 Jahren 2009: 18,9% sind bei Manifestation jünger als 5 Jahre Holterhus PM, Beyer P, Bürger-Büsing J, Danne T, Etspüler J, Heidtmann B, Holl RW, Karges B, Kiess W, Knerr I, Kordonouri O, Lange K, Lepler R, Marg W, Näke A, Neu A, Petersen M, Podeswik A, Stachow R, von Sengbusch S, Wagner V, Ziegler R Diagnostik, Therapie und Verlaufskontrolle des Diabetes mellitus im Kindes- und Jugendalter. Haak T, Kellerer M (Hrsg.): Evidenzbasierte Diabetes-Leitlinie DDG. http://www.deutsche-diabetesgesellschaft.de/leitlinien/ebl_kindesalter_2009.pdf
Wie viele Neuerkrankungen gibt es in Deutschland? Inzidenzrate steigt mit 3-5% pro Jahr Inzidenz steigt vor allem bei den Jüngeren Verdopplung der Erkrankungsfälle wird bei Kindern unter 5 Jahren bis 2020 erwartet Holterhus PM, Beyer P, Bürger-Büsing J, Danne T, Etspüler J, Heidtmann B, Holl RW, Karges B, Kiess W, Knerr I, Kordonouri O, Lange K, Lepler R, Marg W, Näke A, Neu A, Petersen M, Podeswik A, Stachow R, von Sengbusch S, Wagner V, Ziegler R Diagnostik, Therapie und Verlaufskontrolle des Diabetes mellitus im Kindes- und Jugendalter. Haak T, Kellerer M (Hrsg.): Evidenzbasierte Diabetes-Leitlinie DDG. http://www.deutsche-diabetesgesellschaft.de/leitlinien/ebl_kindesalter_2009.pdf
Wie viele Geschwister haben Kinder mit Typ1-Diabetes? 07/2009-06/2010 AUF DER BULT (Hannover) n= 67 von 75 (89,3%) 77,6% der Kinder mit Typ1-Diabetes haben mindestens 1 Geschwisterkind Prozent (%) Anzahl der Geschwister bei Manifestation eines Typ1-Diabetes 100 80 60 40 20 0 21,7 53,6 17,4 5,8 1,4 0 1 2 3 4 Anzahl der Geschwister Ziegler et al. (2011). Psychosoziale Ausgangssituation und subjektiven Bedürfnisse einer repräsentativen Stichprobe von Familien bei Manifestation eines Diabetes mellitus Typ1 eines Kindes/Jugendlichen. Diabetologie und Stoffwechsel. Supplement, S63
Diabetes aus der Sicht eines Geschwisterkindes Ich will auch Diabetes haben. Keiner hat mehr Zeit für mich. Ich passe gut auf sie/ ihn auf. Alles dreht sich immer um den Blutzucker. Ich habe Angst, dass ich auch Diabetes bekomme. Ich bekomme viel weniger geschenkt. Ich habe Angst um meine Schwester/ Bruder. Ich habe vielleicht Schuld an dem Diabetes. Ich darf nicht mehr soviel Süßes esse.!
Mögliche Belastungen von Geschwisterkindern Geringe Aufmerksamkeit und Zuwendung Angst um das Geschwisterkind Angst um das eigene Wohlergehen Neid und Aggression infolge des im Mittelpunkt stehenden Geschwisters Verzicht auf altersbezogene Aktivitäten aus Rücksicht oder wegen Gleichbehandlung der Geschwister Eingebundensein in die Versorgung und Fürsorge für das kranke Geschwister C: Stein. Ruhr Nachrichten Roth, R. (2002). Kinder mit Diabetes: die ganze Familie ist betroffen. In K. Lange & A. Hirsch (Hrsg.). Psychodiabetologie (S. 106). Mainz: Kirchheim-Verlag.
Wie geht es den Geschwistern von chronisch kranken Kindern? Übersichtsarbeit aus 40 Studien (Williams, 1997): höheres Risiko für emotionale- und Verhaltensprobleme Meta-Analyse aus 51 Studien (Sharpe & Rossiter, 2002): negative Auswirkungen im Vergleich zur Kontrollgruppe/Norm emotionale Probleme (z.b. Depression, Angst) sind höher ausgeprägt als Verhaltensprobleme weniger Aktivitäten mit Gleichaltrigen und geringere kognitive Entwicklung niedrigere Werte bei chronischen Erkrankungen, die tägliche Therapie erfordern Geschwister von chronisch kranken Kindern haben ein höheres Risiko für psychische Beeinträchtigungen Williams, P.-D. (1997) Siblings and pediatric chronic illness: a review of the literature. Int. J. Nurs. Stud., 34 (4), 312-323. Sharpe & Rossiter (2002). Siblings of children with a chronic illness: a meta-analysis. J Pediatr Psychol, 27 (8), 699-710.
Wie geht es den Geschwistern von chronisch kranken Kindern? Meta-Analyse aus 52 Studien (Vermaes et al., 2012): psychische Beeinträchtigungen höheres Risiko für emotionale Probleme (z.b. Ängste, Depression), aber auch Verhaltensprobleme weniger positive Selbstzuschreibungen (z.b. Selbstwertgefühl) als Vergleichsgruppen Geschwister haben ein höheres Risiko für psychische Beeinträchtigungen C: Stein. Ruhr Nachrichten Vermaes et al., (2012). Psychological functioning of siblings in families of children with chronic health conditions: a meta-analysis. J Peditr Psychol, 37 (2), 166-184.
Wie geht es den Geschwistern von chronisch kranken Kindern? Moderatoren (Schutz- und Risikofaktoren): Geschlecht: n.s. Geschwisterfolge: n.s. Art der chronischen Erkrankung: n.s. Alter: * Ausmaß der Beeinträchtigung durch die Behandlung: * Ausmaß der Lebensbedrohlichkeit der Erkrankung: * Ältere Geschwister und Geschwister mit hoch anspruchsvollen chronischen Erkrankungen und/oder lebensbedrohlichen Erkrankungen tragen hohes Risiko für psychologische Probleme Vermaes et al., (2012). Psychological functioning of siblings in families of children with chronic health conditions: a meta-analysis. J Peditr Psychol, 37 (2), 166-184.
Wie geht es den Geschwistern von Kindern mit Typ1 - Diabetes? (1) Erhöhtes Risiko Ferrari (1987): n=30, 7-12 Jahre, Selbsturteil, standardisiertes Messinstrument, KG matched Selbstkonzept * (2) Keine Unterschiede/ kein Risiko Lavigne et al. (1982) n=41, 6-16 Jahre, Elternurteil, standardisiertes Messinstrument, KG Verhaltensprobleme = Jackson et al., (2009) N=41, 7-16Jahre, Eltern- und Selbsturteil, standardisiertes Messinstrument, Norm emotionale und Verhaltensprobleme = Ferrari, M. (1987). The diabetic child and well sibling: risks to well child s self-concept. Children`s Health Care 15, 141-148. Lavigne et al., (1982). Parental Perceptions of the Psychological Adjustment of Children with Diabetes and Their Siblings. Diabetes Care, 5(4), 420-426. Jackson et al., (2008). Sibling psychological adjustment to type 1 diabetes melltitus. Pediatric Diabetes, 9 (1), 308-311.
Wie geht es den Geschwistern von Kindern mit Typ1 - Diabetes? Risikofaktoren: höheres Alter bei Manifestation (r=0,321, p<0,05) höheres Ausmaß an Erziehungsproblemen (r=0,60, p<0,01) mangelnde Krankheitsakzeptanz des Kindes mit Diabetes (r=0,40, p<0,01) elterlicher Stress (r=0,52, p<0,001) negative Wahrnehmung des Diabetes und seiner Auswirkungen auf die Familie (r=0,38, p<0,01) Schutzfaktoren: positive Wahrnehmung bzgl. des Diabetes und wenig elterlicher Stress (Multiple Regression: 14,8%, p<0,05 und 31,3%, p<0,001) Jackson et al., (2008). Sibling psychological adjustment to type 1 diabetes melltitus. Pediatric Diabetes, 9 (1), 308-311.
Wie geht es den Geschwistern von Kindern mit Typ1 - Diabetes? Qualitative Daten: Erfahrungen des Zusammenlebens mit einem Kind mit Typ1 Die meisten berichten keinen Unterschied oder sie haben sich daran gewöhnt Wenn Unterschiede berichtet werden, dann v.a. Angst, wenn es Bruder/Schwester nicht gut geht Gefühle der Verantwortlichkeit und ständigen Wachsamkeit, Ärger und Veränderung der Beziehung zu den Eltern Jackson et al., (2008). Sibling psychological adjustment to type 1 diabetes melltitus. Pediatric Diabetes, 9 (1), 308-311.
Wie geht es den Geschwistern von Kindern mit Typ1 - Diabetes? Lebensqualität (Goethals et al., 2009) N=38 Geschwister (6-18J, 23 Jungen) 12 Bereiche der Lebensqualität (CHQ-CF, Landgraf et al., 1999, Selbstbericht) Belgische Referenzpopulation Geschwister berichten eine höher LQ in den meisten Bereichen (7/12) im Vergleich zur Norm und in Deutschland? Stuttgart 2012 16.-19. Mai Vortrag der Arbeitsgruppe Prof. Dr. Karin Lange Goethals et al. (2009). Quality of Life of siblings of a cild with type 1 diabetes melltitus. Pediatric Diabetes, Supplement, p.68.
Was wissen Geschwister über Diabetes? N=38, Alter: 13 2,3 Jahre (Range 10-18Jahre), 23 Jungen, Belgien Wissens-Fragebogen (12 Items) 26% erreichen die max. Punktzahl Ergebnisse hängen zusammen mit Alter (r=0,33, p<0,05) die meisten Fehler traten bei Auswirkungen von Insulinmangel (39,5%), Ursachen der Hypoglykämie (73,7%) auf Die meisten Geschwister wissen gut über Diabetes Bescheid, jedoch gibt es Bereiche in denen Wissen fehlt Goethals et al. (2010). Sibling`s knowledge of diabetes and treatment. Pediatric Diabetes, Supplement, p.28.
Was kann Geschwistern helfen? 5-Tage Sommer-Camp (Wiliams et al., 2003) RCT, follow up nach 4, 9, 12 Monaten n=292, 7-15 Jahre Intervention: Informationen zur Erkrankung, psychosoziale Sitzungen, 2 Booster-Sitzungen für Geschwister und Eltern Wissenszuwachs: * soziale Unterstützung: * Selbstbewusstsein: * Verbesserungen auch noch nach 12 Monaten feststellbar! William et al., (2003). A community-based intervention for siblings and parents of children with chronic illness or disability: the ISEE study. J Pediatr, 143, 386-93.
Was kann Geschwistern helfen? Erfassung der psychosozialen Ausgangssituation: Anzahl der Geschwister, Alter Versorgungssituation: Wo untergebracht, wer kümmert sich? Mitunterbringung auf Station notwendig? Befinden: Wie geht es ihr/ihm? Aufklärung über besondere Situation der Geschwister und Unterstützungsmöglichkeiten War er/sie schon zu Besuch? Haben Sie schon erklärt, was passiert ist und wie es weitergeht? (Hilfen anbieten z.b. Gespräch, Material) Möglichkeit zur Teilnahme an den Gesprächen/ Schulungen Teamvisite (Austausch Arzt, DB, Psychologe) bei Bedarf Angebot weiterer Hilfen Bei Bedarf individuelle Termine im Verlauf
Was kann Geschwistern helfen? keine Extra-Wurst für das Kind mit Diabetes das normale Gerechtigkeitsproblem Ungerechtigkeit zugestehen Zeiten für das gesunde Geschwisterkind einplanen Zuständigkeiten aufteilen Großeltern mit einbeziehen (Betreuung/Schulung statt teurer Geschenke) vor zuviel Verantwortung schützen Hürter, v. Schütz & Lange (2012). Kinder und Jugendliche mit Diabetes. Medizinischer und psychologischer Ratgeber für Eltern. Berlin: Springer.
Zusammenfassung Geschwister von chronisch kranken Kindern weisen ein höheres Risiko für emotionale und Verhaltensprobleme auf. Weltweit existieren bislang nur wenige Studien zur Situation von Geschwistern von Kindern mit Typ- 1-Diabetes. Weitere Studien zur besonderen Situation von Geschwistern von Kindern mit Typ-1-Diabetes sind erforderlich. Geschwister dürfen nicht vergessen werden und müssen von Anfang an sowohl vom Diabetesteam als auch den Eltern miteinbezogen werden.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!