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Transkript:

Uraufführung WAHRHEIT IST DIE ERFINDUNG EINES LÜGNERS 11+ Heinz von Foerster und Bernhard Pörksen in einer Fassung von Carlos Manuel BEGLEITMATERIAL ZUM STÜCK

WAHRHEIT IST DIE ERFINDUNG EINES LÜGNERS 2 Es spielen: Helmut Geffke Franziska Krol Denis Pöpping Franziska Ritter Carlos Manuel Fred Pommerehn Katja Schmidt Stephan Behrmann Irina-Simona Barca / Frank Röpke Thomas Holznagel Max Berthold Laura Kallenbach Martin Brandt Anita Stenzel Franziska Fischer Eddi Damer Henning Beckmann Karla Steudel Sabine Bonin Regie Bühne Kostüme Dramaturgie Theaterpädagogik Licht Ton + Video Regieassistenz Dramaturgieassistenz Inspizienz Soufflage Technischer Direktor Bühnenmeister Maske Requisite Szenenfoto mit Franziska Ritter Premiere: 31. Mai 2013 Bühne 3 ca. 80 Minuten in Zusammenarbeit mit dem Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin sowie in Kooperation mit dem Haus der Kulturen der Welt

WAHRHEIT IST DIE ERFINDUNG EINES LÜGNERS 3 Inhalt Vorbemerkung 5 Biographische Skizzen 6 Heinz von Foerster 6 Bernhard Pörksen 7 Das Produktionsteam 8 Der Regisseur Carlos Manuel 8 Der Bühnenbildner Fred Pommerehn 8 Die Kostümbildnerin Katja Schmidt 8 I. Begriffskosmos Foersters 10 a) Wahrnehmung 10 b) Konstruieren von Wirklichkeiten 11 c) Facetten der Wahrheit 12 d) Perspektiven für den Alltag 13 II. Weiterführendes Material 14 a) Auszüge aus Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners 14 b) Interview mit Bernhard Pörksen 16 c) Tanz mit der Welt von Nikola Bock 19 d) Paradoxa und systemisches Denken von Fritz B. Simon 24 III. Vorschläge zur Vor- und Nachbereitung im Unterricht 26 Literatur 29 Hinweise für den Theaterbesuch 30 Impressum 31

WAHRHEIT IST DIE ERFINDUNG EINES LÜGNERS 4 Szenenfoto mit Denis Pöpping

WAHRHEIT IST DIE ERFINDUNG EINES LÜGNERS 5 Vorbemerkung Radikaler Konstruktivismus für Kinder? Wirklichkeitsforschung im Theater? Die menschliche Wahrnehmung ist ein Wunder! Im etwas anderen Talkformat Zu Gast bei Bernhard, lädt die Schauspielerin Franziska Ritter als bärtiger Showmaster den Physiker, Philosophen, Bergsteiger und Magier Heinz von Foerster (1911-2002) zu sich in die PARKAUE ein. Gemeinsam staunen sie, erforschen unsere Wahrnehmung der Welt und hinterfragen spielerisch das, was wir als Wirklichkeit bezeichnen. Als ein zweiter Heinz und sogar das Ich höchstpersönlich die Bühne betreten, lösen sich Sein und Schein allmählich auf. Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners führt das wackelige Konstrukt der Realität vor Augen und beleuchtet die Konsequenzen dieser Untersuchungen für unseren Alltag, das Zusammenleben und das Lernen in der Schule. Wie verhält man sich, wenn der Mensch nicht dazu in der Lage ist, die externe Welt so zu erkennen, wie sie wirklich ist? Die Realität ist bloß eine Erfindung? In der Inszenierung wurde sich dem Konzept der Wirklichkeit und der Wahrnehmung des Menschen genähert. Als Folie dient die Erkenntnistheorie eine Art Wirklichkeitsforschung des Philosophen und Physikers Heinz von Foerster. Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners ist eine Sammlung von Gesprächen zwischen Heinz von Foerster und dem Journalisten Bernhard Pörksen. Die beiden lernten sich auf dem Weltkongress für soziale Psychiatrie 1994 kennen. Foerster sollte damals ein Interview für das Hamburger Sonntagsblatt geben, für das Pörksen arbeitete. Aus dem Interview wurde schnell ein fruchtbares Gespräch, das den Auftakt für einen tieferen Gedankenaustausch gab, der sich bei Foerster auf dem schönen Rattlesnake Hill in Pescadero, Kalifornien fortsetzte. Die Theaterfassung von Carlos Manuel folgt der Vorlage des Buches. Der Regisseur inszeniert mit Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners einen scheinbar theater- und dramafernen Text, der andere Sichtweisen auf unsere Kommunikation wirft und der den Zuschauer zur Neugier am Forschen animiert. Bei Carlos Manuel und seinem Bühnenbildner Fred Pommerehn kann Theater als partizipativer Vorgang verstanden werden, indem sie nicht nur unterhalten wollen, sondern auf den gedanklich aktiven Zuschauer setzen. Dabei geht es explizit nicht um das allgemeine Verständnis des Inhaltes, denn jeder Zuschauer sieht eine per se andere Inszenierung, eine andere Wirklichkeit. Die Inszenierung ist eine Anordnung von Forschungs- und Untersuchungsmöglichkeiten. Der forschende Zuschauer ist ein willkommener Gast am THEATER AN DER PARKAUE. Die Wahrnehmung des Menschen wird von Heinz von Foerster als ein unglaubliches Wunder bezeichnet. Bereits in jungen Jahren entdeckte er gemeinsam mit seinem Cousin Martin sein Interesse für die Wahrnehmung des Menschen durch die Zauberei. Da die Zauberei auch in der Inszenierung von Carlos Manuel eine Rolle spielt, findet sie im ersten Teil des Begleitmaterials, neben den biographischen Skizzen von Heinz von Foerster und Bernhard Pörksen, besondere Erwähnung. Anschließend wird das Produktionsteam, bestehend aus Carlos Manuel, Fred Pommerehn und Katja Schmidt vorgestellt. Da die im Stück thematisierte Erkenntnistheorie umfangreich und nicht jedermann geläufig ist, werden die zentralen Thesen im zweiten Abschnitt des Materials näher erläutert. Im darauf folgenden Kapitel befinden sich Auszüge des Buches Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Zudem veröffentlichen wir Teile des am 12. März 2013 vom Dramaturgen Stephan Behrmann geführten Interviews mit Bernhard Pörksen, dem Co-Autor des Buches Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Hier finden sich zudem ein Essay, basierend auf dem Dokumentarfilm von Nikola Bock (1996),der das Augenmerk auf Foersters Biografie und Philosophie legt, sowie Auszüge des Readers Wenn rechts links ist und links rechts (2013) vom Psychoanalytiker und Familientherapeuten Fritz B. Simon, in dem er über Paradoxa

WAHRHEIT IST DIE ERFINDUNG EINES LÜGNERS 6 und systemisches Denken schreibt. Im letzten Teil befinden sich Vorschläge zur Vor- und Nachbereitung für Ihren Unterricht. Ich wünsche Ihnen und Ihren Schülerinnen und Schülern einen anregenden Theaterbesuch. Martin Brandt Dramaturgieassistent Biographische Skizzen Heinz von Foerster Heinz von Foerster ist philosophisch dem radikalen Konstruktivismus zuzuordnen und gilt als Mitbegründer der kybernetischen Wissenschaft. Er war österreichischer Physiker und Professor für Biophysik. aus: http://www.t-h-e-n-e-t.com/html/fotos/16foerster1.jpg Als gebürtiger Wiener wuchs er Anfang des vergangenen Jahrhunderts in einer sehr wohlhabenden Familie und einer aufregenden Atmosphäre zwischen Künstlern, Philosophen, Architekten und Baumeistern auf. Da sein Vater Emil zu Beginn des Ersten Weltkrieges in serbische Kriegsgefangenschaft geriet, wurde Foerster vor allem von seiner Mutter Lilith und seiner Tante Grethe Wiesenthal, einer berühmten Tänzerin, großgezogen. Seine Mutter war mit der Schwester von Ludwig Wittgenstein befreundet, wodurch er sehr jung in persönlichem Kontakt mit dem Philosophen stand. Foerster soll unter anderem das Tractatus logico-philosophicus seines Nennonkels nahezu auswendig gekannt haben. Im Buch KybernEthik (1993) erzählt Foerster von seiner glücklichen Kindheit in Österreich, zwischen den Kriegen, über die wichtige Beziehung zu seinem Cousin Martin und über den gemeinsamen Spaß an der Zauberei. Das Spiel mit den Erwartungen des Publikums und seiner Wahrnehmung faszinierte ihn schon damals: Martin und ich waren sehr oft zusammen. Ungefähr in unserem elften Lebensjahr übte die Magie, aus welchen Gründen auch immer, eine unglaubliche Faszination auf uns aus. Wir bekamen einen dieser kleinen Standardkästen, die man im Laden kaufen kann und die alle Zaubertricks für Kinder enthalten. Nachdem wir ihn geöffnet und einige dieser Kunststücke ausprobiert hatten, fanden wir das alles furchtbar lächerlich und derartig stupide, denn jedermann würde diese Tricks durchschauen, ebenso den doppelten Boden und all das alberne Zeug. Wir sagten uns, dass das wirklich sei, dass dies nicht die richtige Art sei, Magie zu betreiben. Wir begannen unsere eigenen Zauberkünste zu entwickeln, und bald beschäftigten wir uns immer intensiver mit diesen Dingen. [ ] Ich war davon überzeugt, dass man sich auf dem Gebiet der Physik und der Mechanik gut auskennen muss, um großartige Zauberstücke aufzuführen. Martin hingegen

WAHRHEIT IST DIE ERFINDUNG EINES LÜGNERS 7 vertrat die Meinung, dass die Mechanik nicht so wichtig sei, zumal er vornehmlich für die Inszenierung zuständig war. So profitierte ich von ihm auf dem Gebiet der Darstellung, wogegen ich ihm die technischen Probleme vermittelte. 1 Foerster wollte bereits als Kind Naturforscher werden und begann nach dem Matura das Studium der Physik in Wien. Im November 1939 heiratete er die Schauspielerin Mai Stürmer und ging mit ihr nach Berlin, um an einem Forschungslaboratorium zu arbeiten. Als Hitler in Österreich einmarschierte, blieben die beiden in Berlin, sich sicher, dass niemand seine jüdischen Wurzeln kennen konnte. Foerster machte in seinem sogenannten Ariernachweis falsche Angaben über seine Herkunft, die später durch die Kriegswirren nicht weiter nachverfolgt wurden. 1942 wurde Berlin auf Grund von Bombardierungen evakuiert und Foerster ging mit seiner damaligen Firma nach Schlesien. Nach dem Krieg arbeitete er bei einer Telefonfirma und als Journalist beim Radio des amerikanischen Militärs. Er verließ im Jahre 1949 Europa, um in den USA eine wissenschaftliche Karriere durch sein Buch Das Gedächtnis. Eine quantenphysikalische Untersuchung einzuschlagen. Durch dieses Buch wurde der amerikanische Neurophysiologe und Kybernetiker Warren Sturgis McCulloch auf ihn aufmerksam, der Foerster in die Elite der amerikanischen Wissenschaftler einführte: Man konnte hier über ganz verschiedene Fragen und Themen diskutieren, die das Gebiet der Logik, der Physik, der Mathematik, der Psychologie usw. berührten. 2 Im Jahre 1957 gründete Foerster an der Universität von Illinois das Biologische Computer-Laboratorium, von dem er lange Zeit Direktor war. Der Fokus des Forschungsinstitutes, das die Trennung zwischen Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften aufhob, lag auf Fragen der Logik, Epistemologie, Spracherkennung, Kommunikation, Neurobiologie und Kognition. Seit 1968 wurde das Institut aus finanziellen Gründen vom Militär unterstützt, welches später ein Gesetz verabschiedete, das es verbot, Projekte zu unterstüt- 1 Foerster, Heinz von: KybernEthik. S. 11 ff. 2 Foerster, Heinz von/pörksen, Bernhard: Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. S. 146. zen, die keinen klaren militärischen Nutzen hatten. Da Foerster nicht für das Militär arbeiten wollte und er mit 65 Jahren ohnehin emeritierte, befasste er sich in den letzten Jahren seiner Tätigkeit als Professor damit, das Biologische Computer-Laboratorium wieder aufzulösen, die letzten Doktoranten zu promovieren und die Gerätschaften zu verschenken. Seine Frau und er verließen im Jahre 1976 Illinois und kauften sich im kalifornischen Pescadero, auf dem Rattlesnake Hill ein Stück Land. Von Heinz von Foerster gibt es verschiedene Interviewbände und Onlinevideos (youtube), in denen er meist dialogisch sehr anschaulich seine Gedanken vermittelt. Er verstarb im Jahre 2002 in Kalifornien. Internetlinks: (Stand: 28.08.2013) http://www.youtube.com/watch?v=gwcyhbmsxs0 http://www.youtube.com/watch?v=anpjg7mfdq4 http://www.youtube.com/watch?v=gghbu8l3hui Bernhard Pörksen Bernhard Pörksen (*1969) studierte Germanistik, Journalistik und Biologie in Hamburg. Er absolvierte auf Einladung von Ivan Illich Forschungsaufenthalte an der Pennsylvania State University und volontierte beim Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt. Neben akademischen Arbeiten erschienen Essays und Kommentare, Reportagen und Interviews in Tageszeitungen (Die Welt, tageszeitung, Frankfurter Rundschau u. a.), Wochenzeitungen (Die Zeit, Freitag, Rheinischer Merkur, Die Weltwoche, u.a.), Magazinen und diversen Netzmedien. Insgesamt liegen mehr als 200 Veröffentlichungen von Pörksen vor. Nach seiner Promotion (1999) über Medien und die Sprache neonazistischer Gruppen gründete und leitete Bernhard Pörksen an der Universität Greifswald die Studieneinheit Schreibpraxis und lehrte Kommunikations- und Sprachwissenschaft. Danach war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Hamburg tätig und wurde im Jahre 2002 auf eine Professur für Journalistik und Kommunikationswissenschaft berufen. 2006 vertrat Bernhard Pörksen den Lehrstuhl für Kommunikationstheorie und Medienkultur an der Universität Münster. 2007 wurde er in Kommunikations- und Medienwissen-

WAHRHEIT IST DIE ERFINDUNG EINES LÜGNERS 8 schaften habilitiert. 2008 erhielt er einen Ruf auf die Professur für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen. Im selben Jahr wählte ihn die Jury des Hochschulmagazins Unicum zum Professor des Jahres in der Kategorie Geistes-, Gesellschafts- und Kulturwissenschaften. 2009 bis 2011 war er zunächst Gründungsbeauftragter und dann Geschäftsführender Direktor des Instituts für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen. 3 Das Produktionsteam Der Regisseur Carlos Manuel ist 1968 in Luanda, Angola, geboren. Er studierte Philosophie in Curitiba / Brasilien und Theaterwissenschaft an der Sorbonne Nouvelle in Paris. Als Regisseur arbeitete er in Schweden und in Russland, in Deutschland am Bayerischen Staatsschauspiel München ( Die Gelehrenrepublik von Arno Schmidt, Kohlhaas nach Kleist), am Städtischen Theater Chemnitz ( Glückseelingkeit von Bulgakow), am Theater Freiburg, Nationaltheater Weimar, am Theater Karlsruhe, am Thalia Theater Halle, an der jtw-spandau (zuletzt Berlin Alexanderplatz von Alfred Döblin) und kontinuierlich am THEATER AN DER PARKAUE (u.a. Der Freischütz von Friedrich Kind, Die Verwandlung nach einer Erzählung von Franz Kafka, Karamasow von Fjodor Dostojewski oder auch Warum kommen Dinge durcheinander von Gregory Bateson Einladung zum internationalen Assitej-Weltkongress nach Kopenhagen). Der Bühnenbildner Fred Pommerehn ist 1964 in Madison, Indiana / USA geboren, arbeitet als Bühnenbildner, Installationskünstler und Lichtdesigner für Schauspiel, Bildende Kunst, Tanz und Musiktheater in Deutschland, Italien, Frankreich, Holland und Belgien, in der Schweiz, in Korea und in den USA. Gemeinsam mit Arnold Dreyblatt gestaltete er 1996 mit Memory Arena III den deutschen Beitrag für die Kulturhauptstadt Kopenhagen. 1998 und 1999 leitete er die Kunstprojekte Urban Dialogs I und II rund um den Berliner Alexanderplatz. In Berlin waren von ihm Arbeiten am Hebbel Theater, am Podewil, in der Werkstatt der Kulturen und in der Akademie der Künste zu sehen. Darüber hinaus arbeitet er als Dozent an der Medienhochschule Karlsruhe und an der Siemens Werksberufsschule Berlin. Mit Carlos Manuel verbindet ihn eine langjährige Zusammenarbeit für die jtw-spandau und das THEATER AN DER PARKAUE. Hier entwickelte er u.a. die Bühnenbilder zu: Der Freischütz von Friedrich Kind, Die Verwandlung nach einer Erzählung von Franz Kafka oder auch Warum kommen Dinge Durcheinander von Gregory Bateson. Die Kostümbildnerin Katja Schmidt ist in Magdeburg geboren und aufgewachsen. Nach einem Praktikum im Bereich Bühnen- und Kostümbild an den Freien Kammerspielen Magdeburg, studierte sie Modedesign und Textil- und Flächendesign unter anderem an der Kunsthochschule Berlin Weißensee. Nach ihrem Studium arbeitete sie als Modedesignerin bevor sie im Januar 2008 als Mitarbeiterin der Abteilung Kostüm an das THEATER AN DER PARKAUE kam. Von 2010 bis 2013 leitete Katja Schmidt die Abteilung Ausstattung + Kostüm des THEATER AN DER PARKAUE. 3 http://www.uni-tuebingen.de/fakultaeten/philosophische-fakultaet/ fachbereiche/philosophie-rhetorik-medien/institut-fuer-medienwissenschaft/personen/poerksen-bernhard-prof-dr.html (letzter Besuch: 13.06.2013)

WAHRHEIT IST DIE ERFINDUNG EINES LÜGNERS 9 Szenenfoto mit Helmut Geffke, Denis Pöpping und Franziska Ritter

WAHRHEIT IST DIE ERFINDUNG EINES LÜGNERS 10 I. Begriffskosmos Foersters Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners beschäftigt sich mit Thesen des radikalen Konstruktivismus, einer Art Wirklichkeitsforschung. Die Kernthese des Konstruktivismus lautet: Der Mensch ist nicht dazu in der Lage, die externe Welt so zu erkennen, wie sie wirklich ist, sondern er konstruiert, beziehungsweise erfindet seine Wirklichkeit. Diese Lehre der Wissenschaft ist eine Erkenntnistheorie und fragt nicht Was erkennen wir?, sondern Wie erkennen wir?. Als Beispiele dienen jeweils Auszüge aus dem Stücktext. a) Wahrnehmung Die Wahrnehmung des Menschen ist nach Foerster unabhängig von den physikalischen Eigenschaften eines Reizes: Kodiert wird nur: so und so viel an dieser Stelle meines Körpers, aber nicht was. [ ] Auch wenn wir dies überraschend finden, sollte es uns doch nicht wundern: da draußen gibt es nämlich in der Tat weder Licht noch Farben, sondern lediglich elektromagnetische Wellen; da draußen gibt es weder Klänge noch Musik, sondern lediglich periodische Druckwellen der Luft; da draußen gibt es keine Wärme und Kälte, sondern nur bewegte Moleküle mit größerer oder geringerer durchschnittlicher kinetischer Energie usw. 1 Einfach gesagt, man nimmt die Welt nicht wahr wie sie ist, sondern erzeugt alles in und aus sich selbst: BERNHARD Man glaubt, dass unsere Sinne uns sagen, was draußen in der Welt vor sich geht. Man sagt, sie würden die Welt abbilden, uns über ihre Gestalt und Natur informieren. HEINZ Die Nerven der verschiedenen Sinne, wie Sehen, Hören, Tasten bringen immer nur die ihnen entsprechenden Empfin- 1 Foerster, Heinz von: Wissen und Gewissen. Kybernetik einer Erkenntnistheorie. S. 56 ff. dungen wie Licht, Schall und Druck hervor. Und dies geschieht, unabhängig von der physikalischen Natur des Reizes, der diese Empfindung verursacht. BERNHARD Unsere Sinne liefern uns also keine naturgetreuen Abbilder der Wirklichkeit? HEINZ Was unsere Sinne erregt, können wir nie wissen; wir wissen nur, was uns unsere Sinne aus diesen Erregungen vorzaubern. BERNHARD Wie würdest Du diesen Vorgang beschreiben? HEINZ Es gibt einen Reiz oder eine Störung, das ist alles, was eine Nervenzelle mitteilt; aber die Ursache dieser Störung ist unklar. Man könnte beispielsweise die Faser eines Sehnervs mit einem Tröpfchen Essigsäure reizen und würde womöglich einen farbigen Lichtklecks wahrnehmen. Oder man könnte eine Geschmackspapille mit ein paar Volt über eine Elektrode stimulieren; und man würde vielleicht den Geschmack von Essig empfinden. Essig wird ein Farbkleks, Elektrizität zu Essig! BERNHARD Was ist dann draußen? HEINZ Es ist ein unglaubliches Wunder, das hier stattfindet. Alles lebt, es spielt Musik, man sieht Farben, erfährt Wärme oder Kälte, riecht Blumen oder Abgase. Aber all dies sind konstruierte Zusammenhänge; sie kommen nicht von außen, sie entstehen im Innern. Wenn man so will, ist die physikalische Ursache des Hörens von Musik, dass einige Moleküle in der Luft ein bisschen langsamer und andere ein bisschen schneller auf

WAHRHEIT IST DIE ERFINDUNG EINES LÜGNERS 11 das Trommelfell platzen. Das nennt man dann Musik. Die Farbwahrnehmung entsteht in der Retina; einzelne Zellgruppen errechnen hier die Empfindung der Farbe. BERNHARD Und trotzdem erleben wir eine duftende, farbenprächtige und klingende Welt. HEINZ Eine Zelle ist ja ein Spezialist für bestimmte und zum Teil eben jeweils ganz verschiedene Empfindungen und Erfahrungen; wenn diese Zellen, diese sensorischen Endorgane, angeregt werden, dann werden diese Reize, Erregungen im Nervensystem zusammen betrachtet und es entsteht ein Reichtum der Empfindungen und Wahrnehmungen. BERNHARD Was geschieht im Innern? HEINZ Dieser ungeheuere Reichtum der Erlebnisse ist gewissermaßen schon eingebaut; er hat nichts mit dem Reiz zu tun, der diese Zellen erregt. Man nimmt nicht den Reiz wahr, sondern das, was der Körper aus ihm macht. Deshalb ist es für Foerster sinnlos vom Sein der Dinge zu sprechen. Die ganze Welt wird im Menschen in einem schöpferischen Prozess erfunden, errechnet oder erkannt. Es gibt also nicht die eine Wirklichkeit, sondern jeder konstruiert sich seine eigene Wirklichkeit. b) Konstruieren von Wirklichkeiten Um kommunizieren zu können, erfinden sich die Menschen einen Bezug, den sie als die Wirklichkeit bezeichnen. Obwohl jeder nur für sich selbst Wahrnehmen kann und sich somit jeweils seine eigene Wirklichkeit erfindet, kann der Mensch über die Sprache in der Gemeinsamkeit Realität konstruieren: BERNHARD Die Rede von der Erfindung der Wirklichkeit erscheint mir wie: Nichts ist wirklich, alles ist zu bezweifeln. HEINZ Wieso? Du sitzt mir gegenüber, und wir sprechen miteinander, wir schütteln uns vielleicht sogar die Hände. Das ist doch keine Illusion. BERNHARD Aber bedeutet das nicht, dass Du eine äußere Realität akzeptierst? HEINZ Nein, das heißt es ganz und gar nicht. Durch das Hören meiner Stimme, das Schütteln meiner Hand und durch die ständige Errechnung der verschiedensten Empfindungen konstruierst Du einen Heinz. HEINZ 2 Und damit wir von einem Heinz und einem Bernhard sprechen können, erfinden wir uns einen Bezug, den wir als die Realität bezeichnen. Wichtig dabei ist jedoch, dass es sich hierbei immer um sprachliche Phänomene handelt. Alle Erklärungen sind nichts anderes als zwei Beobachtungen, die miteinander verknüpft werden. Folglich sind auch alle Gesetze und Regeln vom Menschen selbst durch die Sprache erfunden und können jeweils beliebig verändert werden. Das gilt auch für die so genannten Naturgesetze: Die Bezeichnung Naturgesetz legt nahe, die Natur verhalte sich ähnlich wie Personen unter dem Zwang von Gesetzen; tatsächlich ist die Physik aber eine Erfahrungswissenschaft, und die von ihr aufgestellten Gesetze sind nur Beschreibungen des vorgefundenen Verhaltens. 2 HEINZ Man sieht den Mond an einem Tag an einer bestimmten Stelle und am nächsten Tag an einer anderen; diese beiden Beobachtungen verknüpft man durch ein so genanntes Naturgesetz, das den Mond so meint man dazu gebracht hat, den Ortswechsel zu vollziehen. Das nennt man dann eine Ursache-Wirkung- Erklärung. [ ] 2 http://de.wikipedia.org/wiki/physikalisches_gesetz

WAHRHEIT IST DIE ERFINDUNG EINES LÜGNERS 12 HEINZ 2 Gemäß den Gesetzen von Sir Isaac Newton müsste sich der Planet Merkur zu bestimmten Zeitpunkten an bestimmten Stellen befinden. Das Dumme ist nur, dass der Merkur diesem Gesetz nicht brav Folge leistet. Er findet sich nicht zum vorausgesagten Zeitpunkt an der vorausberechneten Stelle ein. Was macht man nun? Newton oder den Merkur bestrafen? Wer muss ins Gefängnis? Derjenige, der ein Naturgesetz erfunden hat, das den Bewegungen des Merkur nicht angemessen ist oder der Planet, der sich nicht auf die vorausberechnete Weise verhält? c) Facetten der Wahrheit Auch die Wahrheit ist ein Konstrukt des Menschen. Da die Wahrnehmung jeweils im Innern des Individuums geschieht, sind Ansichten und Beobachtungen [ ] nicht absolut, sondern relativ zum Standpunkt eines Beobachters. 3 Die Rede von der Wahrheit macht den anderen Kommunikationspartner direkt oder indirekt zu einem Lügner, was katastrophale Auswirkungen haben kann, wie man an ethnischen, religiösen, politischen Konflikten sieht: Wahrheit bedeutet Krieg: Wer hat recht? Sind der Wein und das Brot, die zum christlichen Abendmahl gereicht werden, wirklich Blut und Körper Christi, oder handelt es sich bei Wein und Brot um Symbole, die das Blut und den Körper darstellen? Um diese Frage zu entscheiden, wird geschlachtet und geschlachtet. Und die Armee, die übrig bleibt, verkündet stolz, im Privatbesitz der Wahrheit zu sein. Sie kann jetzt beginnen die Überlebenden der Gegenseite zu bekehren. 4 Der Wahrheitsbegriff wird von Foerster nicht nur ethisch, sondern auch erkenntnistheoretisch kritisiert. Erklärungsprinzipien, die als Wahrheiten gelten, sind kulturell bedingt und jeweils ganz unterschiedlich. Ob man etwas akzeptiert oder nicht, muss jeder selbst für sich entscheiden: 3 Foerster, Heinz von: Wissen und Gewissen. Bemerkungen zu einer Epistemologie des Lebendigen. S. 116. 4 Foerster, Heinz von: Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. S. 30. HEINZ Vorstellbar ist, dass es auf dem Planeten Venus und auf der Erde Wesen gibt, die behaupten, ihr Planet stünde jeweils im Zentrum. In dem Moment, in dem sich Erdling und Venusier treffen, werden sie sich streiten und einen Krieg beginnen. Wer hat Recht? Wer ist im Besitz der Wahrheit? [ ] Man kann den Erdlingen und den Venusiern zeigen, dass sie, wenn sie dieses Prinzip akzeptieren, nicht beide recht haben können. Das Relativitätsprinzip ist also nicht wahr oder falsch, sondern die Frage ist, ob man es akzeptiert oder nicht. Das ist eine Entscheidung, die jeder für sich treffen muss. Die Venusbewohner und die Erdlinge könnten sich jetzt entscheiden, Heliozentriker zu werden und die Sonne als das Zentrum des Universums anzusehen; sie wären auf diese Weise in der Lage, glücklich zusammen zu leben und auch mit den Marsiern in Frieden zu existieren. Die Tatsache, dass etwas funktioniert, hat somit nichts mit Wahrheit oder Naturgesetzen zu tun, sondern ist lediglich ein Beleg für das Funktionieren: Wieso soll ich dieses Funktionieren jetzt mit diesen lächerlichen acht Buchstaben WAHRHEIT gleichsetzen? Wozu? Um Recht zu behalten? Um dem anderen über den Kopf zu hauen? [ ] Ich will noch einmal betonen, dass ich im Grunde genommen aus der gesamten Diskussion über Wahrheit und Lüge, Subjektivität und Objektivität aussteigen will. Diese Kategorien stören die Beziehung von Mensch zu Mensch, sie erzeugen ein Klima, in dem andere überredet, bekehrt und gezwungen werden. Es entsteht Feindschaft. 5 BERNHARD Du glaubst nicht an den endgültigen Beweis einer Aussage? 5 Foerster, Heinz von: Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. S. 31.

WAHRHEIT IST DIE ERFINDUNG EINES LÜGNERS 13 HEINZ Überhaupt nicht. Aussagen können sich als falsch, aber nicht in einem absoluten Sinn als richtig erweisen. In dem Moment, in dem man von Wahrheit spricht, es kommt der Versuch ins Spiel, andere Auffassungen zu dominieren und andere Menschen zu beherrschen. BERNHARD Es geht allein um das Funktionieren und nicht um die absolute Wahrheit? HEINZ Wahrheit und Lüge stören die Beziehung von Mensch zu Mensch. Es geht darum, nicht zu stolpern in dieser Welt. Und wenn uns dies gelingt, wäre das doch schon Anlass genug, um gemeinsam eine Flasche Champagner zu entkorken. d) Perspektiven für den Alltag Welche Konsequenzen ergeben sich, wenn es keine naturgegebenen Werte und Normen gibt? Wie verhält man sich, wenn es Begriffe wie schön, richtig, gut und wahr nicht mehr gibt? Um sich von einem absoluten Wahrheitsanspruch sprachlich zu entfernen, schlägt Heinz von Foerster vor, von allgemeinen Urteilen wie Es ist so (Sein der Dinge) Abstand zu nehmen und Sätze zu formulieren, die mit Ich finde, dass beginnen (eigene konstruierte Realität). Foerster spricht sich für eine Ethik der Freiheit aus: [Man soll] die Aktivitäten eines anderen nicht einschränken, sondern es wäre gut, sich auf eine Weise zu verhalten, die die Freiheit des anderen und der Gemeinschaft vergrößert. Denn je größer die Freiheit ist, desto größer sind die Wahlmöglichkeiten und desto eher ist auch die Chance gegeben, für die eigenen Handlungen Verantwortung zu übernehmen. Freiheit und Verantwortung gehören zusammen. Nur wer frei ist und immer auch anders agieren könnte, kann verantwortlich handeln. 6 HEINZ Meine Auffassung ist, dass die Freiheit immer existiert. 6 Foerster, Heinz von: Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. S. 36. ICH In jedem Augenblick kann ich entscheiden, wer ich bin. HEINZ Natürlich ist jeder Mensch in ein soziales Netzwerk eingebunden; das Individuum ist auf andere angewiesen und muss mit ihnen tanzen, Wirklichkeit in der Gemeinsamkeit konstruieren. Gerade in Bezug auf die Schule und die Schüler- Lehrer-Beziehung wünscht sich Foerster einen Wandel im Lehrverständnis. Foerster kritisiert, dass vielfach in der Schule eine Frage nur eine Antwort haben darf. Er sieht die Aufgabe der Pädagogik darin, Schüler auf andere Antworten aufmerksam zu machen und sie zu einer Vielfalt der Lösungen und Sichtweisen anzuregen. Foerster vertritt die These, dass alle Prüfungen und Tests nicht den Schüler prüfen, sondern dass die Prüfungen sich selbst prüfen: Tests test tests.. Würde man die gängigen Lehrmethoden nach Foerster weiterdenken, würde der Lehrer, der wissen soll, zum Forscher, der etwas wissen möchte. Im Unterricht sollte, laut Foerster, eine Atmosphäre der Kooperation, des gemeinsamen Suchens und Forschens entstehen: Wir müssten offene Bildungsinstitutionen schaffen, in denen die Lehrenden nicht wissen, welche Ergebnisse bei ihren Veranstaltungen erzielt werden und in denen die Autonomie der Studierenden ernst genommen wird. Stellt Euch vor, es gäbe eine Welt mit Schulen zweiter Ordnung, in denen man das Lernen lernt, das Gestalten gestaltet, das Planen plant - oder das Erfinden erfindet. BERNHARD Was ist sechs? HEINZ Sechs ist die Wurzel aus 36, 5 + 1 und 8 2, 6 ist 2 X 3 und 3 X 2... BERNHARD Die übliche Vorstellung von einem Lehrer ist, dass er alles weiß und die Schüler, nichts wissen. HEINZ Wissen lässt sich nicht vermitteln, es lässt sich nicht wie eine Art Gegenstand, eine Sache oder ein Ding begreifen, das man von A nach B umtopfen kann, um in einem Organismus eine bestimmte Wirkung zu erzeugen.

WAHRHEIT IST DIE ERFINDUNG EINES LÜGNERS 14 BERNHARD Aber zumeist besteht der Unterricht doch darin, dass Bekanntes abgefragt wird. HEINZ Eine Frage ist illegitim, wenn ihre Antwort bereits bekannt ist. Wäre es nicht schön, wenn sich die Schule, vorrangig mit legitimen Fragen befassen würde? Meine Vorstellung ist, dass das Wissen von einem Menschen selbst erzeugt wird und es darauf ankommt, das zu ermöglichen. BERNHARD Und was wird aus dem Lehrer? HEINZ Was macht man, wenn man weiß, dass man nichts weiß? BERNHARD Der Lehrer wird zum Forscher? II. Weiterführendes Material a) Auszüge aus Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners Ein ganz kurzes Theaterstück Heinz von Foerster Mir geht es nicht um diese schreckliche Frage, wer ein für allemal im Recht ist; eine solche Diskussion, in der nur Intoleranz und Streit regieren, interessiert mich nicht. Ich bin niemand, der andere Gedanken widerlegen möchte und dabei den Fehler macht, sich in den anderen zu verbeißen und ihm auf diese Weise immer ähnlicher zu werden. Ich möchte lediglich für eine andere Sicht plädieren, ich will darauf aufmerksam machen, dass man die Sätze eines Konrad Lorenz durchaus umdrehen kann, ja, dass sich überhaupt alles, was so geredet wird, auch auf den Kopf stellen lässt. Wenn wir uns beispielsweise, wie ich gerne nahelegen möchte, als die Erfinder und Erzeuger unserer Umwelt verstehen, dann existiert das Problem der Anpassung überhaupt nicht. Es verschwindet. Denn man kann doch nicht etwas erfinden, was man nicht erfinden kann und was nicht zu einem passt. Also sind wir immer und in jedem Fall angepasst. Und diese Einsicht ist es, die, so meine ich, den Menschen näher zum Menschen bringt: Er wird zum Vater oder zur Mutter aller Dinge und aller Erscheinungen. Bernhard Pörksen Um den Kontrast und die Verschiedenheit der Auffassungen ganz deutlich zu machen, ist es vielleicht sinnvoll, diese in der Sprache der Kausalität zu reformulieren. In der These von Konrad Lorenz wird der Umwelt (und nicht dem Beobachter) das Primat gegeben. Oder in der Sprache der Kausalität: Die Umwelt ist die Ursache der Erfahrungen; und die Folge ist die Anpassung, die mit der allmählichen Erkenntnis der wirklichen Welt gleichgesetzt wird. Sie drehen dieses Wirkungsverhältnis um: Die Erfahrung des Organismus hat das Primat; die Beobachtungen sind die Ursache und das Entstehen der Welt, verstanden als eine Summe von Vorstellungen, ist die Folge. Heinz von Foerster Natürlich, so kann man das sagen, ja. Möglicherweise trägt auch ein ganz kurzes Theaterstück, das ich einmal geschrieben habe, zur Klärung bei. Dieses Theaterstück spielt seinerseits in einem Theater mit Publikum. Plötzlich geht der wunderschöne rote Samtvorhang auf und der Blick auf die Bühne ist frei. Man sieht: einen Baum, eine Frau und einen Mann. Der Mann zeigt auf den Baum und sagt laut und theatralisch: Dort steht ein Baum! Darauf die Frau: Woher weißt Du, dass dort ein Baum steht? Der Mann: Weil ich ihn sehe! Darauf sagte die Frau mit einem kleinen Lächeln: Aha. Und der Vorhang fällt. Ich behaupte, dass dieses