Die kleine Hexe Eine Hexengeschichte wird 50 Jahre alt Muhme ist schon mal so ein Wort, das man nicht mehr kennt. Rumpumpel vielleicht noch eher, auch wenn man nicht weiß, woher. Allgemeingut heißt es irgendwann. Also: Eine Muhme ist zumeist eine Mutterschwester, Tante sagen wir heute dazu. Verallgemeinert war eine Muhme auch eine ältere Verwandte oder sogar Bekannte, Nenntante hieß die damals. Damals, das ist 50 Jahre her. Da galt die Frau noch nicht so viel, Emanzipation kannte man nicht einmal als Namen. Damenbesuch war unerwünscht, und die Ehefrau durfte keinen Beruf ergreifen, wenn die Erlaubnis des Ehemanns nicht vorlag. Zugleich ging die Verfügungsgewalt über das weiblicherseits in die Ehe eingebrachte Vermögen auf den Ehemann über. In der Scheidung galt das Schuldprinzip, was dazu führte, dass sich die (unmündige) Ehefrau mehrmals ü- berlegte, ob sie eine Scheidung von ihrem Mann wollte. War seine Schuld nicht eindeutig zu beweisen, so wurde sie eventuell mittellos. Selbst durch Ehe erworbene Rentenanteile wurden nicht weiter gereicht. Das Szenario könnten wir noch eine ganze Weile weiter führen, aber es würde die Situation der 1950er-Jahre nur noch ein wenig mehr und detaillierter erhellen. Verstanden haben wir bis jetzt sehr deutlich, dass die Rechte der Frau so gar nicht vorhanden waren, während die des Mannes noch erheblich galten. In diese Situation herein erscheint ein harmloses Buch, ein Kinderbuch mit dem unspektakulären Titel Die kleine Hexe, verfasst von einem Herrn Otfried PREUßLER und sehr geschmacksbildend mit schwarzen Strichen illustriert von Winnie GEBHARDT-GAYLER im Verlag Thienemann. Wegen seines fast revolutionären Tenors, wegen der ungewöhnlichen
JJ, Seite 2 von 5 und scheinbar harmlosen Schreibweise wie vielleicht auch wegen des Inhalts oder aber auch / und wegen der Bilder, kommt dieses Buch auf die Auswahlliste des Deutschen Jugendbuchpreises heute würden wir sagen, die des Deutschen Jugendliteraturpreises. Auch wenn viele Menschen der Meinung sind, dass diese Auszeichnung ein Qualitätsmerkmal ist (ich gehöre dazu), so ist doch ein kommerzieller Erfolg (leider) nicht garantiert. In diesem Fall aber wohl doch, denn PREUßLERs Kleine Hexe hat 50 Jahre überlebt. Das sind Äonen in einer Zeit, in der oft genug auch wirklich gute Bilder-, Kinder- oder Jugendbücher bereits nach ein bis zwei Jahren nicht mehr erhältlich sind und / oder die Restauflage von 4.000 verramscht wird. Hier also statt dessen eine immerwährende Neuauflage, zugleich der Verkauf und die Ü- bersetzung in mindestens 47 Sprachen, wobei auch Plattdeutsch oder Rätoromanisch dabei sind. Weltweit sind mehr als 4,3 Millionen Exemplare verkauft worden. Schön, dass es so etwas gibt. Zur Entstehungsgeschichte sagt Preußler >Eines Abends behaupteten unsere kleinen Töchter vor dem Zubettgehen, sie hätten schreckliche Angst. Angst wovor? Vor den bösen Hexen! Ich versuchte ihnen klarzumachen, dass man sich heutzutage vor bösen Hexen nicht mehr zu fürchten brauche, weil es keine mehr gebe. Und warum gibt es keine mehr? Ja, warum eigentlich? Ich gestehe, dass ich mir bis dahin keinerlei Gedanken darüber gemacht hatte. Immerhin dauerte es nicht allzu lang, bis die Antwort gefunden war. Auf diese Weise sind die Geschichten von der kleinen Hexe entstanden. Später habe ich sie zur Probe meinen Schulkindern erzählt und noch später habe ich sie dann aufgeschrieben: für unsere drei kleinen Töchter und für all Kinder, die wissen möchten, weshalb man sich heutzutage vor bösen Hexen nicht mehr zu fürchten bracht.< www.preussler.de/multimedia/fliesstext-hexe.swf
JJ, Seite 3 von 5 Otfried Preußler Die kleine Hexe Mit vielen Zeichnungen von Winnie Gebhardt-Gayler Stuttgart: Thienemann 2007 (1957) 128 Seiten, geb., 9,90 Otfried Preußler wird dieses Jahr im Oktober 79 Jahre alt, das Buch wird in der Nacht vom 30. April auf den 1. Mai 50, und unsere kleine Hexe war damals immerhin schon 127, zwischendurch 127 plus ½ und am Ende 128 Jahre alt. 1830 geboren? Da gab es noch gar kein Deutschland! Napoleon hatte den Rheinbund geformt, schwach genug, um Frankreich selbst nicht gefährlich werden zu können, stark genug aber, um zu Österreich als Puffer zu dienen. Der Wiener Kongress hatte einen schwachen Kern (den Deutschen Bund) in ein starkes Europa gestellt. Die Restauration hielt sich, das Hambacher Fest (1832) war dagegen noch nicht in den Köpfen, obwohl Schwarz-Rot-Gold sich mehr und mehr etablierte. All das taucht natürlich überhaupt nicht in dem Buch auf, darf aber von den Erwachsenen mitgedacht werden, denn der Autor Preußler hat - auch - eine politische Geschichte geschrieben, auch wenn er das vielleicht verneinen würde. Er würde wohl eher das Gute betonen, das in seiner Geschichte siegen darf. Sie hat noch nicht einmal einen Namen, die kleine Hexe, ist für Hexen außerdem noch ziemlich jung, ja, sie ist so jung, dass sie nicht einmal auf dem Blocksbergsfest mitmachen darf! Sie ist aber schlau genug, dass sie sich unter die Hexen dort mischt, um eben doch dabei zu sein. Das Unheil nimmt in Form der Muhme Rumpumpel (siehe oben) seinen Lauf, die kleine Hexe wird von der Oberhexe durch starken Druck der anderen Hexen genötigt bestraft. Allerdings besteht die Möglichkeit, dass sie im nächsten Jahr an dem Blocksbergfest teilnehmen kann. Allerdings darf sie das nur, wenn sie sich ein Jahr lang als gute Hexe bewährt hat.
JJ, Seite 4 von 5 Das will die kleine Hexe denn auch machen. Allerdings verfolgt sie und wir mit ihre Taten so, wie wir sie auch verstehen, wenn wir gut dazu sagen wollen. Später werden wir wissen / erkennen, dass hexengut bestimmt das Gegenteil ist von menschengut. Noch aber verfolgen wir sehr bestimmt mit der kleinen Hexe und ihrem sprechenden Raben Abraxas, der in vielen Einzel- Geschichten je eine große Rolle spielt, die Taten = Kapitel (so um die vier bis sechs Seiten lang). Unsere kleine Hexe hilft den Holzweibern, den Faschingskindern, dem Marktmädchen und führt den Fasching für die Tiere im Wald ein. Selbst dem Besuch des Jungen und seiner Schwester in ihrem Häuschen im Wald (nein, er heißt nicht Hänsel und sie nicht Gretel) oder den Kutscherpferden hilft unsere kleine Hexe, damit sie wie gefordert eine gute Hexe wird und somit aufgenommen wird in die Blocksberg-Feier-Hexen. Wir glauben mit ihr immer noch, dass gut = gut sei, während die Oberhexe doch wohl eher meinte, dass die kleine eine gute Hexe werden solle. Dass das (Menschen-)Gute siegt und wir Leser alle sehr zufrieden sind, kommt durch die vielen kleinen Siege der Kleinen Hexe zu Stande. Frau GEBHARDT-GAYLER zeichnet wahrscheinlich mit Scriptol. Sie benutzt verschiedene Federn, mit denen man einerseits kritzelt, andererseits Konturen schafft. Dabei legt sie wenig Wert auf Räumlichkeit oder Perspektive. Sie bleibt bewusst im Bereich des Naiven. Sie gestaltet ganzseitige Bilder wie Einwürfe in die Texte, übernimmt aber niemals die Initiative. Wenn sie zeichnet, kritzelt, zitiert, dann immer zurückhaltend. Rund 40 Bilder verteilt
JJ, Seite 5 von 5 sie auf die rund 120 Seiten, gönnt den Augen einerseits Lesepausen, fordert andererseits, die Bilder für die Geschichten zu übernehmen. Dass die kleine Hexe bei PREUßLER die freundliche, hilfsbereite, gute und zum Schluss sogar die alleinige Hexe wird, nehmen wir gern zur Kenntnis. Das Buch ist erfrischend aktuell und bedarf wirklich nur weniger Anmerkungen zu Wörtern, mit denen heutige Kinder nichts mehr anfangen können. Muhme, Ulme, Walpurgisnacht, Fastnacht, Schindelmacher, Holz-Sammel-Weiber oder Buckelkörbe. Ich denke, die ersten 50 von bestimmt 100 Jahren sind geschafft. Wer so lange im Blickfeld blieb, muss nicht unbedingt gut sein, kann aber. Hier stimmt beides. Ein weiterer Blick in die Zukunft: Ab Juli 2007 wird es bei Thienemann eine rund 140-seitige broschierte Ausgabe zum Preis von 7,90 geben. Ebenfalls um diese Zeit soll erscheinen: Björn Bauch/ Gabi Hinze * Die kleine Hexe * Kommentar und Kopiervorlagen für den Unterricht (Klasse 2 bis Klasse 3) 32 Seiten mit Illustrationen Broschur, DIN A4 * 14,90 Der Beginn der nächsten 50 Jahre ist also in Arbeit. Ulrich H. Baselau für das JJ (2007-02-11)