Er und sein Bad, er lebt schon ewig im Bad, hier in Lichtenberg, in Berlin, betrachtete es immer als sein Bad, von Anfang an war er hier, wie lange, er weiß es nicht, und kennt auch nichts anderes von der Welt, nur diese Badeanstalt. Weiß nichts von Ländern, von Städten, nichts von Staaten und weiß auch nichts von Politik. Hat immer nur im, mit dem und für das, wie es ordentlich heißt: Stadtbad Lichtenberg gelebt, hat auf sein Bad aufgepasst. Von einem davor weiß er nichts, nichts von Begehungen, nichts von Planungen, Abstimmungen oder Beschlüssen. Sein Werden beginnt mit der Grundsteinlegung, aber da fehlen ihm die Erinnerungen, so wie auch wir uns nicht an die eigene Geburt besinnen können. Winzig war er als die Arbeiter mit den Fundamenten anfingen und je höher der Bau wuchs, umso mehr wuchs auch er. Und als das Dach gedeckt war, da war er zu Hause. Mit dem Innenausbau entstand auch sein Inneres. Und je mehr die Arbeiten fortschritten desto mehr ging es auch mit ihm voran, und es entstand langsam sein Bewusstsein, und irgendwann wurde ihm klar, hier entsteht etwas Großes, eine Badeanstalt, ein richtiges schönes Bad, mit vielen Duschen, Abteilungen für Wannenbäder, Räume für Massagen, für allerlei Anwendungen, welche die Gesundheit fördern und auch die Lebensfreude. Atemlos hatte er gelauscht, wie Architekt und Bürgermeister über die Zukunft seines Bades sprachen. Planten eine römische Therme in Verbindung mit einem
irischen Heißluftbad und Liegeräumen und alles neu und ordentlich, vor allem aber sauber. Nach neusten Erkenntnissen und zum Wohle der Lichtenberger und das alles, so hörte er, in diesen unruhigen, schweren Zeiten. Was schwere Zeiten eigentlich sind, blieb ihm noch unverständlich, seine Zeit war gut. Aber das Größte, das waren zwei riesige Becken, also irgendwann sollten beide mit Wasser gefüllt werden, mit riesigen, unvorstellbaren Mengen sauberen Wassers, dieses ermöglicht durch ausgeklügelte Technik, welche kontrollierend und reinigend eingriff, doch versteckt im Keller den Besuchern verborgen blieb. Nachts malte er sich aus, wie es zugehen wird in seinem Bad. Wenn alle kommen und unter den heißen Duschen sich reinigen und dann schwimmen, natürlich getrennt, so die Ordnung, es gab ja ein Männerbecken und ein Frauenbecken. Jede Schwimmhalle hatte an einer Stirnseite einen Turm, und die Mutigsten würden gewagte Sprünge zeigen, und die vielen anderen sollten nur wagen, vom Beckenrand ins Wasser zu hüpfen. Auf alle Fälle werden viele, viele kommen, sich ein bisschen erholen, ihren Spaß haben, er wird ihnen zusehen und sich freuen, und dies wird dann immer so sein. Sein Bad war jung und modern, und war er nicht selbst jung und modern, vor allem war es sauber und ordentlich, alles nach Plan geschaffen.
Er verstand gleich den Sinn hinter den klugen Regeln, die diesen Betrieb erst ermöglichen sollten. Und er mochte, ja er liebte Ordnung und vor allem Sauberkeit. Also war alles festgelegt und niedergeschrieben, es wurde ausgehängt, gerahmt, gleich im Eingangsbereich für alle Leute zur Kenntnis, dies ist ein Bad und dies sind die Regeln. Was er aber selbst war und nach welchen Regeln er selbst gemacht war, darüber hatte er nie nachgedacht in diesen, in seinen großen Zeiten. Dann, nach Jahren war endlich alles fertig, und nach einer großen Eröffnung, ging der Betrieb richtig los, von nun an waren seine Tage lang und herrlich turbulent. Er passte gut auf auf sein Bad, beobachtete alles und jeden, ihn bemerkte jedoch niemand, keiner der zahlreichen Angestellten, na ja vielleicht mal aus dem Augenwinkel einen Schatten, mehr eine Ahnung als bewusstes Wahrnehmen, ein Besucher sah ihn nie. Er kannte längst jeden Teil seiner Badeanstalt, jeden Raum, jede Fliese und auch jede Kachel, aber alles nur von innen, niemals wäre er auf die Idee gekommen durch den Ausgang nach draußen zu gehen, niemals eine der Türen zu den Sonnenterrassen zu benutzen oder gar über das Dach zu marschieren. Warum auch, war er nicht schon in seinem Paradies, was konnte draußen besser sein? Und hörte er nicht ab und zu Krawalle und noch Schlimmeres, selbst durch diese
schützenden Wände. Immer seine Sorge: wenn bloß nichts kaputt geht. Also marschierte er durch alle Räume, sammelte Müll, sah den Maschinisten über die Schulter, kontrollierte auch den Wohnbereich des Direktors und blieb selbst völlig unentdeckt. Sah, wie Leute schmutzig kamen und sauber gingen, wie sie durchfroren und nass sein Bad betraten und trocken und durchwärmt wieder nach draußen marschierten. Und gelacht wurde auch, und eine Menge Kinder rannten umher. Aber manchmal sah er auch, wie Leute, meist größere Kinder, von der Seite ins Schwimmbecken sprangen, oder ein andermal rauchte gar ein Mann im Kassenbereich der Eingangshalle. Zum Glück gab es da Bademeister und Angestellte, die sofort eingriffen und Ordnung und Sauberkeit wieder herstellten. Aber so was kam vor. Und nach einem besonders schönen Tag, und wenn er dann spät in der Nacht allein im Bad war, kletterte er auf einen Sprungturm, setzte sich ganz ans Ende des Brettes und wippte. In einem Lexikon wäre unter dem Begriff Glück sein Portrait abgebildet gewesen, wenn, ja wenn er jemals wahrgenommen worden wäre. So pflügte sein Bad wie ein Schiff, nicht durch die See, denn diese war ja im Inneren, es pflügte durch die Zeiten, und er war an Bord.
Zeiten ändern sich, und erst ging die Ordnung und dann ging auch die Sauberkeit. Der Ton wurde zackiger und blieb es lange. Langsam ließ die Aufmerksamkeit der Besucher gegenüber dem Bade nach, die Angestellten schienen oft wichtigere Dinge im Kopf zu haben. So musste er feststellen, dass sie ihre Aufgaben nur teilweise erfüllten, und einige blieben sogar ihrer wichtigen Arbeit ganz fern. Auch hörte er vom Krieg, und dieser sollte sogar immer näher kommen, was Krieg heißt begriff er natürlich nicht, auch verstand er dessen Ursprung nicht. So schien ihm das Gehörte als Ganzes Gegenteil zu seinem schönen Bad. Sollten wirklich die gleichen Menschen beides können, ein prächtiges, sauberes Bad bauen mit einer Ordnung und auf der anderen Seite - also außerhalb dessen- einen Krieg machen, mit einer anderen Art Ordnung. Der Betrieb lief weiter, doch fehlte es langsam an diesem und jenem, erst wurden die Fenster nicht mehr geputzt, dann, wenn sie des Nachts durch die Druckwelle einer der gewaltigen Detonationen zerbrachen, wobei er immer mit riesiger Angst in einer Ecke kauerte, nur noch mit Brettern vernagelt. Die Hölle in den Nächten hörte auf, der Krieg war wohl beendet oder zumindest unterbrochen, vieles im Bad war kaputt und eine Weile ging nichts mehr, fassungslos, hilflos hockte er in seinem Bad, außer ein paar letzte Angestellte war keiner mehr
da. Die beiden Becken standen ohne Wasser, und kein Lärm der Badenden erfüllte die Halle. Doch dann wurde der Wannenund Duschbetrieb wieder aufgenommen, er begann zu hoffen, auf die Wiederkehr der großen Zeiten. Es kamen Arbeiter, und seine alte Begeisterung brach wieder in ihm hervor, Neuanfang war ein oft gehörtes Wort. Für ihn ein schönes Wort. Sicher es wurde viel getan, doch eben auch vieles nicht so richtig, und das Bad sah nun älter aus, als es eigentlich war. Das Moderne, auch der Glanz war irgendwie durch den Krieg da draußen, und die fehlende Ordnung im Inneren abhandengekommen. Aber Hauptsache es ging wieder los, und los ging es, die Lichtenberger kamen zurück, duschten, badeten, schwammen, das Bad und somit auch er lebten auf. Auch die Ordnung und Sauberkeit kehrten zurück, wenn er auch bemerken musste, dass mehr Kinder einfach von der Seite ins Becken sprangen als früher. Nun durften auch Männer und Frauen gemeinsam schwimmen, na Hauptsache es ging weiter. Heftige Wettkämpfe sah er und als Kontrast ein straffes Schulschwimmen. So lief es eine lange Zeit, sorgenvoll beobachtete er eine schleichende Abnutzung, die durch die kleineren Reparaturen nicht aufgehalten werden konnten. Flicken ist nun mal nicht ersetzen, da saß er nun in seinem zunehmend maroden, verschlissenen Bad, wieder hilflos, als sich draußen ein weiteres Mal etwas änderte. Ein neues Wort drang an sein Ohr
Aufschwung, und es wurde besser vorgetragen als alles andere zuvor. Er wartete, hatte sich alles gemerkt, was zu tun war, geduldig stand er jeden Tag neben dem Eingang und wartete. Es kam keiner mehr. Die Türen verrammelt, steht sein Bad abgetrennt von der Welt, nur noch mit ihm und vielleicht mal einer Maus. Wenn er was hört, dann rennt er hin, fällt etwas Putz ab, versucht er ihn mit seinen Händen wieder einzufügen, vergebens. Manchmal da kommen welche, wollen aber nicht helfen, machen nur kaputt, stehlen, keine Ordnung, von Sauberkeit träumt er nur noch. Hat viel Zeit zum Träumen. Aus Wochen wurden Jahre, Lichtenberg hat sein Bad vergessen, langsam wird es weniger, und er auch. Sein Bild stünde nun in keinem Lexikon mehr, und er sitzt schon lange nicht mehr auf dem Sprungbrett und wippt. Bald schon wird er mit seinem Bad verloren sein. Andre Kiehtreiber