Die Aktualität des Stückes Die Physiker von Friedrich Dürrenmatt

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Transkript:

MASARYK - UNIVERSITÄT Philosophische Fakultät Institut für Germanistik, Nordistik und Nederlandistik Magisterarbeit Die Aktualität des Stückes Die Physiker von Friedrich Dürrenmatt Bearbeitet von: Anna Dubnová Betreuer: PhDr. Jaroslav Kovář, CSc. Brünn 2010

Ich erkläre, dass ich meine Diplomarbeit selbstständig ohne fremde Hilfe geschrieben habe, und dass ich nur die im Literaturverzeichnis angeführten Quellen verwendet habe.... 2

An dieser Stelle möchte ich mich bei Herrn PhDr. Jaroslav Kovář, CSc. herzlich bedanken. 3

Inhaltverzeichnis Einleitung... 5 1 Friedrich Dürrenmatt 1.1. Biographie...6 1.2. Bibliographie...7 2 Die Physiker 2.1. Allgemeine Informationen...9 2.2. Handlungsübersicht...12 3 Das Theaterstück Die Physiker 3.1. Aufführungen in deutschsprachigen Ländern und in der Welt...18 3.2. Aufführung in tschechischen Theatern...19 4 Friedrich Dürrenmatt: Die Physiker und Bertolt Brecht: Leben des Galilei Ein Vergleich 4.1. Bertolt Brecht......20 4.2. Leben des Galilei.....21 4.3. Der Vergleich......23 5 Die Interpretation der Physiker......27 6 Zur Entstehungsgeschichte......28 7 Geschichte...32 7.1. Der Spielort und der Zeitpunkt... 33 7.2. Figuren...35 8 Strukturen der Komödie 8.1. Strukturierung der Akte......46 8.2. Wirkungsstrategie......50 8.3. Gestaltungselemente......51 9 Sprache und Sprachhaltung...53 9.1. Kommentar, Wort- und Sacherklärung......56 10 Humor (Paradoxie, Kontraste, Groteske)...58 11 Die Moral......63 12 Die Rolle des Zufalls......65 13 Die Bewertung der Aktualität...67 14 Schlusswort...69 15 Literaturverzeichnis...70 4

Einleitung Während meines Studiums interessierte mich die Schweizerische Literatur und besonders ein Autor Friedrich Dürrenmatt. Mein Interesse wird auch durch das Thema meiner Bakkalaureatsarbeit belegt. 1 Meine Diplomarbeit ist in mehrere Teile gegliedert. Im ersten Kapitel führe ich in Kurzform die Informationen über Friedrich Dürrenmatt und über seine Werke an. Im zweiten Teil befasse ich mich mit allgemeinen Informationen über das Theaterstück Die Physiker und widme mich dem Inhalt der Komödie. Im dritten Kapitel beschreibe ich die Aufführungen des Theaterstückes in den deutschsprachigen Ländern und ich erwähne kurz auch die Aufführungen in tschechischen Theatern. Der vierte Teil meiner Diplomarbeit behandelt einen Vergleich zwischen Dürrenmatts Stück Die Physiker und Leben des Galilei von Bertolt Brecht. In den nächsten und umfangreichsten Kapiteln widme ich mich der Interpretation des Theaterstückes Die Physiker. Einige von diesen Kapiteln bestehen aus mehreren Teilen und ich gehe von verschiedenen Interpretationsbüchern aus. Vor allem benutze ich die Bücher und Interpretationen von Oskar Keller, Alexander Ritter, Gerhard P. Knapp, Reinhard Kästler und Heinrich Goertz. Ich beachte unter anderem verschiedene Faktoren, die sich an der Entstehungsgeschichte beteiligten. Ich beschreibe näher die Geschichte, den Spielort und Zeit der Geschichte. Ich skizziere, wie man die Figuren analysieren kann. Weiter widme ich mich der Sprache der Physiker und dessen Sprachmittel. Es interessiert mich auch die Art und Weise, wie Dürrenmatt den Humor ausdrückt. Und nicht zuletzt erwähne ich die Moral und die Rolle des Zufalls in diesem Werk. In dem letzten Kapitel beschäftige ich mich mit dem Begriff Aktualität des Theaterstückes, d. h. inwieweit Die Physiker immer aktuell bleiben. 1 http://is.muni.cz/th/180410/ff_b?info=1;zpet=%2fvyhledavani%2f%3fsearch%3danna%20dubnov a%20agenda:th%26start%3d1 (www.is.muni.cz archiv závěrečných prací absolventů) 5

1. Friedrich Dürrenmatt 1.1. Biographie Wie ich in der Einleitung sagte, habe ich über Friedrich Dürrenmatt schon geschrieben. Um Wiederholungen zu verhindern, schreibe ich die Biographie und Bibliographie nur in Kurzform. Ich erwähne nur Grundinformationen und für ausführliche Informationen steht meine Bakkalaureatsarbeit zur Verfügung. 2 Friedrich Dürrenmatt, ein sehr bekannter schweizerischen Dramatiker, Autor vieler Novellen und Essayist, wurde am 5. Januar 1921 im Dorf Konolfingen im Emmental (Kanton Bern) geboren. Der Autor absolvierte in den Jahren 1928 bis 1933 die Grundschule in Stadeln bei Konolfingen und von 1933 bis 1935 besuchte er die Sekundarschule im Nachbardorf Großhöchstetten. 1935 zog die Familie nach Bern um, wo er zweieinhalb Jahre ein Gymnasium besuchte und dann am Humboldtianum studierte. Im Jahr 1941 legte er das Abitur ab und begann Literatur und Philosophie in Bern zu studieren (1941/42). Es folgte ein Philosophiestudium in Zürich (1942/43) und in Bern (1943-1945). Was sein Privatleben betrifft, heiratete er im Jahr 1946 nach kurzer Bekanntschaft die Schauspielerin Lotti Geißler und sie hatten zusammen drei Kinder (Peter, Barbara, Ruth). Dürrenmatts Ehefrau Lotti war oft krank und im Januar 1983 starb sie. Am 8. Mai 1984 heiratete er die Schauspielerin und Regisseurin Charlotte Kerr. Friedrich Dürrenmatt starb im Alter von 69 Jahren, am 14. 12. 1990 an den Folgen eines Herzinfarkts in seinem Haus in Neuchâtel. 3 2 http://is.muni.cz/th/180410/ff_b?info=1;zpet=%2fvyhledavani%2f%3fsearch%3danna%20dubnov a%20agenda:th%26start%3d1 (www.is.muni.cz archiv závěrečných prací absolventů) 3 Goertz, Heinrich: Dürrenmatt. Trans. Jiřina a Lenka Brücknerovy. Votobia, Olomouc, 1997 6

1.2. Bibliographie Was das ganze Schaffen von Dürrenmatt betrifft, möchte ich an dieser Stelle nicht alle Werke erwähnen, es nicht einmal versuchen. Dürrenmatts Werk ist sehr umfangreich.. Ich erwähne seine Werke ohne nähere Beschreibungen. Werkübersicht mit Entstehungsdaten 4 Die Uraufführungsdaten oder die Gattungsangaben sind in Klammern angeführt. 1945 Das Bild des Sisyphos (Erzählung) 1946 Die Falle (Erzählung) Die Stadt (Romanfragment) Pilatus (Erzählung) Es steht geschrieben (1947) Der Doppelgänger (Hörspiel) 1947 Der Blinde (1948) 1948 Romulus der Große (1949; zweite Fassung 1957) 1949 Der Turmbau von Babel (vom Autor vernichtet) 1950 Die Ehe des Herrn Mississippi (1952) Der Richter und sein Henker (Kriminalroman) 1951 Der Verdacht (Kriminalroman) Der Prozeß um des Esels Schatten (Hörspiel) Der Hund (Prosastück) Der Tunnel (Prosastück) 1952 Nächtliches Gespräch mit einem verachteten Menschen (Hörspiel) Stranitzky und der Nationalheld (Hörspiel) 1953 Ein Engel kommt nach Babylon (1953) veränderte Fassung 1957 1954 Herkules und der Stall des Augias (Hörspiel) Schauspiel 1963 Das Unternehmen Wega (Hörspiel) Theaterprobleme (Theoretische Schrift) 1955 Grieche sucht Griechin (Prosakomödie, Filmdrehbuch) 4 Nach Brock-Sulzer und Internetquellen http://www.dieterwunderlich.de/friedrich_duerrenmatt.htm [10.11.2010] 7

Der Besuch der alten Dame (1956) 1956 Die Panne (Hörspiel, später Erzählung) Abendstunde im Spätherbst (Hörspiel) 1957 Das Versprechen (Kriminalroman, urspr. Drehbuch zum Film: Der Richter und sein Henker) 1958 Frank der Fünfte, Oper einer Privatbank (1959) 1959 Vortrag über Schiller, anläßlich der Verleihung des Schillerpreises 1961 Die Physiker (1962) 1963 Die Heimat im Plakat (Satirische Zeichnungen) 1964 Neufassung von Frank der Fünfte Der Meteor (1966) Theater-Schriften und Reden (1966) König Johann (1968) nach Shakespeare Play Strindberg (1969) nach Strindbergs Totentanz 1969 Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht (Eine kleine Dramaturgie der Politik) Titus Andronicus (1970) nach Shakespeare 1970 Sätze aus Amerika ( Krit. Anmerkungen zu einer Reise) Porträt eines Planeten (1970) Düsseldorfer Fassung (Züricher Fassung 1971) 1971 Der Sturz (Erzählung) 1972 Dramaturgisches und Kritisches (Theater Schriften und Reden II) 1972 Der Mitmacher (Komödie) 1975 Die Frist (Komödie) Neufassung 1980 1978 Mister X macht Ferien (Fragment) 1980 Dichterdämmerung (Komödie) 1983 Achterloo (Komödie) 1985 Minotaurus 1986 Rollenspiele 1988 Achterloo IV 1989 Durcheinandertal 8

2. Die Physiker 2.1. Allgemeine Informationen Die Physiker ist eine Komödie in zwei Akten, die im Jahr 1961 entstand und am 21., 22. und 23. Februar 1962 unter der Regie von Kurt Horwitz im Schauspielhaus Zürich uraufgeführt wurde. Die Komödie wurde an drei Tagen aufgeführt. Es war nicht wegen ihrer Länge, sondern das Ereignis einer Uraufführung eines spektakulären Stückes des großen deutschsprachigen Schweizer Autors war es, was nach Verdreifachung...verlangte. 5 Die Zahl der angemeldeten Journalisten war ganz enorm. Die Aufführung war nicht nur dramaturgisch gut vorbereitet, sondern auch durch die Werbung. Der Inhalt blieb vor der Aufführung unbekannt, und das ganze wurde dem Publikum als gut verpackte Überraschung offeriert. Die Aufführung wurde ein großer Erfolg. 6 Als Illustration führe ich auf der folgenden Seite einen Theaterzettel an. 7 5 Plett, Peter C. : Dokumente zu Friedrich Dürrenmatt Die Physiker. Arbeitsmaterialien Deutsch. Ernst Klett Verlag, Stuttgart, 1972 S.28 6 Knopf, Jan: Friedrich Dürrenmatt. Autorenbücher. C. H. Beck sche Verlagsbuchhandlung (Oscar Beck), München, 1976 S. 106 7 Plett, Peter C. : Dokumente zu Friedrich Dürrenmatt Die Physiker. Arbeitsmaterialien Deutsch. Ernst Klett Verlag, Stuttgart, 1972 S.30 9

10

Ich kann nicht unbemerkt lassen, dass hauptsächlich Therese Giehse auf der Bühne die weibliche Rolle in den Theaterstücken von Dürrenmatt verkörperte. 8 In den Physikern spielt sie die Rolle Mathilde von Zahnd und diese Rolle wurde gerade für sie geschrieben. Friedrich Dürrenmatt sagte dazu: Daß die Irrenärztin in der ersten Fassung ein Irrenarzt war, stimmt. Therese Giehse las diese Fassung, seufzte und meinte, den Irrenarzt möge sie gern spielen, worauf ich aus ihm eine Frau machte, eine Vorläuferin der Unsterblichen in der FRIST. 9 Der Titel Die Physiker trägt den Untertitel Eine Komödie in zwei Akten und die Widmung ist Für Therese Giehse und der Titel wurde von den drei Hauptcharakteren, die als Patienten in einer privaten psychiatrischen Klinik leben, abgeleitet. Der Stoff der Physiker fällt Dürrenmatt gleichzeitig wie der des Meteor bei einem Kuraufenthalt im Sommer (August/September) 1959 in Vulpera im Unterengadin ein, mit der Niederschrift beginnt er eineinhalb Jahre später, im Januar 1961. 10 Das Stück erscheint im gleichen Jahr in überarbeiteter Form mit dem Untertitel Eine Komödie in zwei Akten im Verlag der Arche, in Zürich, ab dem 16. Tausend mit der Widmung an Therese Giehse, ab dem 25. Tausend mit einer kleinen Änderungen in der Schlussszene. Im Jahr 1980 überarbeitete Dürrenmatt das Werk in der Endfassung für seine Werkausgabe. 8 Sie wurde am 6.3.1898 in München geboren, wo sie am 3.3.1975 auch verstorben ist. Sie ging im Jahr 1933 in die Emigration. Sie leitete das literarische Kabarett Die Pfeffermühle zusammen mit Erika Mann erst in der Schweiz und anderen europäischen Ländern, später in den USA. Im Jahr 1937 begann sie am Züricher Schauspielhaus tätig zu sein und von 1949 spielte Therese Giehse an Brechts Berliner Ensemble und er selbst nannte sie einmal die größte Schauspielerin in Europa. (Kästler, Reinhard: Erläuterungen zu Friedrich Dürrenmatt. Die Physiker. C. Bange Verlag, Hollfeld 1994) 9 Arnold, Heinz Ludwig: Text+Kritik. Zeitschrift für Literatur. Friedrich Dürrenmatt I. Johannesdruck Hans Pribil KG, München, 1980 S. 24 10 Dürrenmatt, Friedrich: Die Physiker. Eine Komödie in zwei Akten. Neufassung 1980. Diogenes Verlag AG Zürich S. 94 Nachweis 11

2.2. Handlungsübersicht ( nach der Neufassung 1980) Personen Fräulein Doktor Mathilde von Zahnd Irrenärztin Marta Boll Oberschwester Monika Stettler Krankenschwester Uwe Sievers Oberpfleger McArtur Pfleger Murillo Pfleger Herbert Georg Beutler, genannt Newton Patient Ernst Heinrich Ernesti, genannt Einstein Patient Johann Wilhelm Möbius Patient Missionar Oskar Rose Frau Missionar Lina Rose Adolf-Friedrich, Wilfried-Kaspar und Jörg-Lukas - ihre Buben Richard Voß Kriminalinspektor Guhl Polizist Blocher Polizist Gerichtsmediziner Das Theaterstück wird streng unter drei Einheiten (Raum, Zeit und Handlung) gespielt. Die Geschichte spielt in einem Salon einer bequemen, wenn auch etwas verlotterten Villa des privaten Sanatoriums Les Cerisiers (die Kirschbäume). 11 Die Namengebung Les Cerisiers ist sinnbildlicher Kontrapunkt (Kirsche repräsentiert ein Symbol von Weiblichkeit, Sinnlichkeit) zu dem unweiblichen Machtwahn der Anstaltsleiterin Fräulein Doktor Mathilde von Zahnd. 12 Die ganze Geschichte läuft an einem sonnigen Tag in November ab. 11 Dürrenmatt, Friedrich: Die Physiker. Eine Komödie in zwei Akten. Neufassung 1980. Diogenes Verlag AG Zürich S. 11 12 Ritter, Alexander: Erläuterungen und Dokumente. Friedrich Dürrenmatt. Die Physiker. Reklam, Stuttgart, 1991 S.13 12

Im Nervensanatorium leben drei Physiker Newton, Einstein und Möbius. Der letzte behauptet, dass ihm der König Salomo erscheint. Die Handlung beginnt mit dem Mord an einer von den Krankenschwestern und zwar an der zweiundzwanzigjährigen, aus Kohlwang stammenden Irene Straub. INSPEKTOR der zweite Unglücksfall innert drei Monate in der Anstalt Les Cerisiers. Er zieht ein Notizbuch hervor. Am zwölften August erdrosselte ein Herbert Georg Beutler, der sich für den großen Physiker Newton hält, die Krankenschwester Dorothea Moser. Er steckt das Notizbuch wieder ein. Auch in diesem Salon. Mit Pflegern wäre das nie vorgekommen. 13 Das Sanatorium führt Fräulein Doktor Mathilde von Zahnd, eine bucklige fünfundfünfzig Jahre alte Jungfrau. Den ersten Akt bilden die Gespräche zwischen Inspektor und Newton, Inspektor und Fräulein Doktor, Fräulein Doktor und Frau Missionar Lina Rose, der ehemaligen Ehefrau von Möbius, die jetzt die Ehefrau des Missionars Oskar Rose ist und sie will das letzte Mal ihren ehemaligen Ehemann sehen. Das Wiedersehen von Möbius und seiner Familie endet in einem Fiasko einer von Möbius fingierten Attacke. Und Lina Rose wird ein neues Leben mit ihrem Ehemann auf Marianen beginnen. Möbius lebt schon 15 Jahre im Sanatorium und die ganze Therapie wurde von seiner Frau finanziert, was zu teuer war und sie kann es sich nicht mehr leisten. Selbst Möbius sagte Schwester Monika dazu, dass Verrücktsein kostet und schon zu lange zahlte seine gute Lina bestialische Summen für die Therapie. Er lässt das alles zu und darum fingiert er die Attacke. Nach dieser Szene folgt ein Gespräch zwischen Möbius und der Krankenschwester Monika, sie stellen fest, dass sie einander lieben. Der erste Akt endet mit dem Mord an Monika Stettler: Er (Möbius) reißt den Vorhang herunter und über sie. Kurzer Kampf. Die Silhouetten sind nicht mehr sichtbar. Dann Stille. Die Türe von Zimmer Nummer 3 öffnet sich. Ein Lichtstrahl dringt in den Raum. Newton steht in der Türe im Kostüm seines Jahrhunderts. Möbius geht zum Tisch, nimmt die Manuskripte zu sich. NEWTON Was ist geschehen? MÖBIUS geht in sein Zimmer. Ich habe Schwester Monika Stettler erdrosselt. 14 13 Dürrenmatt, Friedrich: Die Physiker. Eine Komödie in zwei Akten. Neufassung 1980. Diogenes Verlag AG Zürich S. 16 14 Ebenda S. 53 13

Der zweite Akt beginnt mit der Morderhebung Monika Stettler und mit einem Gespräch zwischen Inspektor und Fräulein Doktor. Nach diesem unglücklichen Ereignis werden die Krankenschwestern durch Männerpfleger ersetzt. Möbius behauptet, dass alles die Arbeit des Salomos sei, dass er es ihm befahl. Es folgt ein kurzes Gespräch zwischen Inspektor und Möbius und danach ein langes Schlussgespräch zwischen Möbius, Newton und Einstein und dann auch mit den neuen Pflegern und im Finale mit Fräulein Doktor. Es wird ans Tageslicht kommen, das Newton und Einstein Vertrauensmänner sind, jeder von ihnen arbeitet für einen anderen Geheimdienst. Newton ist in Wirklichkeit Alec Jasper Kilton, der Begründer der Entsprechungslehre, der nur den Verrückten spielte um Möbius auszuspionieren: NEWTON Um hinter den Grund Ihrer Verrücktheit zu kommen. Mein tadelloses Deutsch ist mir im Lager unseres Geheimdienstes beigebracht worden, eine schreckliche Arbeit. 15 Newton musste die Krankenschwester Dorothea umbringen, weil sie alles durchschaute. Er musste seinen Wahnsinn durch einen Mord endgültig beweisen. NEWTON Schwester Dorothea hielt mich nicht mehr für verrückt, die Chefärztin nur für mäßig krank, es galt meinen Wahnsinn durch einen Mord endgültig zu beweisen. Sie, das Poulet à la broche schmeckt aber wirklich großartig. 16 Weiter wird festgestellt, dass Einstein auch kein Irrer ist, in Wirklichkeit heißt er Joseph Eisler, er ist ebenfalls Physiker. Mitglied eines Geheimdienstes. Aber eines ziemlich anderen. Er ist der Entdecker des Eisler-Effekts, neunzehnhundertfünfzig verschollen. Sie beide und auch ihre Geheimdienste halten Möbius für den größten Physiker aller Zeiten. Beide wollen Möbius überzeugen gerade mit ihrem Geheimdienst zusammenzuarbeiten, weil sie von seinen Entdeckungen wissen und sie seine Dissertation über Feldtheorie und die Gravitationslehre lasen. Möbius spiegelt den Irren nur vor. Er behauptet, dass ihm der König Salomo erscheint. 15 Dürrenmatt, Friedrich: Die Physiker. Eine Komödie in zwei Akten. Neufassung 1980. Diogenes Verlag AG Zürich S. 62 16 Ebenda S. 63 14

MÖBIUS...Soll ich den Unschuldigen spielen? Was wir denken, hat seine Folgen. Es war meine Pflicht, die Auswirkungen zu studieren, die meine Feldtheorie und meine Gravitationslehre haben würden. Das Resultat ist verheerend. Neue, unvorstellbare Energien würden freigesetzt und eine Technik ermöglicht, die jeder Phantasie spottet, falls meine Untersuchung in die Hände der Menschen fiele. EINSTEIN Das wird sich kaum vermeiden lassen. NEWTON Die Frage ist nur, wer zuerst an sie herankommt. 17 EINSTEIN Es tut mir leid, daß die Angelegenheit ein blutiges Ende findet. Aber wir müssen schießen. Aufeinander und auf die Wärter ohnehin. Im Notfall auch auf Möbius. Er mag der wichtigste Mann der Welt sein, seine Manuskripte sind wichtiger. MÖBIUS Meine Manuskripte? Ich habe sie verbrannt. Totenstille. EINSTEIN Verbrannt?... Es ist zum Wahnsinnigwerden. NEWTON Offiziell sind wir es ja schon. 18 Schließlich überzeugt Möbius beide Kernphysiker im Irrenhaus zu bleiben, weil es in dieser Situation ist nur diese eine Möglichkeit gibt frei zu bleiben. Und wenn alles ziemlich nach happy End aussieht, kommt der Handlungswandel in der Gestalt des Fräuleins Mathilde von Zahnd. Sie ist der einzige wirkliche Narr in diesem Irrenhaus. Sie weiß schon alles über Einstein und Newton und sie fand Manuskripte von Möbius, kopierte sie und noch mehr sie behauptet, dass ihr König Salomo erscheint. Zur Illustration zitiere ich den ganzen Auftritt der Irrenärztin: FRL. DOKTOR Es ist sinnlos, Möbius, ich auf mich zu stürzen. So wie es sinnlos war, Manuskripte zu verbrennen, die ich schon besitze... Was euch umgibt, sind nicht mehr die Mauern einer Anstalt. Dieses Haus ist die Schätzkammer meines Trusts. Es umschließt drei Physiker, die allein außer mir die Wahrheit wissen. Was euch in Bann hält, sind keine Irrenwärter: Sievers ist der Chef meiner Werkpolizei. Ihr seid in euer eigenes Gefängnis geflüchtet. Salomo hat durch euch gedacht, durch euch gehandelt, und nun vernichtet er euch. Durch mich...(sie spricht alles still und fromm) Ich aber übernehme seine Macht. Ich fürchte mich nicht. Meine Anstalt ist voll von verrückten Verwandten, mit Schmuck behängt und Orden. Ich bin die letzte Normale meiner Familie. Das Ende. Unfruchtbar, nur noch zur 17 Dürrenmatt, Friedrich: Die Physiker. Eine Komödie in zwei Akten. Neufassung 1980. Diogenes Verlag AG Zürich S. 70 18 Ebenda S. 71 15

Nächstenliebe geeignet. Da erbarmte sich Salomo meiner. Er, der tausend Weiber besitzt, wählte mich aus. Nun werde ich mächtiger sein als meine Väter. Mein Trust wird herrschen, die Länder, die Kontinente erobern, das Sonnensystem ausbeuten, nach dem Andromedanebel fahren. Die Rechnung ist aufgegangen. Nicht zugunsten der Welt, aber zugunsten einer alten, buckligen Jungfrau. 19 Der Amoklauf der Weltgeschichte beginnt; die Irre baut ihr Imperium auf. 20 Am Ende des zweiten Aktes wenden sich die Physiker an die Zuschauer und sie stellen sich als Newton, Einstein und König Salomo vor. Das Theaterstück enthält als Anhang 21 Punkte zu den Physikern. (Das Manuskript der 21 Punkte zu den Physikern, reproduziert im Programmheft der Uraufführung, ist mit dem 13. Februar 1962 datiert.) 1. Ich gehe nicht von einer These, sondern von einer Geschichte aus. 2. Geht man von einer Geschichte aus, muß sie zu Ende gedacht werden. 3. Eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat. 4. Die schlimmstmögliche Wendung ist nicht voraussehbar. Sie tritt durch Zufall ein. 5. Die Kunst des Dramatikers besteht darin, in einer Handlung den Zufall möglichst wirksam einzusetzen. 6. Träger einer dramatischen Handlung sind Menschen. 7. Der Zufall in einer dramatischen Handlung besteht darin, wann und wo wer zufällig wem begegnet. 8. Je planmäßiger die Menschen vorgehen, desto wirksamer vermag sie der Zufall zu treffen. 9. Planmäßig vorgehende Menschen wollen ein bestimmtes Ziel erreichen. Der Zufall trifft sie dann am schlimmsten, wenn sie durch ihn das Gegenteil ihres Ziels erreichen: Das, was sie befürchteten, was sie zu vermeiden suchten (z. B. Ödipus) 10. Eine solche Geschichte ist zwar grotesk, aber nicht absurd (sinnwidrig). 19 Dürrenmatt, Friedrich: Die Physiker. Eine Komödie in zwei Akten. Neufassung 1980. Diogenes Verlag AG Zürich S. 84 20 Knopf, Jan: Friedrich Dürrenmatt. Autorenbücher. C. H. Beck sche Verlagsbuchhandlung (Oscar Beck), München, 1976 S. 100 16

11. Sie ist paradox. 12. Ebensowenig wie die Logiker können die Dramatiker das Paradoxe vermeiden. 13. Ebensowenig wie die Logiker können die Physiker das Paradoxe vermeiden. 14. Ein Drama über die Physiker muß paradox sein. 15. Es kann nicht den Inhalt der Physik zum Ziele haben, sondern nur ihre Auswirkung. 16. Der Inhalt der Physik geht die Physiker an, die Auswirkung alle Menschen. 17. Was alle angeht, können nur alle lösen. 18. Jeder Versuch eines Einzelnen, für sich zu lösen, was alle angeht, muß scheitern. 19. Im Paradoxen erscheint die Wirklichkeit. 20. Wer dem Paradoxen gegenübersteht, setz sich der Wirklichkeit aus. 21. Die Dramatik kann den Zuschauer überlisten, sich der Wirklichkeit auszusetzen, aber nicht zwingen, ihr standzuhalten oder sie gar zu bewältigen. Es handelt sich um eine Lesehilfe, oder zusätzlich ein Deutungsschlüssel des Stückes und zugleich auch um ein didaktisches Substrat der Komödie. Diese Punkte können auch für ein besseres Verstehen dienen. 17

3. Das Theaterstück Die Physiker 3.1. Aufführungen in deutschsprachigen Ländern und in der Welt Die deutsche Erstaufführung fand am 23.9.1962 in den Kammerspielen in München statt (unter Regie von Hans Schweikart). Es folgen Inszenierungen im ganzen deutschen Sprachraum, wie z. B. in Hamburg, Berlin, Frankfurt, Hannover, Düsseldorf... Ernst Wendt, ein deutscher Theaterregisseur, hat sich das Vergnügen gemacht, eine ganze Reihe deutscher Aufführungen zu sehen und zu vergleichen. Ich ewähne ein paar Worte aus seinem Bericht: In allen Aufführungen, die ich sah, war das Fräulein Doktor die Interessante Figur....oder An die Giehse reicht keine der sechs Buckligen, die ich sah, heran!... 21 In den Jahren 1962/63 sind Die Physiker das meistgespielte Stück auf deutschen Bühnen (über 50 Bühnen) und danach folgen Erstaufführungen in der ganzen Welt, z. B. in Belgrad, Lima, Johannesburg, Mexico-City, London (am 9. Januar 1963 am Aldwych Theatre, Regie von Peter Brook), New York (am 13. Oktober 1964 am Martin Beck Theatre, Regie von Peter Brook). In demselben Jahr wird das Stück für die ARD (Co-Produzent Süddeutscher Rundfunk) als Fernsehspiel bearbeitet und am 5. November 1964 unter der Regie von Fritz Umgelter erstausgestrahlt. Im Jahre 1980 entsteht Neufassung 1980, die keine grundsätzlichen Änderungen am Text bringt. Vor allem zu Beginn der achtziger und auch in den neunziger Jahren wurden Die Physiker wieder zu den meistgespielten Bühnenstücken des deutschen Sprachraums gezählt. 22 21 Plett, Peter C. : Dokumente zu Friedrich Dürrenmatt Die Physiker. Arbeitsmaterialien Deutsch. Ernst Klett Verlag, Stuttgart, 1972 S. 32 22 Dürrenmatt, Friedrich: Die Physiker. Eine Komödie in zwei Akten. Neufassung 1980. Diogenes Verlag AG Zürich S. 94 Nachweis 18

3.2. Aufführung in den tschechischen Theatern Dürrenmatts Die Physiker wurden erstmals in dem F. X. Šalda-Theater in Reichenberg 1963 aufgeführt. In demselben Jahr folgen Aufführungen in den Stadttheatern in Prag und nicht lange danach erscheinen Die Physiker auch als Buch. In den sechzigen Jahren dominieren Die Physiker auf den tschechischen Bühnen. Man kann sagen, dass die Veränderungen von Dürrenmatts Repertoires in den tschechischen Theatern unserer politischen Situation entsprechen. Mit dem Einstieg der gesellschaftlichen Normalisierung mussten reformatorische Stücke (wie zum Beispiel Romulus der Grosse oder Herkules und der Stall des Augias ) von den tschechischen Bühnen verschwinden und die bewährten Stücke Der Besuch der alten Dame und Die Physiker dominierten wieder. Dürrenmatts Dramaturgie wurde noch bis zum Jahr 1977 geduldet, bis aus dem unbequemen Dramatiker der verbotene Dramatiker für die nächsten zehn Jahre wurde. Der Grund dazu war nicht künstlerisch, aber ziemlich klar: Friedrich Dürrenmatt wurde zum Unterstützer der Opposition gegen die Normalisierung. Nach dem politischen Umsturz im November 1989 wurden seine Stücke wieder aufgeführt. 23 Was Die Physiker betrifft, wird dieses Theaterstück noch immer auf den tschechischen Bühnen aufgeführt. Zum Beispiel stehen Die Physiker nächstes Jahr im Programm des J.K.Tyl-Theaters in Pilsen (18.6.2011). 24 Im Jahr 2005 fand eine Studentenaufführung in Brünn statt, die im Rahmen Dies Academicus Brunensis 2005 realisiert wurde. Die Premiere wurde am 11.5.2005 an der Fakultät für Informatik MU gespielt und die Schlusstheatervorstellung fand am 17.5.2005 in Husa na provázku Theater statt. 25 23 Dürrenmatt, Friedrich: Die Physiker. Eine Komödie in zwei Akten. Neufassung 1980. Diogenes Verlag AG Zürich, 1998 Dürrenmatt, Friedrich: Hry. Divadelní ústav, 2006 (Trans. Jiří Stach Diogenes Verlag AG Zürich, 1986) 24 http://www.djkt-plzen.cz/premiery/premiery_2011_c.php#fyzikove [5.11.2010] 25 http://www.muni.cz/fss/research/publications/762359/?lang=cs [28.10.2010] 19

4. Friedrich Dürrenmatt: Die Physiker und Bertolt Brecht: Leben des Galilei Ein Vergleich 4.1. Bertolt Brecht Das Theaterstück Leben des Galilei dankt seine Entstehung dem einflussreichen deutschen Dramatiker und Lyriker des 20. Jahrhunderts und zwar Bertolt Brecht (1898 1956). Nach dem Machtantritt Hitlers lebte er in Österreich, in der Schweiz, in Frankreich, in der Tschechoslowakei, Schweden, Finnland, Dänemark und dann in den USA. Nach der Rückkehr nach Deutschland im Jahr 1948 begründete er mit seiner Ehefrau Helene Weigel das Berliner Ensemble und hier realisierte er die Prinzipien eines epischen Theaters. Er schrieb viele erfolgreiche Stücke, stichweise z. B. Die Dreigroschenoper (1928), Mutter Courage und ihre Kinder (1939), Der gute Mensch von Sezuan (1939)... Daneben bearbeitet er auch alte Stoffe wie zum Beispiel Sophokles-Antigone und einige Werke von anderen Autoren (Molière, William Shakespeare, Gerhart Hauptmann, Anna Seghers und anderen). Daneben schrieb er auch Lyrik hierzu gehören die Gedichtsammlungen. 26 26 http://de.wikipedia.org/wiki/bertolt_brecht#das_werk [4.10.2010] http://www.dhm.de/lemo/html/biografien/brechtbertolt/ [17.10.2010] 20

4.2. Leben des Galilei Galileo Galilei (1564 1642) war ein italienischer Philosoph, Mathematiker, Physiker und Astronom. Das Theaterstück ist in seinen Lebensjahren in Italien situiert. Das epische Drama verfasst Bertolt Brecht im dänischen Exil während drei Wochen im Jahr 1938. Das Stück wurde erstmals 1943 im Schauspielhaus Zürich aufgeführt (Regie und Hauptheld von Leonard Steckel gespielt). Dieses Stück aus dem Jahr 1938 wurde in den Jahren 1945-1947 bearbeitet in der neuen Version zweiten, amerikanischen Version. Die dritte Version entstand im Jahr 1955 darauf basierte die Inszenierung für das Berliner Ensemble. 27 Auf den tschechischen Bühnen wurde das Leben des Galilei erstmals am 31.Mai 1957 aufgeführt und zwar im Staatstheater in Brünn (Mahenstheaterszene). Der tschechische Theaterregisseur, Literatur- und Theaterkritiker Jan Grossman äußerte sich über das Theaterstück und seine Versionen. Indem Galilei in der ersten Version ein schlauer Gelehrter war, veränderte er sich in der zweiten und dritten Version auf die andere Seite: er nahm seine Lehre aus Furcht zurück, aber nicht einmal sein wissenschaftliches Werk ist fähig sein gesellschaftliches Ausfallen zu entschuldigen. Galilei ist also eine von den Variationen komplizierte Gestalt, die je nach den Sympathien des Autors Verwandlungen unterliegt. Diese Verwandlungen hängen mit den großen Ereignissen der deutschen und Weltgeschichte zusammen. Mit Nazismus und mit der Spaltung des Urankernes der deutschen Wissenschaftler erste Version, mit dem Abwurf der Atombombe in Hiroschima zweite Version, mit der Entwicklung der Atom-, Hydrogen- und Kobaltbomben und der Raketenwaffen in den letzten Jahren und mit der Remilitarisierung Westdeutschlands. 28 Selbst Brecht sieht die Ursachen des Verrates des Galilei, aber er entschuldigt ihn nicht damit, er beschuldigt den Helden, aber er sieht seine Schuld im 27 http://de.wikipedia.org/wiki/leben_des_galilei [4.10.2010] Brecht, Bertolt: Život Galileiho. Trans. Rudolf Vápeník, Ludvík Kundera (Poesie). Artur, Praha, 2010 (Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main, 1948) S.150 28 Ebenda S. 151 21

Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Kontext und er lässt dem Helden seine ganze menschliche und Entdeckergröße. Vom zeitlosen und künstlerischen Wert des Werkes zeugt unter anderem das, dass das Stück immer bestimmte historisch oder gesellschaftlich wichtige Tatsachen reflektieren kann. 22

4.3. Der Vergleich Am Anfang dieses Kapitel möchte ich erwähnen, wie sich Friedrich Dürrenmatt selbst zu dem immer angeführten Brecht-Vergleich äußerte. Dürrenmatt sagt im Gespräch mit Fritz Raddatz (1985): Für mich ist die Gesellschaft ein Problem, ich stehe der Gesellschaft nicht gegenüber, ich bin ein Teil von ihr. Wie für Brecht. Aber für Brecht war das Problem lösbar, für mich nicht... 29 Oder:...wenn irgendein Kritiker einmal schrieb, daß ich hätte Brecht nicht zu Ende gedacht, so denke ich, daß dies nicht meine Aufgabe ist, weil ich nicht von Brecht herkomme, und wenn es meine Aufgabe darstellte, wäre sie unmöglich, es wäre töricht, sie mir gestellt zu haben, denn das Zu-Ende-Denken setzt ein Ende des Denkens voraus, ein Ankommen bei der Wahrheit, als sei die Wahrheit eine Endstation, in die das Denken nur hereindampfen müsse. 30 Wenn wir zum Brecht-Dürrenmatt Vergleich selbst schreiten, gibt es viele Analysen, die sich dieser Problematik widmen. Oskar Keller misst eine gewisse Wichtigkeit folgender Physiker-Szene bei. MÖBIUS Die Vernunft fordert diesen Schritt. Wir sind in unserer Wissenschaft an die Grenzen des Erkennbaren gestoßen...es gibt für uns Physiker nur noch die Kapitulation vor der Wirklichkeit...Wir müssen unser Wissen zurücknehmen, und ich habe es zurückgenommen...nur im Irrenhaus sind wir noch frei... 31 Oskar Keller ist der Meinung, dass Möbius an dieser tragischen Entscheidung zerbricht, aus denen die schlimmstmögliche Wendung wird, das Idealbild des Forschers, wie es die Generationen des 19. Jahrhunderts in der Nachfolge der Aufklärung und Fausts gepflegt haben. Oskar Keller meint Brechts Galilei glaubt an die Voraussetzungslosigkeit der Wissenschaft und an die Unbedingtheit ihres 29 Ritter, Alexander: Friedrich Dürrenmatt. Die Physiker. Erläuterungen und Dokumente. Philipp Reclam jun. Stuttgart, 1991 S. 126 30 Ebenda S. 128 31 Dürrenmatt, Friedrich: Die Physiker. Eine Komödie in zwei Akten. Neufassung 1980. Diogenes Verlag AG Zürich S. 84 23

Wertes für die Menschen. Er ist in seinem Glauben an den Menschen und an seine Vernunft nicht zu erschüttern. Dürrenmatts Auseinandersetzung mit der Dramaturgie und Weltanschauung Bertolt Brechts, mit dem Thema und der Intention seines Stückes Leben des Galilei ist ein wichtiger Umstand für die Entstehung der Geschichte. 32 Alexander Ritter vergleicht die dritte Fassung. In dieser Version lässt Brecht den italienischen Astronomen den eigenen Widerruf als Verrat an der gebotenen Zweckfreiheit der Wissenschaft und damit als Unrecht an der Gesellschaft verurteilen. Gerhard P. Knapp widmete dem Vergleich der beiden Werke das Kapitel Ist Möbius ein Anti-Galilei?. Seiner Meinung nach liegt die Verwandtschaft der Physiker -Thematik mit Brechts Leben des Galilei auf der Hand. Einzelne Versionen sind durch Brechts Lebenssituationen beeinflusst. In Brechts Stück widerruft Galileo, von der Inquisition bedrängt, seine Entdeckung, daß die Erde sich um die Sonne dreht. Er selbst verbringt den Rest seines Lebens als Gefangener, seine Entdeckungen werden jedoch von seinen Schülern propagiert... 33 G. P. Knapp weist darauf hin, dass Galilei arbeitet, ungeachtet der erzwungenen Zurücknahme an seiner Wissenschaft weiter. Denn Verrat an der Wissenschaft bedeutet für ihn letztlich Verrat an der Menschheit. Der Autor sieht die Unterschiede unter den einzelnen Galileo-Entwürfen. Seinen Helden in der ersten Version sieht er als einen positiven Helden, jedoch in der zweiten und dritten Version sieht er ihn ein bisschen negativ. Der Autor sieht die Endpositionen beider Stücke nicht unähnlich und meint, dass Möbius Feststellung Was einmal gedacht wurde, kann nicht mehr zurückgenommen werden auch am Ende von Brechts Galilei stehen könnte. 32 Ritter, Alexander: Friedrich Dürrenmatt. Die Physiker. Erläuterungen und Dokumente. Philipp Reclam jun. Stuttgart, 1991 S. 98 33 Knapp, Gerhard P.: Friedrich Dürrenmatt. Die Physiker. Grundlagen und Gedanken zum Verständnis des Dramas. Moritz Diesterweg Verlag, Frankfurt am Main, 1979 S. 35 24

Der Unterschied zwischen beiden Stücken liegt weniger in ihrer Grundfragestellung als im Wirklichkeitshintergrund, aus dem sie entstanden und vor dem sie zu verstehen sind. Brechts Galilei wird im Angesicht des Faschismus und vor dem Heraufziehen der Weltkatastrophe geschrieben. Die späteren Revisionen zeigen deutlich, daß der Autor im Hinblick auf eine sich veränderte Welt seine Auffassung des Stückes modifizierte. Die Physiker indessen werden zu einem Zeitpunkt konzipiert, wo jede weitere Entwicklung nur eine Wendung zum Schlimmeren bedeuten mußte. 34 Und Knapps Antwort auf die Frage Ist Möbius ein Anti-Galilei? lautet: Dürrenmatts Komödie ist weder ein Anti-Galilei noch notwendig eine Weiterführung der Brechtschen Ausgangsfragestellung...Die Zeit des individuellen Heldentums und des persönlichen Versagens ist das wird am Beispiel von Möbius und seiner Physiker-Kollegen deutlich endgültig vorbei. 35 Reinhard Kästler spricht im Zusammenhang mit dieser Problematik über eine gewisse Zurücknahme, die ist hier durch Möbius zu formulieren und er erwähnt die Möbius Kapitulation und zitiert die Worte eines Professors für deutschen Literatur, Manfred Durzak: Wo Galilei mit den politischen und gesellschaftlichen Mächten paktierte und seine moralische Verantwortung als Wissenschaftler preisgab, stellt Möbius diese moralische Verantwortung über alles und verzichtet nach ihrem Gebot auf eine weitere Ausübung seiner Wissenschaft, auf die Verbreitung jener Weltformel, die die gesamte physikalische Erkenntnis revolutionieren würde. 36 Die Tatsache bleibt, dass Brecht selbst, seine Regisseure, Hauptdarsteller und Kritiker sich über den Charakter Galileis nicht einig wurden. Es bleiben viele unbeantwortete Fragen, wie - Ist Galilei ein Verreter des Fortschritts, oder ist er ein vernünftiger Mensch, der in aller Stille wissenschaftlich weiterarbeiten will? Tatsache ist, trotz des Forschungs- und Schreibverbots der Inquisition setzt er seine 34 Knapp, Gerhard P.: Friedrich Dürrenmatt. Die Physiker. Grundlagen und Gedanken zum Verständnis des Dramas. Moritz Diesterweg Verlag, Frankfurt am Main, 1979 S. 34 35 Ebenda S. 35, 36, 37 36 Kästler, Reinhard: Erläuterungen zu Friedrich Dürrenmatt. Die Physiker. C. Bange Verlag, Hollfeld 1994 S. 26 25

physikalischen Untersuchungen fort und schmuggelt eine Abschrift seiner Discorsi aus dem Haus, zum Wohle der Menschheit, wie angenommen wird. 37 Heinrich Goertz schliesst dieses mit den Worten: Sich der Inquisition widersetzend hätte er dieses Buch nicht schreiben können. Was ist richtig? Sich zu opfern entspricht nicht seinem Wesen. Brechts Galilei ist gefräßig, furchtsam und fleißig. Dürrenmatts Möbius resigniert, verbrennt seine Papiere und setzt sich zu Ruhe. 38 In beiden Werken kann man Unterschiede und ähnliche Gedanken finden. Meiner Meinung nach trägt das Leben das Galilei eine gewisse didaktische Funktion. Der Zuschauer, der sich im Bereich der Historie, Physik oder Astronomie nicht auskennt, kann etwas Neues erfahren. Brechts Figuren handeln rational und ihr Benehmen ist ziemlich begreifbar und verständlich. Ein Identifikationsangebot ist hier möglich, das gilt nicht im Fall der Physiker. Beide Werke werden in eine ganz unterschiedliche Zeitperiode gesetzt. Die Hauptfiguren geraten in dieselbe Situation, man kann sagen, dass Dürrenmatt Möbius in eine Galilei-Situation stellt. Beide Wissenschaftler verfügen über hohe Intelligenz aber ihre Charaktere und die Art und Weise des Nachdenkens ist nicht ähnlich. Galilei will seine Entdeckungen veröffentlichen und rechnet mit einer positiven Reaktion. Unter Zwang seitens der Inquisition, nimmt er seine Lehre zurück und trotz Verbot setzt er in seiner Forschung fort. Er wird durch Hausarrest bestraft unfreiwillig. Indem Möbius vor seiner Entdeckung zurückschreckt, nahm er aus eigenem Entschluss und aus Überzeugung über Richtigkeit auch alles zurück. Aus eigenem Entschluss begab er sich ins Irrenhaus. Aber seine Entdeckung ist für die Menschheit sehr gefährlich im Fall der Ausnutzung, über die er im Voraus überzeugt ist es entspricht seinem pessimistischen Wesen. 37 Goertz, Heinrich: Friedrich Dürrenmatt mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten dargestellt von Heinrich Goertz. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Hamburg, 1987 S. 84 38 Goertz, Heinrich: Friedrich Dürrenmatt mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten dargestellt von Heinrich Goertz. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Hamburg, 1987 S. 84 26

5. Die Interpretation der Physiker Selbst Dürrenmatt fühlte sich übermäßig interpretiert zu werden und nicht richtig verstanden, wie Heinrich Goertz in seinem Vorwort des Buches Dürrenmatt erwähnt. Goertz erwähnt auch die Kommentare zu den Werken, die oft umfangreicher als Originaltexte sind. Es ist wahr, dass die Literatur über Friedrich Dürrenmatt schwindelerregend umfangreich ist. Es zeugt aber von großem Interesse an Dürrenmatts Werken. Ich benutze für folgende Kapitel vor allem Bücher von fünf Autoren und zwar: Friedrich Dürrenmatt. Die Physiker. Interpretation von Oskar Keller, Friedrich Dürrenmatt. Die Physiker. Erläuterungen und Dokumente von Alexander Ritter, Friedrich Dürrenmatt. Die Physiker. Grundlagen und Gedanken zum Verständnis des Dramas von Gerhard P. Knapp, Erläuterungen zu Friedrich Dürrenmatt. Die Physiker von Reinhard Kästler, Dürrenmatt von Heinrich Goertz. Natürlich möchte ich auch davon ausgehen, wie ich dieses Dürrenmatt Werk begreife und wie ich es verstehe. Als Ausgangspunkt dieser Interpretation benutze ich meine Eindrücke und aus den Interpretationen anderer Autoren suche ich solche Gedanken und Wahrnehmungen heraus, die mich interessierten. Ich erwähne auch meine Bemerkungen und ich zitiere reichlich aus den Büchern verschiedene Gedanken und Informationen. Was die Aktualität betrifft, möchte ich an folgenden Kapiteln demonstrieren, inwieweit und dank welchen Faktoren das Theaterstück aktuell bleibt. Es kann sich um den Inhalt der Komödie, Sprache und Sprachmittel, oder Psychologie der Figuren handeln. Ich widme mich der Aktualitätsproblematik im letzten Kapitel (Kap.13) 27

6. Zur Entstehungsgeschichte Selbst Dürrenmatt sagte über seine Stoffe Folgendes: Aber die Stoffe sind die Resultate meines Denkens, die Spiegel, in denen, je nach ihrem Schliff, mein Denken und damit auch mein Leben reflektiert werden. 39 Mich selbst interessierte, wie der Autor zum konkreten Thema kommt und wie er beginnt den Stoff zu schreiben. Alexander Ritter zitiert Friedrich Dürrenmatt aus seinem Buch Labyrinth. Friedrich Dürrenmatt sagt zu dieser Problematik: Der Entstehung von Stoffen nachzuspüren, ist nicht einfach. Oft sind es Erinnerungen, die sich im Unbewußten mit einem Einfall verbunden haben, der, taucht er wieder auf, scheinbar nichts mit den Erinnerungen zu tun hat...genauer noch: der Beziehung zwischen Erleben, Phantasie und Stoff nachtaste, um eine Dramaturgie der Phantasie aufzuspüren... 40 An der Entstehung des Stückes haben verschiedene Faktoren und Einflüsse einen Anteil. Biographische Einflüsse 41 - Dürrenmatts Interesse an der antiken und mittelalterlichen Kultur, an den Themen der Bibel und an den astronomischen Verhältnissen - Studium der Literatur (antike Tragödie, Aristophanes), Philosophie (Kant, Aristoteles, Plato, Kierkegaard) und Naturwissenschaften in Zürich und Bern - Beschäftigung mit den erkenntnistheoretischen und ethischen Fragen der Naturwissenschaften (Physik, Astrophysik) und Mathematik - Skeptische Reflexion der weltpolitischen Entwicklung und der isolationistischen Politik der Schweiz 39 Ritter, Alexander: Friedrich Dürrenmatt. Die Physiker. Erläuterungen und Dokumente. Philipp Reclam jun. Stuttgart, 1991 S. 69 40 Ritter, Alexander: Friedrich Dürrenmatt. Die Physiker. Erläuterungen und Dokumente. Philipp Reclam jun. Stuttgart, 1991 S. 70 41 In dem Teil Biographische und folgende Einflüsse gehe ich von der Analyse von Alexander Ritter aus. 28

- Auseinandersetzung mit Theologie und Kirche (als Folge des Berufes und der Tätigkeit seines Vaters, der ein protestantischer Pfarrer war) - Vertrautheit mit Parkanlage und Gebäuden der Heilanstalt Préfargier bei Neuchâtel, die zum Vorbild für den literarischen Schauplatz des privaten Sanatoriums Les Cerisiers wird. Zeitgeschichtliche Einflüsse Ein gewisser Einfluss auf den Physiker Stoff hatte die weltpolitisch unsichere und bedrohliche Lage d. h. die Zeit vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis zum Beginn der sechziger Jahre.(Ideologische, politische und militärische Konfrontation der beiden Weltmächte UdSSR und USA eine mögliche Gefährdung der Menschheit durch einen Krieg mit Atomwaffen ). Alexander Ritter kommentiert diese Situation: Von der Atombombe sind wir alle betroffen, und es gibt nur eine globale Lösung, und das heißt in Dürrenmatts Sinn: es gibt keine. 42 (Ein gewisser Zusammenhang mit Dürrenmatts Punkt 17 Was alle angeht, können nur alle lösen). Man kann sagen, dass es um eine Reaktion auf alle diese Umstände und Tatsachen geht. Werkgeschichtliche Umstände: a) Zur Konzeption Die Physiker wurden zusammen mit dem Meteor und der Erzählung Weihnacht konzipiert und zwar auf Spaziergängen im Bündnerland. Ich war im Waldhaus Tarasp zur Kur und absolvierte täglich einen Zweistundenmarsch. Da sind in meinem Kopf die Physiker entstanden. Leitend 42 Knopf, Jan: Friedrich Dürrenmatt. Autorenbücher. C. H. Beck sche Verlagsbuchhandlung (Oscar Beck), München, 1976 S. 106 29

war der Gedanke, ein vergleichsweise einfaches Stück zu schreiben... 43 Es ist wahr, dass Dürrenmatt zuerst einen Irrenarzt konzipierte. Dann begriff ich, daß der streng logischen Welt der drei Physiker nur eine verrückte Frau gegenüberstehen kann. Wie ein verrückter Gott, der sein Universum gestaltet: Das kann man nur als Komödie schreiben....ich habe in der Tat der Giehse den Entwurf der Physiker gezeigt, worauf die Giehse sagte, den Irrenarzt möchte sie spielen. So wurde eben eine Frau daraus. 44 b) Zum Schauplatz Die Wahl des Handlungsortes, eine Irrenanstalt, und damit auch die Entscheidung für die Darstellung der Welt unter den Bedingungen einer solchen Einrichtung der geistig Kranken wird durch eine autobiographische Erfahrung und die Kenntnis der Heilanstalt Préfargier in der Nähe Dürrenmatts Heimatstadt Neuchâtel beeinflusst. (Unter anderem befindet sich die Klinik Préfargier in ganz ähnlicher Umgebung wie Les Ceresier - in einer sehr idyllischen Lage am Ufer der See, besitzt einen Park..) 45 Zur Illustration führe ich auf der nächsten Seite den Plan des Sanatoriums Préfargier an. 43 Ritter, Alexander: Friedrich Dürrenmatt. Die Physiker. Erläuterungen und Dokumente. Philipp Reclam jun. Stuttgart, 1991 S. 118 (Gespräch mit Friedrich Dürrenmatt) 44 Ebenda S. 100 (Gespräch mit Friedrich Dürrenmatt) 45 Ebenda S. 101 30

Das Sanatorium Préfargier mit Parkanlagen und der Vila. Aus: Guy de Meuron: La Maison de santé de Préfargier. 1849-1949. Préfargier 1949. 46 c) Zur Geschichte des Werkes Wie ich schon erwähnte, wurde das Theaterstück parallel mit der Komödie Der Meteor und der Erzählung Weihnacht konzipiert und zwar im Laufe des Jahres 1961. Die Textfassung wurde im Zusammenhang mit der Aufführung ergänzt und 1962 veröffentlicht. Die beiden Textfassungen und die Neufassung von 1980 unterscheiden sich unwesentlich in Details der Textorganisation und Textstraffung. 46 Ritter, Alexander: Friedrich Dürrenmatt. Die Physiker. Erläuterungen und Dokumente. Philipp Reclam jun. Stuttgart, 1991 S. 102-103 31

7. Geschichte Selbst der Autor sagt zum Leitmotiv (Zufall) der Geschichte Folgendes: DIE PHYSIKER denken das Oedipus-Motiv weiter. An die Stelle des Orakels ist die Wissenschaft getreten. Der Wissenschaftler ist in der Lage, abschätzen zu können, was die Ergebnisse seiner Forschungen unter Umständen zu bewirken vermögen: die Vernichtung der Menschheit. Möbius versucht, den Gefahren seiner physikalischen Ergebnisse dadurch zu entgehen, daß er sich ins Irrenhaus flüchtet. Er stellt sich verrückt. Dieses entspricht der Flucht des Oedipus vor dem Schicksal, das ihm das Orakel ankündigt, nach Theben. Hier greift der Zufall ein. Oedipus flüchtet in die falsche Stadt, Möbius in das falsche Irrenhaus. Indem die verrückte Irrenärztin Mathilde von Zahnd die gespielte Verrücktheit des Möbius als Wahrheit auffaßt und somit seine Entdeckungen, die sie sich aneignet, nicht als Verrücktheiten, sondern als das ansieht, was sie sind, als geniale Entdeckungen, hebt sie den Sinn seiner Flucht auf. Möbius und seine zwei Genossen, gleichfalls Physiker, verhalten sich wie drei Reisende, die, in den falschen Zug gestiegen, nach hinten zu rennen, um so doch noch den Ort zu erreichen, von dem sich der Zug in rasender Fahrt immer weiter entfernt. 47 47 Arnold, Heinz Ludwig: Text+Kritik. Zeitschrift für Literatur. Friedrich Dürrenmatt I. Johannesdruck Hans Pribil KG, München, 1980 S. 24 32

7.1. Der Spielort und der Zeitpunkt Der Anfang des ersten Aktes beschreibt die Bestimmung des Spielortes und des Zeitpunktes. Ort: Salon einer bequemen, wenn auch etwas verlotterten Villa des privaten Sanatorium Les Cerisiers. Es folgt die Beschreibung der Natur, dann die Beschreibung der Stadt Schloss, Gebäude, Universität, theologische Fakultät, etc. Diese Beschreibung schließt der Autor mit Wörtern doch spielt das Örtliche eigentlich keine Rolle und kommt zur näheren Beschreibung des Irrenhauses. Zeitpunkt: relativ sonniges Novemberwetter, kurz nach halb fünf nachmittags. Im Zusammenhang mit dem Spielort spricht Oskar Keller über die Idylle am Rande der Welt. 48 Man erfährt Nichts Näheres. Die ganze Geschichte spielt sich an einem Ort: Auch den Salon werden wir nie verlassen, haben wir uns doch vorgenommen, die Einheit von Raum, Zeit und Handlung streng einzuhalten; einer Handlung, die unter Verrückten spielt, kommt nur die klassische Form bei. 49 Dieser Satz verlassen wir doch nie die Villa des Irrenhauses bedeutet ein begrenzter Schauplatz (Insel-Motiv) und es erregt Gefühle der Isolierung, gleichzeitig aber auch Übersichtlichkeit (für Zuschauer/Leser). Alexander Ritter spricht in diesem Zusammenhang über die Gültigkeit des Raumgefüges Zimmer/ Villa/ Irrenanstalt/ Stadt/ Staat/ Europa/ Welt/ Weltraum und über die Zeitdimension Handlungsgegenwart/ Austiefung der Zeit in die Geschichte: Entwicklung der Physik, biblisch-mythologische Anfänge der Welt, Verlängerung der Zeit in die Zukunft: Weltraumfahrt. Elisabeth Brock-Sulzer erwähnt sehr strenge Befolgung nach der Regel von drei Einheiten, dass die Aufführungsdauer genau der wirklichen Dauer der Handlung 48 Keller, Oskar: Friedrich Dürrenmatt. Die Physiker. Interpretationen. R. Oldenbourg Verlag München, 1970 S. 50 49 Dürrenmatt, Friedrich: Die Physiker. Eine Komödie in zwei Akten. Neufassung 1980. Diogenes Verlag AG Zürich, 1998 S. 12 33

entspricht und das Zimmer wandelt sich nicht mehr während der gesamten Handlung. 34

7.2. Figuren Die Analyse von allen Dürrenmatts Figuren ist sehr umfangreich und Reinhard Kästler ist der Meinung, dass alle Figuren in Dürrenmatts Werken als schwache Individuen versagen. 50 G. P. Knapp beschränkt sich als Hauptakteur nur auf vier Figuren, die zentrale Bedeutung haben und das sind natürlich die drei Physiker und die Chefärztin. Es ist ziemlich deutlich, dass die Handlung von den vier Figuren getragen wird. Einerseits ist es die Chefärztin, anderseits sind es die drei Physiker. Also eine Ärztin und ihre Patienten. Inspektor Voß, Oberschwester Marta Boll, die stummen Polizisten, das Pfleger-Dreigespann und die Missionarsfamilie sind nur reine Statisten. Man kann ein bisschen über die Gestalt der Schwester Monika Stettler polemisieren. Es scheinet, dass diese Rolle die Handlung weiter zu schieben vermag. Nach Knapp gehört sie weder zu den Hauptcharakteren, noch zu den Statisten. Er spricht nur über ihre in ihrem einzigen Auftritt vorübergehende Bedeutung. Er hält sie für die einzige Figur des Stückes, der im Ansatz realistischer Plausibilität anhaftet. Noch ehe sie die Sympathien des Publikums gewinnen kann, wird sie zum Mordopfer. Möbius ist unter den Hauptakteuren die Zentralfigur. Er kommt ins Zentrum der Aufmerksamkeit innerhalb der Szene mit seiner Familie, als der Zuschauer zu ahnen beginnt, dass er nicht verrückt ist (anhand planmäßigen und humanen Vorgehens). Gleich humane und planmäßige Beweggründe erwartet der Zuschauer hinter seiner Mordtat (ein wirklich gerechtfertigtes/begreifliches Motiv). Persönlich neige ich auch zu der Ansicht, dass die Hauptakteure nur vier Figuren (die drei Physiker und die Chefärztin) sind. Die übrigen Personen spielen nur Nebenrollen mit verschiedenem Wichtigkeitsgrad. 50 Kästler, Reinhard: Erläuterungen zu Friedrich Dürrenmatt. Die Physiker. C. Bange Verlag, Hollfeld 1994 S. 17 35