Predigten von Pastorin Julia Atze 2. Advent 4. Dezember 2016 Matthäus 24,1-14 Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen. Ich kann nicht mehr, ich weiß einfach nicht mehr weiter. Clara fängt an zu weinen. So lange war sie stark gewesen. Hatte nicht oder nur ganz wenig geweint. Als ihre Mutter ihr eröffnet hatte, dass ihr Vater und sie sich trennen würde, da hatte sie geweint, aber nur heimlich. Für ihre Mutter war sie stark, obwohl innerlich eine Welt für sie zusammenbrach. Auch den Umzug hatte sie so positiv wie möglich genommen, hatte ihre kleineren Geschwister getröstet, weil diese nicht aus der gewohnten Umgebung weg wollte. Sie hatte den weiteren Schulweg auf sich genommen, ohne zu murren, sind ja nur noch 3 Jahre. Aber das war noch nicht alles. Dann wurde Claras Mutter krank. Krebs. OP, Chemo, Bestrahlung. Das volle Programm. Clara ist stark, kümmert sich um ihre Geschwister. Ihre Mutter ist auch stark, man merkt ihr die Krankheit kaum an. Nach den Therapien sieht alles gut aus. Clara atmet auf. Dann kommt die Nachuntersuchung und die erschütternde Nachricht: Der Krebs ist wieder da. Clara weint. Das gibt es doch nicht! Das kann nicht sein! Sie kann nicht mehr, weiß nicht mehr weiter. Sie hat Angst: Wie soll sie das alles bloß schaffen? Eine Stimme in ihr sagt: Halte durch! Du schaffst das! Aber die Angst und der Schmerz ist so groß: Ich weiß nicht, ob ich das schaffe. Ich bin total am Ende.
Predigten von Pastorin Julia Atze Seite 2 Ich kann nicht mehr, ich weiß einfach nicht weiter. sagt auch Ursula und seufzt. Sie sitzt alleine an ihrem Küchentisch und guckt aus dem Fenster. Es ist neblig und ungemütlich draußen. Die Bäume sind kahl. Genauso fühlt sie sich auch. Kahl und neblig und leer. Vor drei Jahren ist ihr Mann gestorben. Er war schon lange krank. Für ihn war es eine Erlösung. Für Ursula nicht. Sie ist einsam. Er fehlt ihr. Sie wollten eigentlich ihren Ruhestand genießen. Stattdessen hat sie ihren Mann gepflegt und nun ist sie allein. Sie mag nicht mehr aus dem Haus gehen, mag nicht mehr reden, nicht mehr fernsehen, nicht mehr Radio hören. Wenn ihre Tochter oder ihr Enkel kommen, das ist schön. Aber die haben so wenig Zeit, die haben ihr eigenes Leben. Ursula seufzt. Sie kann nicht mehr, sie will nicht mehr. Eine Stimme in ihr sagt: Komm, raff dich auf! Geh unter Leute! Wenigstens zum Einkaufen. Aber der Schmerz und die Traurigkeit ist so groß: Ich weiß nicht, ob ich das schaffe. Ich bin total am Ende. das Leben von Clara läuft nicht wie erhofft. Das Leben von Ursula läuft nicht wie erhofft. Das Leben läuft einfach nicht wie erhofft. Auch nicht in dieser Adventszeit. Jedes Jahr wünschen wir uns eine schöne und besinnliche Adventszeit und versuchen all das Schlimme und das Elend in dieser Welt und die Angst und den Schmerz und die Traurigkeit in unserem Leben auszublenden wenigstens für diese wenigen Wochen!
Predigten von Pastorin Julia Atze Seite 3 Wir backen Kekse und Stollen, sitzen bei Kerzenschein zusammen und trinken Tee oder Glühwein, wir hören Musik das Weihnachtsoratorium die einen, All I want for Christmas is you die anderen. Wir kommen in die Kirche, um die alten Lieder zu singen und uns einzustimmen auf Weihnachten und werden dann verstört von den biblischen Lesungen, die so gar nicht zu dieser besinnlichen Adventsstimmung passen, die wir uns so sehr wünschen: Jesus sagt: Ihr werdet hören von Kriegen und Kriegsgeschrei () es wird sich ein Volk gegen das andere erheben und ein Königreich gegen das andere; und es werden Hungersnöte sein und Erdbeben hier und dort () Und ihr werdet gehasst werden um meines Namens Willen von allen Völkern. Dann werden viele abfallen und werden sich untereinander verraten und werden sich untereinander hassen. Und es werden sich viele falsche Propheten erheben und werden viele verführen. Und weil die Ungerechtigkeit überhand nehmen wird, wird die Liebe in vielen erkalten. mein erster Gedanke: Wer will denn sowas hören im Advent, in der Vorweihnachtszeit? Da will uns wohl jemand die Stimmung vermiesen Und mein zweiter Gedanke: Ich kann gar nicht fassen, wie erschreckend aktuell die Worte Jesu sind, die da vor knapp zweitausend Jahren aufgeschrieben wurden! Es klingt, als hätte Jesus in den letzten Wochen und Monaten unsere Nachrichten geguckt: - Krieg und Kriegsgeschrei im Irak und Syrien - Erdbeben in Italien, Hurrikan in Haiti - Hungersnöte in Afrika - Hass und Terror an so vielen Orten in der Welt
Predigten von Pastorin Julia Atze Seite 4 Sind wir am Ende der Zeiten, so wie Jesus es beschreibt? Wohl kaum. Dann wäre die Welt in den letzten 2000 Jahren schon sehr oft dort gewesen. Vielmehr lässt sich feststellen: Die Welt ist immer noch da. Trotz dieser schrecklichen Ereignisse und Zustände in unserer Welt durch alle Zeiten hindurch, all das passiert immer wieder in unserer Welt, immer und immer wieder. Und es stimmt auch, dass die Liebe in den Menschen erkaltet. Zuerst gibt es große Hilfe und Unterstützung für die, die in Not sind, kein Dach über dem Kopf haben, auf der Flucht sind. Aber dann, mit der Zeit: weniger Hilfsbereitschaft, weniger Unterstützung, weniger Engagement schleicht sich ein, dafür mehr Misstrauen, mehr Angst, mehr Abschottung, mehr Hass und was nun? Resigniert den Kopf hängen lassen? Ich kann eh nichts tun, ich kann sowieso nichts ausrichten? Oder Augen zu und durch, nicht nach links und rechts schauen? Ich gehe einfach meinen Weg, egal was um mich herum passiert? Scheuklappen aufsetzen und alles ausblenden, was in der Welt passiert, und es mir auf meinem Sofa gemütlich machen? Und dann erwischt mich das Leben so wie Clara oder Ursula und ich kann mich nicht mehr abwenden oder Scheuklappen aufsetzen, denn ich stecke selber mitten drin in der Not und im Schmerz und im Elend. Was also hilft gegen Resignation und Kaltherzigkeit? Jesus sagt: Wer aber beharrt bis ans Ende, der wird selig.
Predigten von Pastorin Julia Atze Seite 5 Clara hat wieder halt gefunden. Ihre Freunde haben gemerkt, dass sie Clara zu verlieren drohen. Dass sie sich zurückzieht. immer weiter. Das haben sie nicht zugelassen. Sind vorbeigekommen. Haben sie mitgenommen. Ins Kino. Zum Schlittschuhlaufen. Haben gefragt, was los ist, wie es ihr geht. Haben mit ihr über Gott und die Welt diskutiert. Haben mit ihr geweint. Und Ursula? Ursula hat mir erzählt, dass es doch etwas gibt, was ihr noch Freude macht: Wenn die Kinder aus der Kita von gegenüber unter ihrem Küchenfenster stehen und Oma, Oma rufen und ihr zuwinken, wenn Sie hinunterschaut. Und eines kann sie ja nicht lassen, wenn sie denn doch mal einkaufen geht: Sobald ihr jemand mit Kinderwagen begegnet, da muss sie einfach hineinschauen ein kleines Baby anschauen, das ist doch das schönste der Welt, das erwärmt doch das Herz! Dieses kleine, hilflose Bündel, da kann man doch nicht einfach dran vorbei gehen! das ist wie Weihnachten, wenn es mich dann anlächelt. Ich muss auch lächeln. Genau, denke ich, ein Kind anschauen und sich davon berühren lassen, das ist Weihnachten! Das ist es doch, liebe Gemeinde, was aus der Resignation retten kann und die erkalteten Herzen wieder wärmen: - sich immer wieder einlassen auf die Begegnung mit anderen, - die Angst und den Schmerz überwinden und die eigene Hilflosigkeit teilen, - sich von der Hilflosigkeit und Ohnmacht eines anderen berühren lassen. Vielleicht müssen wir das immer wieder lernen und erfahren im Advent. Wer aber beharrt bis ans Ende, der wird selig. Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.