Signet SWR2 Musik Orchestergeschichten 0 11

1 Musik Aus unseren Archiven [Orchestergeschichten], Dienstag, 26.04.2016 von 20.03 bis 21 Uhr SWR2 Orchestergeschichten (7) Das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR unter Sir Roger Norrington - Die Neudefinition des Orchesters aus dem Geiste der Alten Musik von Kerstin Gebel Signet SWR2 Musik Orchestergeschichten 0 11 Unsere Archivsendung am Dienstagabend erzählt in zehn Folgen die Geschichte zweier Orchester, die in diesem Jahr ihr 70jähriges Jubiläum feiern und danach zu einem Klangkörper fusionieren werden. Es geht also um die Anfänge, die Entwicklung, das Profil, die Höhepunkte, um den Kern eines jeden Orchesters, die Musiker und es geht natürlich um Persönlichkeiten am Dirigentenpult, die das Profil sowohl des Sinfonieorchesters Baden- Baden und Freiburg, als auch des Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart geprägt haben. Es ist ein Rückblick, eine Bestandsaufnahme und auch ein Abschied von zwei großen Traditionen. Heute Folge 7: Das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR unter Sir Roger Norrington - Die Neudefinition des Orchesters aus dem Geiste der Alten Musik von Kerstin Gebel Geburtstagsständchen des RSO an Sir Roger 1 10 Franz Schubert: Sinfonie C-Dur D 944 3. Satz: Scherzo. Allegro vivace Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR Bearbeitung: Georg ter Voert 16. März 2016. Roger Norrington wird 82 Jahre alt und er wird in der Probe überrascht von seinen RSO Musikern mit diesem Geburtstagsständchen. Grundlage ist das Scherzo der großen C-Dur-Sinfonie von Franz Schubert, arrangiert vom Fagottisten des RSO Georg ter Voert, denn diese Sinfonie stand auf dem Programm des 7. Abonnementkonzertes, für das das Orchester mit seinem Ehrendirigenten in dieser Woche probte. Das Tempo stimmte nicht ganz, denn unter der Leitung von Norrington selbst hörte sich dieser Ausschnitt anlässlich der BBC Proms in der Royal Albert Hall 2001 etwas zügiger an: Franz Schubert: Sinfonie C-Dur D 944 3. Satz: Scherzo Ausschnitt 1 11 M0015096/008 Woher nahm Norrington diese Tempi, die sich in vielen seiner Interpretationen mit dem RSO Stuttgart von seinen Vorgängern am Dirigentenpult unterschieden?dazu unternehmen wir einen kleinen Ausflug in die Vergangenheit. Roger Norrington wurde am 16. März 1934 in Oxford in ein musikalisches Elternhaus hinein geboren. Er spielte schon in jungen Jahren Geige, sang, sammelte erste Erfahrungen mit erstklassigen Amateurensembles, studierte am Royal College of Music in London und begann eine professionelle Karriere als Sänger und Dirigent. Und dann kam der entscheidende Wendepunkt: Er entdeckte den Komponisten Heinrich Schütz. Und die Stimme, die Worte wurden zum wesentlichen Faktor in der Musik an der Wende von der Renaissance zum Frühbarock. Heinrich Schütz: Eile mich, Gott, zu erretten SWV 282 (Ausschnitt) 1 37 Roger Norrington, Tenor / The Goldsbrough Ensemble

2 Programmaustausch-BBC Nr. PYE GSGC 140 96 (Schütz: Madrigals and Cantatas) In dieser Kantate Eile mich, Gott, zu erretten von Heinrich Schütz sang Roger Norrington die Tenorpartie. 1962 gründete er den Schütz Chor, wurde 1969 als musikalischer Leiter an die Kent Opera berufen und leitete dort in fünfzehn Jahren über vierhundert Vorstellungen von vierzig verschiedenen Opern. 1978 gründete er die London Classical Players, die auf Originalinstrumenten spielten und seine Entdeckungsreise begann. Schritt für Schritt wanderte er mit diesem Ensemble durch die Musikgeschichte. Über Schütz, Monteverdi, Bach und Händel ging es schrittweise weiter über Haydn, Mozart und Beethoven bis zu Brahms, Berlioz und Wagner. Norrington studierte die Aufführungspraxis der jeweiligen Zeit, in der die Komponisten lebten, auf der Basis historischer Quellen wie Notenhandschriften, alte Sitzordnungen von Orchestern, Gehaltslisten, die über die Besetzung Auskunft gaben, Quellen zu den Tempi, alte Tanzschritte, Metronom-Angaben und vor allem Lehrbücher über die Spielpraxis von Instrumenten. O-Ton Roger Norrington (über Quellen) 1 32 A: From Mozart and Haydn.. E: And it gives you a huge insight. (Overvoice: Karl Rudolf Menke) Mit diesem umfangreichen Wissen in Theorie und Praxis trat er seine Position als Chefdirigent des Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart 1998 an und begann seine Arbeit aus dem Geist der historischen Aufführungspraxis heraus nun mit einem modernen Sinfonieorchesterapparat. Für die Musiker begann eine Neuorientierung, die nicht jeder gleichermaßen bereitwillig mit trug. Eine Umorientierung betraf die Sitzordnung innerhalb des Orchesters, die von Stück zu Stück variierte und in einem Konzert schon mal eine Herausforderung sowohl an die Musiker als auch an Bühne Technik und Ton stellten. Aber die musikalischen Ergebnisse begeisterten und überzeugten bald. Tatjana Ruhland, Soloflötistin im RSO Stuttgart berichtet: O-Ton Tatjana Ruhland (Aufstellung Haydn) : 0 50 A: Das war für uns sehr ungewohnt E: sehr viel Spaß gemacht Joseph Haydn: Sinfonie Nr. 104 D-Dur, Hob I:104 4. Satz: Finale 5 54 M0242859/012 Mit diesem Finale aus der Sinfonie Nr. 104 D-Dur von Joseph Haydn ging im September 2009 eine sensationelle Woche in der Stuttgarter Liederhalle zu Ende. Im Rahmen des Musikfestes Stuttgart spielte das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR unter der Leitung seines Chefdirigenten Sir Roger Norrington die 12 Londoner Sinfonien von Joseph Haydn, versehen mit Konzerteinführungen des amerikanischen Pianisten und Weggefährten Norringtons Robert Levin. Die Einspielung dieser Sinfonien wurde mit dem "Preis der Deutschen Schallplattenkritik" in der Kategorie "Bestenliste 1/2010" als eine "herausragende Veröffentlichung des Tonträgermarktes" ausgezeichnet. Stück für Stück gewöhnten sich Orchester und Dirigent aneinander, der Knackpunkt aber war sicher die Gretchenfrage Vibrato ja oder nein. Stefan Bornscheuer, Geiger im RSO Stuttgart erinnert sich an die Anfänge: O-Ton Stefan Bornscheuer (über Vibrato) 1 21 A: Ja das war so / E: auf der Stuhlkante Wolfgang Amadeus Mozart: Sinfonie Es-Dur, KV 543 3. Satz: Menuetto 3 30

3 M0000634/012 Das Menuett aus Mozarts Sinfonie Es-Dur KV 543 aus dem Rokokotheater des Schwetzinger Schlosses im Rahmen der Orchesterakademie, die das Radio- Sinfonieorchester Stuttgart jedes Jahr unter einem prominenten Vertreter der historischen Aufführungspraxis spielt, eine Tradition, die Roger Norrington im Mai 1996 begründete, wie Stefan Bornscheuer berichtete. Vor allem der vibratolose Klang spaltete Publikum und Kritik in den folgenden Jahren und dieser Umstand gab dem Klang des RSO Stuttgart unter Norrington auch den Namen Stuttgart Sound. Das war einerseits ein Markenzeichen und Alleinstellungsmerkmal, andererseits aber eine Reduzierung von Norringtons Arbeit auf Vibrato oder nicht. Das zur historisch informierten Aufführungspraxis noch viel mehr gehörte, nämlich Artikulation, Phrasierung, Stimmführung, Aufstellung, Orchesterbesetzung, Tempo usw. wurde oft außer Acht gelassen. Für Roger Norrington hat der vibratofreie Ton viele Vorteile. Er erklärt das so: O-Ton Roger Norrington (Vibrato) 1 54 A: The vibrato-free sound / E: that ist the question (Overvoice: Karl Rudolf Menke) Und es ist immer wieder der spezielle englische Humor von Roger Norrington, der in der Arbeit mit dem RSO Stuttgart eine Rolle spielt und die Probenarbeit oft auflockert. Tatjana Ruhland ist seit dem Jahr 2000 Soloflötistin im RSO Stuttgart, also zwei Jahre nach Norringtons Anfängen als Chefdirigent O-Ton Tatjana Ruhland (Humor) : 1 03 A: Ich kam ja quasi zu einer Zeit / E: Humor dazu Humor zeigt Norrington auch beim Dirigieren, wenn er die Pointen auskostet, sich bei musikalischen Überraschungsmomenten in einer Mozart-Sinfonie etwa schelmisch zum Publikum umdreht, sich nicht ärgert, wenn zwischen den einzelnen Sätzen applaudiert wird. Denn es kommt auf die Spielfreude an, auf die Lust am Musizieren, Dirigieren und auch Zuhören. Für Norrington ist die Musik von Joseph Haydn oder Mozart oft auch Tanzmusik, leicht und durchsichtig. Und wenn Sie das Publikum begeistert, warum nicht? Man kann dem Publikum nicht den Spaß verbieten beim Zuhören. Das ist oft ungewöhnlich, auch wenn Norrington z.b. gar nicht dirigiert, wie im Fall der h-moll Suite von Johann Sebastian Bach. Damit gibt er dem Orchester die größtmögliche Freiheit, sich zu entfalten. Und durch die spezielle kreisrunde, kammermusikalische Aufstellung der Musiker, schafft er ideale Voraussetzungen für ein miteinander Musizieren und Aufeinander hören. Tatjana Ruhland erinnert sich noch einmal. O-Ton Tatjana Ruhland (Bach) 0 50 A: Wir haben es sehr genossen / E: die er einstudiert hatte, genossen. Johann Sebastian Bach: Orchestersuite Nr. 2 h-moll BWV 1067 2 27 Nr. 8 Badinerie Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR / Tatjana Ruhland, Soloflöte M0261150/010 So begeistert viele Musiker von der Arbeit mit Norrington gleich zu Beginn waren, so gab es aber auch eine gewisse Skepsis und es bedurfte eines Lernprozesses, eines Umdenkens und Verlassens altvertrauter Mechanismen.

4 Der Geiger Stefan Bornscheuer: O-Ton Stefan Bornscheuer (Anfänge) 1 10 A: Das spielen ohne Vibrato / E: wohin uns der Weg bringt 13 Jahre lang, von 1998 bis 2011 war Roger Norrington Chefdirigent des Radio- Sinfonieorchesters Stuttgart. Ein Weg, der, mit der historisch informierten Aufführungspraxis im Gepäck das Orchestern zu neuen Ufern führte, es intonationssicher machte, wie nie zuvor und die musikalische Welt aufhorchen ließ mit seinem besonderen durchsichtigen Klang. Lajos Lencses war viele Jahre Solo-Oboist im RSO Stuttgart, hat viele Dirigenten erlebt, unter Sergiu Celibidache gespielt und mit Roger Norrington gearbeitet. O-Ton Lajos Lencses (verschiedene Charaktere) 0:48 A: Da kam jemand / E: dann geht das Ludwig van Beethoven: Sinfonie Nr. 5 c-moll, op. 67 1.Satz 6 14 M0123755/020 Der erste Satz Allegro con brio von Beethovens 5. Sinfonie im Stuttgart Sound mit Sir Roger Norrington und seinem RSO Stuttgart. Der Zyklus der Beethoven Sinfonien hat 2002 auf dem internationalen Plattenmarkt in seiner Radikalität, Differenzierung und Interpretation für Aufsehen gesorgt und wurde für den Grammy nominiert. Gelobt wurden auch Norringtons unterhaltenden und informativen Konzerteinführungen zu den einzelnen Sinfonien in deutscher Sprache: O-Ton Roger Norrington (zu Beethovens 5. Sinfonie) 0 57 A: Am Anfang steht die Frage / E: ein Abenteuer! Von der Klassik ging Norringtons musikalische Entdeckungsreise weiter in die Romantik mit den Sinfonien von Robert Schumann und Felix Mendelssohn Bartholdy, Johannes Brahms und Hector Berlioz bildeten einen Schwerpunkt. Und natürlich die englischen Komponisten, allen voran Edward Elgar und Ralph Vaughan Williams. In seiner ersten Sinfonie, der Sea Symphony, ist Norrington in seinem Element mit seinem RSO Stuttgart, dem reinen Ton und Gesangssolisten. Ihm zur Seite der WDR Rundfunkchor und das von ihm hochgelobte SWR Vokalensemble Stuttgart, das bereitwillig und exzellent den reinen Ton umsetzte. Hier ein Ausschnitt aus dem 3. Satz: The waves. Ralph Vaughan Williams: A Sea Symphony 3. Satz The waves (Ausschnitt) 3 51 Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR/ WDR Rundfunkchor Köln SWR Vokalensemble Stuttgart M0021347/009 Für die Aufnahme der 1. Sinfonie von Edward Elgar erhält Roger Norrington mit seinem RSO Stuttgart den ECHO Klassik Preis für die beste sinfonische Einspielung des Jahres 2001. Berührend auch die durchsichtige Interpretation im reinen Ton. Edward Elgar: Sinfonie Nr. 1 As-Dur op. 55 1.Satz (Ausschnitt) 3 02 M0012397/001

5 Das war der Anfang der Sinfonie Nr. 1 As-Dur von Edward Elgar unter Roger Norringtons Leitung. Neben weiteren Auszeichnungen für seine Einspielungen bekommt Sir Roger Norrington 2003 die Verdienstmedaille des Landes Baden-Württemberg für seine engagierte und nachhaltige Arbeit mit dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR. Neben den englischen Komponisten Vaughan Williams und Elgar, brachte Norrington seinem Stuttgarter Publikum auch die Musik von Michael Tippett, Gustav Holst oder James Barrett näher. Und immer wieder feierte er große Erfolge mit seinem RSO auf Tourneen in Japan und China etwa, in Paris und Wien - 13 Jahre lang also war Sir Roger Norrington Chefdirigent des Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart, 2011 endete seine Amtszeit. Er hat in diesen Jahren das Orchester nachhaltig geprägt mit seinem historisch informierten Aufführungsstil. Nicht jeder hat den reinen Ton geliebt, doch die meisten Musiker waren sich einig, dass hier etwas Großes, Unverwechselbares entstanden ist, wie seine Bruckner- und Mahlerinterpretationen, die eine neue Sicht eröffneten, Strukturen freilegten, die vorher verdeckt waren und eine Wärme und Klarheit durch den reinen Ton vermittelten, der nichts dramatisierte. Und so wählte das RSO Stuttgart Roger Norrington zu seinem Ehrendirigenten auf Lebenszeit. Ein Dirigent, der sagt, dass kein Orchester der Welt seinen Ideen so bereitwillig und professionell gefolgt sei, wie das RSO Stuttgart. 70 Jahre RSO Stuttgart gehen zu Ende mit einem letzten Konzert, und das in der Royal Albert Hall anlässlich der BBC Proms 2016. Am Pult steht Sir Roger Norrington mit der Ouvertüre aus Beatrice et Benedict von Hector Berlioz, dem 4. Klavierkonzert von Ludwig van Beethoven mit Robert Levin als Solist und dann zum Abschluss dirigiert er die erste Sinfonie von Johannes Brahms. Hier der dritte Satz daraus. Johannes Brahms: Sinfonie Nr. 1 c-moll op. 68 3. Satz 4 57 Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR /Sir Roger Norrington M0270621/003 Mehr als 50 CD s und DVD s hat das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR unter der Leitung seines Ehrendirigenten Sir Roger Norrington eingespielt, darunter auch die vier Sinfonie von Johannes Brahms. Aus der ersten hörten Sie eben den dritten Satz.Mit dieser Musik geht die Orchestergeschichte Folge 7 zu Ende. Heute: Das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR unter Sir Roger Norrington - Die Neudefinition des Orchesters aus dem Geiste der Alten Musik von Kerstin Gebel. Am nächsten Dienstag gibt es Teil acht von Reinhard Ermen: Das SO Baden-Baden und Freiburg. Michael Gielen. Der Unerbittliche. Jetzt gibt es erst einmal die Nachrichten am Mikrofon war Kerstin Gebel.