Abwesende Väter und Kriegskindheit

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Transkript:

Hartmut Radebold Abwesende Väter und Kriegskindheit Alte Verletzungen bewältigen Klett-Cotta

Dieses Buch ist eine völlig überarbeitete und aktualisierte Auflage des im Jahre 2004 bei Vandenhoeck & Ruprecht in dritter Auflage erschienenen Buches»Abwesende Väter und Kriegskindheit. Fortbestehende Folgen in Psychoanalysen«. Klett-Cotta www.klett-cotta.de 2010 by J. G. Cotta sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart Alle Rechte vorbehalten Printed in Germany Schutzumschlag: Roland Sazinger Unter Verwendung eines Fotos von fotolia/brigitte Bohnhorst-Simon Gesetzt aus der Scala von r&p digitale medien, Echterdingen Auf säure- und holzfreiem Werkdruckpapier gedruckt und gebunden von fgb. freiburger graphische betriebe, Freiburg im Breisgau ISBN 978-3-608-94633-8 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

Einführung Nach dem Zweiten Weltkrieg wuchs ein Viertel aller Kinder und Jugendlichen (2,5 Mill.) als Halbwaisen auf Dauer ohne Vater auf, weiteren Millionen fehlte der Vater aufgrund seines Kriegsdienstes und der Kriegsgefangenschaft für mehrere Jahre. Beide Gruppen erlebten und erlitten zusätzlich bedrohliche, bedrückende bis nachhaltig traumatisierende Erfahrungen als Kriegskinder. Im Jahr 2000 beschrieb ich erstmals im deutschsprachigen Raum in diesem Buch sy stematisch anhand von zehn Psychoanalysen die lebenslangen Folgen auf die Entwicklung und Identitätsbildung Betroffener einschließlich bestehender Behandlungsmöglichkeiten. Die jetzige 4. Auflage habe ich weitgehend verändert und unseren aktuellen Wissensstand verdeutlicht. Die Berichte über diese Psychoanalysen von sechs Männern und vier Frauen, geboren zwischen 1935 und 1947, sind nach wie vor das Kernstück dieses Buches. Sie umfassen ihre Kindheit, ihre Erlebnisse in Kriegs- und direkter Nachkriegszeit, ihre anschließende Weiterentwicklung im jüngeren und mittleren Erwachsenenalter sowie ihren Behandlungsprozess. Die ersten Abschlussgespräche oder -berichte 1999 wurden jetzt durch weitere im Jahre 2009 ergänzt. In diesen letzten zehn Jahren erlebten sie ihr höheres Erwachsenenalter: Wie geht es ihnen jetzt? Inwieweit wirken ihre in der Psychoanalyse gemachten Erfahrungen bis heute? Dieses Buch habe ich als Behandler, Forscher und Betroffener geschrieben. Mein Alter (von jetzt fast 75 Jahren) ermöglichte mir, über einen be wusst erlebten Zeitraum von 70 Jahren die lebenslangen Folgen dauerhafter Abwesenheit des Vaters zu untersuchen. Mein früherer Umgang schwankend zwischen Sehnsucht, Verleugnung und Suche wurde mir erst ab 1988 durch den langen, schmerzlichen Prozess einer Selbstanalyse zugänglich. Danach konnte und kann ich meine weitere Entwicklung reflektiert beobachten. Die dargestellten Ergebnisse und Schlussfolgerungen

12 Einführung wurden mir erst durch diese besondere zeitgeschichtlich auferlegte Konstellation möglich. Den Bericht über mein Befinden und meine weitere Entwicklung zwischen 1999 und 2009 habe ich daher gleichfalls fortgeführt. Aus Anonymisierungsgründen können viele biografische Details meiner Patientinnen und Patienten weiterhin nicht erwähnt werden (einige wurden aufgrund ihrer abgedruckten biografischen Daten hier angesprochen die Region Kassel ist einfach zu klein). Dieser Bericht über mich selbst soll andere Betroffene ermutigen, sich ihrer eigenen Geschichte und den damit verbundenen Reaktionen und Gefühlen zu stellen, sie auszuhalten und vor sich selbst, in ihrer Partnerschaft, ge gen über ihren Kindern und schließlich auch in der Öffentlichkeit zuzulassen. Zu leicht wird es (beim Lesen) sonst möglich, unter Hinweis auf den Patienten-Status der hier beschriebenen (offenbar dar an erkrankten) Männer und Frauen, die eigene damit zusammenhängende Pro blematik und die lebenslangen Konflikte zu verleugnen oder zumindest zu bagatellisieren. Diskussionswürdig ist der Begriff Kriegs-Kindheit. Welche Jahrgänge gehören dazu und aufgrund welcher zeitgeschichtlichen Erfahrungen wird die Zugehörigkeit definiert? Immer wieder fällt auf, dass durch die Abwesenheit des Vaters, Bombenangriffe/Ausbombung, Flucht und Vertreibung sowie passive und auch aktive Gewalterfahrungen eindeutig Betroffene sich selbst nicht dazurechnen. Für mich gehören die Jahrgänge 1947 bis 1929 dazu. So reicht das Spektrum von Kindern und Jugendlichen (bei Kriegsende höchstens 16-jährig), die den Zweiten Weltkrieg, insbesondere die letzte Kriegsphase, das Kriegsende und die direkte Nachkriegszeit erlebten, bis hin zu den in der direkten Nachkriegszeit Geborenen, die z. B. als Vertriebene noch erkennbar von den Auswirkungen des Krieges betroffen waren. 2000 enthielt das Buch (bis zur 3. Auflage) eine umfassende, von meiner Frau Hildegard Radebold erarbeitete Analyse damaliger Kinder- und Jugendliteratur sowie Erwachsenenliteratur zu den menschlichen Kriegsfolgen. Sie belegte nachdrücklich das generelle langanhaltende Schweigen dieser Jahrgänge über ihre zeitgeschichtlichen Erfahrungen und ihre mühselige Annäherung. Diese Literaturanalyse gleichsam im Rückblick eine Legitimation kann jetzt entfallen.

Einführung 13 Mein Buch belegt erneut und unverändert den zentralen damaligen Befund, dass schon die kriegsbedingt langjährige Abwesenheit des Vaters in der Kindheit (auch in der Jugend) und erst recht das völlige Fehlen des Vaters und dazu noch in Verbindung mit den bekannten weiteren zeitgeschichtlichen Erfahrungen sehr häufig weitreichende Auswirkungen hatte und hat: auf die psychosexuelle und psychosoziale Identitätsbildung, die Beziehungs- und Bindungsfähigkeit sowie auf die Eignung, die Aufgaben eines Vaters wahrzunehmen insbesondere wenn beschützende Einflüsse fehlten. Diese Auswirkungen zeigten sich bereits im jüngeren Erwachsenenalter, führten im mittleren Erwachsenenalter zur psychoanalytischen Behandlung und reichen bis hinein in das höhere Erwachsenenalter also leider offenbar lebenslang. Die Abschlussgespräche oder -berichte 1999 und 2009 belegen ebenso, dass es Chancen gab und weiterhin gibt, eine schon seit langem bestehende oder auch eine neue Partnerschaft befriedigender zu gestalten, die Aufgaben eines Vaters und Großvaters zufriedenstellender wahrzunehmen, das Leben zu genießen sowie sich besser um sich selbst zu kümmern. Voraussetzung dafür ist, die eigene spezifische Geschichte als untrennbaren Anteil der eigenen Biografie anzunehmen und sich der damit verbundenen Zwiespältigkeit zu stellen. Diese Zwiespältigkeit umfasst das Wissen über Verhalten und Taten der vor angegangenen Eltern-Generation, aber auch das Wissen um das eigene erfahrene Leid als Kind oder Jugendlicher. Gleichzeitig wird jetzt eine weitere zentrale Aussage möglich: Unser Verständnis von psychischen, psychosomatischen Störungen und psychosozialen Einschränkungen mit Hilfe der psycho-bio-sozialen Perspektive 1 bedarf der Ergänzung durch die zeitgeschichtliche Perspektive. Wie ist ein Mensch in welchem Alter aktuell und möglicherweise dauerhaft durch seine zeitgeschichtlichen Erfahrungen geprägt worden? Wie hat er sie selbst erlebt und gegebenenfalls erlitten? Für die heute über 60-Jährigen in Deutschland kann in großem Umfang eine Prägung durch den Zweiten Weltkrieg und die direkte Nachkriegszeit angenommen werden. Als Therapeuten müssen wir also zunächst folgende Fragen stellen: Zu welchem Jahrgang gehören Sie? Was haben Sie erlebt? Diese Fragen betreffen alle über 60-Jährigen in den vom Zweiten Weltkrieg betroffenen Ländern abgesehen von wenigen Ausnahmen z. B. der Schweiz 2, Schweden, Irland.

14 Einführung Die hier für die Gruppe der über 60-Jährigen dargestellten zeitgeschichtlichen Einflüsse sind ebenso für alle nachfolgenden Altersgruppen zu unter suchen; unverändert gibt es in Unrechtsstaaten oder Diktaturen Gefolterte und dadurch Vertriebene, Flüchtlinge oder direkt von einem der vielen nachfolgenden und aktuellen Kriege Betroffene meist Frauen und Kinder.