Verschärfte Lötprofilqualifikation für Automotive Von Eckard Schöller, Leiter Qualifikation Aufbau- und Verbindungstechnik, microtec GmbH, Stuttgart Die Problematik feuchteempfindlicher Bauteile wurde in einem Artikel von microtec bereits im Jahr 2004 vorgestellt [1]. Der Ablauf des Moisture Sensitivity Tests wurde gemäß dem damals gültigen Stand nach IPC/JEDEC J-STD-020C beschrieben. Inzwischen wird von der Automobilindustrie ein verschärftes Qualifikationslötprofil gefordert. Dieses gilt für aktive und auch für passive Bauelemente. Warum sollten Bauelemente auf Feuchte- Reflow-Empfindlichkeit getestet werden? Durch die Umstellung der Halbleiter-verarbeitenden Industrie auf die Oberflächenmontage wird bei der Baugruppenherstellung das gesamte Bauelement im Reflowlötprozess dem Lötstress ausgesetzt. Da der zum Verkapseln verwendete Kunststoff bis zu 0,5 Gewichtsprozente Feuchtigkeit aus der Umgebung aufnimmt, kann es beim Lötprozess zum so genannten Popcorn-Effekt kommen. Vornehmlich an den Grenzflächen zwischen Umhüllmasse und den internen Strukturen (IC bzw. Anschlüsse) lagert sich Feuchte an. Beim Lötprozess verdampft diese Feuchte schlagartig und kann Delaminationen und Risse verursachen (Abb. 1). Zur Vermeidung des Popcorn-Effekts helfen generell folgende Maßnahmen: Trocknen der feuchte-reflow-empfindlichen Bauelemente im speziellen Ofen bei 125 C/24 h oder 40 C/192 h Lagerung bei relativer Feuchte von <5 % Anlieferung im Moisture Barrier Bag bzw. Dry- Pack Abb. 1: Ultraschallbild eines durch Delamination und Risse geschädigten PQFP-Bauelements Verarbeitung innerhalb des Zeitraums, der auf dem Dry-Pack angegeben ist Um den Zeitraum zur Weiterverarbeitung festlegen zu können, muss zuerst die Feuchte-Empfindlichkeit (moisture sensitivity) der einzelnen Bauteile ermittelt werden. Mittels Moisture Sensitivity Test werden Komponenten den unterschiedlichen Feuchteklassen zugewiesen. Der Moisture Sensitivity Test nach J-STD-020C Seit mehr als 10 Jahren wird die Klassifizierung nach einem IPC/JEDEC-Standard durchgeführt, in der letzten gültigen Ausgabe J-STD-020C (7/04). Der Klassifizierungstest in die Klassen 1 (= nicht feuchte-empfindlich) bis 6 (=höchst feuchte-sensitiv) gemäß Tab. 1 findet nach folgendem Ablauf statt: Eingangsuntersuchung der Bauelemente mit Ultraschallmikroskopie (SAM Scanning Acoustic Microscopy) Trocknen der Bauelemente bei 125 C/24 h oder 40 C/192 h, je nach Klasse (Tab. 1), für eine einheitliche Ausgangsbasis aller Bauelemente Temperatur-/ Feuchtelagerung je nach Klasse (Tab. 1) Maximal 4 Stunden nach der Temperatur- und Feuchtelagerung muss eine dreimalige Reflow- Lötsimulation innerhalb einer Stunde, inkl. Abkühlphasen zwischen den einzelnen Lötsimulationen, durchgeführt werden. Die Höchsttemperatur und die Verweildauer sind im J-STD-020C-Standard für drei verschiedene Gehäusetypen beschrieben. Zusätzlich wird zwischen SnPb-Loten und bleifreien Lotlegierungen unterschieden: für SnPb-Lötprozesse bei Höchsttemperaturen von 225-240 C und Mindestverweilzeiten von 10 bis 30 Sekunden PLUS 8 /2007 1483
Tab.1: Im J-STD-020C-Standard vorgegebene Feuchteklassen und -lagerungen Feuchteklasse maximaler Zeitraum bis zur Verarbeitung (Lötprozess) Feuchtelagerung ( C/% RH) 1 unbegrenzt bei 85 % RH (85/85) 168 h 2 1 Jahr bei 30 C / 60 % RH (85/60) 168 h 2a 4 Wochen bei 30 C / 60 % RH (30/60) 696 h 3 1 Woche bei 30 C / 60 % RH (30/60) 192 h 4 3 Tage bei 30 C / 60 % RH (30/60) 96 h 5 2 Tage bei 30 C / 60 % RH (30/60) 72 h 5a 1 bzw. 2 Tage bei 30 C / 60 % RH (30/60) 48 h 6 Time on Label bei 30 C / 60 % RH (30/60) 6 h für bleifreien Lötprozesse bei Höchsttemperaturen von 245-260 C und Mindestverweilzeiten von 20 bis 40 Sekunden Abschließende Untersuchung auf Delamination und Risse mit Ultraschallmikroskopie (SAM) Für besondere Anforderungen kann zusätzlich ein Lebensdauer- und Zuverlässigkeitstest an den gestressten Bauelementen durchgeführt werden, z.b. beschleunigte Alterung durch zusätzliche Temperaturzyklen und Feuchte- / Wärmelagerung sowie ein Korrosions-Check. Anspruchsvolleres Lötprofil für Einsatz im Automotive-Bereich Im vergangenen Jahr ist die Nachfrage nach einem modifizierten Qualifikationslötprofil speziell für Automotive aufgekommen. Dieses so genannte Automotive -Qualifizierungslötprofil AQP (Abb. 2) stellt eine Verschärfung zum J-STD-020C- Qualifizierungslötprofil JQP dar. Für die Bleifrei-Lötprozesse wird bei AQP die Höchsttemperatur, je nach Bauelementdicke bzw. -volumen, zwischen 245 und 260 C bei einer Verweildauer von 30 bis 40 Sekunden angegeben. Zusätzlich sind die AQP-Toleranzen so definiert, dass z.b. für kleine Bauelemente die Höchsttemperatur von 260 C auf jeden Fall erreicht werden muss (Tab. 2). Weiter ist bei der AQP die Verweildauer im 5 Kelvin-Bereich unterhalb der Höchsttemperatur von 20 auf 40 Sekunden verdoppelt worden. Im Bereich der Vorheizung ist der Temperaturwert auf 190 bis 200 C angehoben und die Verweildauer mit mindestens 110 Sekunden definiert (Abb. 2). Im Gegensatz zum JQP sind der Temperaturanstieg und -abfall in Anstieg- und Kühlzone so definiert, dass Abb. 2: Automotive-Qualifikationslötprofil (AQP) 1484 PLUS 8 /2007
Tab. 2: Höchsttemperatur bei AQP in Abhängigkeit von Bauelementvolumen und -dicke Volumen / Dicke des Bauelements Klein Mittel Groß <350 mm 3 350-2000 mm 3 >2000 mm 3 <1,6 mm 260 (0 - +5) C 260 (0 - +5) C 260 (0 - +5) C 1,6-2,5 mm 260 (0 - +5) C 250 (0 - +5) C 250 (0 - +5) C >2,5 mm 250 (0 - +5) C 250 (0 - +5) C 245 (0 - +5) C In Klammern sind die Toleranzen angegeben. über einen Zeitraum von 10 Sekunden mehr als 30 K Temperaturdifferenz erreicht werden muss. Für sehr kleine Bauelemente muss die Temperaturdifferenz sogar bis zu 60 K in der Abkühlzone betragen. Zusammenfassung der wesentlichen Verschärfungen des AQP gegenüber dem Standard-Lötprofil nach J-STD-020C Steigerung der Mindest-Temperatur im Vorheizbereich von 150 C auf 190 C Steigerung der Mindest-Verweilzeit im Vorheizbereich von 60 auf 115 Sekunden Steigerung der Mindest-Verweilzeit über Schmelztemperatur des Lotes von 60 auf 90 Sekunden Höchsttemperatur ist nicht mehr Höchstwert, sondern Mindestanforderung Mindest-Verweilzeit im Bereich von 5 K unterhalb der Höchsttemperatur ist von 20 auf 40 Sekunden verdoppelt Das Automotive-Qualifizierungslötprofil lässt sich nur mit Reflow-Öfen der neuesten Bauart verwirklichen, da die Anforderungen sehr hoch sind: mindestens 4, idealerweise 5 Vorheizzonen mindestens 2, idealerweise 3 Peakzonen mindestens 2, idealerweise 3 Kühlzonen Durchführung der Lötprofil-Qualifikation Die entsprechenden Parameter der Lötkurve müssen vorab für jeden zu prüfenden Bauelementtyp individuell am Lötofen eingestellt werden, da die Werte der Kurve je nach Dicke und Volumen des Bauteils variieren (Tab. 2). Ohne Anpassung der Parameter an den jeweiligen Bauteiltyp kommt es zu einer Tab. 3: Vergleich kritischer Parameter der verschiedenen Qualifizierungslötprofile am Beispiel eines Bauelements <1,6 mm Kriterien IPC/JEDEC J-STD-020C verbleit IPC/JEDEC J-STD-020C bleifrei Automotive Profil bleifrei Anstiegsgradient in der Aufheizzone <3 K/s <3 K/s 3 K/s, mind. 10 s Temperatur in Vorheizzone und Haltezeit 100-150 C 60-120 s 150-200 C 60-180 s 190-200 C >115 s Haltebereich oberhalb Schmelztemperatur Lot 60-150 s >183 C 60-150 s >217 C >90 s >217 C max. Höchsttemperatur Toleranz Haltezeit 240 C -5-0 K 10-30 s 260 C -5-0 K 20-40 s 260 C 0 - +5 K 40 s Zeit bis zur Höchsttemperatur <6 min <8 min >5 min Abfallgradient in der Kühlzone <6 K/s <6 K/s 6 K/s, mind. 10 s PLUS 8 /2007 1485
Abb. 3: SOIC16-Bauteile auf Träger mit Thermo- Elementen (aus der Messpraxis bei microtec) verfälschten Lötstress-Belastung der Bauelemente (zu hohe oder zu niedrige Temperaturen) und damit zu falschen Ergebnissen. Um die Parameter korrekt einzustellen, werden Versuchsmuster gleichen Typs mit SMD-Kleber auf einem Bauteilträger befestigt und mit Thermo-Elementen als Messfühler versehen (Abb. 3). Der Messaufnehmer (Datenrecorder) hat 6 mögliche Messstellen, es werden also bis zu 6 Bauteile gleichzeitig getestet. Einer der Messfühler ist am Boden des Trägers neben dem zu messenden Bauteil (Nr. 1) befestigt, um die Temperatur auf der Ebene der Pins zu messen. Alle restlichen 5 Thermo-Elemente werden auf der Oberseite der 5 Referenz-Bauteile befestigt (Nr. 2-6) und zeichnen den Temperatur-Zeitverlauf für diese Referenzbauteile auf. Da es sich um eine Qualifikationsuntersuchung handelt, also die Löttemperaturen höher sind als beim späteren Fertigungsprozess, wurden für die Abb. 4: Bauteilträger zusammen mit Temperaturaufzeichnungsgerät zur Lötprofilerstellung an der Eingabestation eines Reflow-Lötofens Lötprofilqualifikation spezielle Träger aus temperaturbeständigem Material verwendet. Das in der Praxis erreichte Qualifikationsprofil am Beispiel der genannten SOIC16-Bauteile (mittlere Größe) ist in Abb. 5 und 6 dargestellt. In Abb. 5 und 6 sind alle 6 aufgezeichneten Temperatur-/Zeitkurven des zu messenden Bauteils (#1, Board) und der 5 Referenz-Bauteile (#2 bis #6) abgebildet. Die Peakzone ist in Abb. 6 vergrößert dargestellt. Die Legende benennt die Anordnung bzw. Position des jeweiligen Bauteils mit Messfühler auf der rechteckigen Trägerfläche (Abb. 3). Die Bauelemente sind zentimeterweise versetzt, was die aufgefächerten Kurven der einzelnen Bauelemente erklärt. Abb. 5: Qualifikationslötprofil für die in Abb. 3 gezeigten 16-poligen SOIC-Bauteile Abb. 6: Vergrößertes Detail: Höchsttemperaturen des Qualifikationslötprofils aus Abb. 6 1486 PLUS 8 /2007
Qualifikations-Lötprofil vs. Fertigungs-Lötprofil Deutlich sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass es sich bei den dargestellten Lötprofilen um Qualifikations- bzw. Testlötprofile handelt. Diese Profile sind also keinesfalls als Richtlinie für ein Fertigungslötprofil zu verstehen! Hier sollten besser Lötprofile, wie z.b. im Standard IEC 61760-1 Ed. 2.0 (2006-04) dargestellt, verwendet werden. Die gezeigten und diskutierten Qualifikationslötkurven sollten die absolute Temperaturobergrenze sein und in keinem Fall durch ein Fertigungslötprofil an einer Stelle übertroffen werden. Die Qualifikation ist erfolgreich abgeschlossen, wenn die Bauteile die hohen Temperaturen unbeschadet überstanden haben. Mittels hochauflösender Ultraschallmikroskopie wird überprüft, dass keine Risse oder Delaminationen (Popcorn-Effekt) aufgetreten sind. Fazit Lötprofilqualifikationen an aktiven und passiven Bauteilen, Leiterplatten und Baugruppen sind dringend zu empfehlen, um Ausfällen und anderen Problemen während der Baugruppenfertigung vorzubeugen. Werden Bauelement-Änderungen wie Neudesign oder Redesign z.b. für andere Märkte durchgeführt, oder sind Qualifikationsuntersuchungen geplant, sind die erhöhten Anforderungen an Temperatur und Haltezeit gegenüber dem Herstellprozess unbedingt zu beachten. Literatur [1] Hubert Knab: Wider den Popcorn-Effekt, QZ 4/2004, S. 58-60 Kontaktadresse Eckard Schöller, Leiter Qualifikation Aufbau- und Verbindungstechnik, microtec GmbH, testlab for opto + microelectronics, Motorstraße 49, 70499 Stuttgart, Tel. 0711/86709-0, eckard.schoeller@microtec.de, www.microtec.de PLUS 8 /2007 1487