Papiers Basel, Juni 2010 / Ausgabe Nr. 16 Die Zeitung der Anlaufstelle für Sans-Papiers und der Union der ArbeiterInnen ohne geregelten Aufenthalt



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Stimme der Sans-Papier Papiers Basel, Juni 2010 / Ausgabe Nr. 16 Die Zeitung der Anlaufstelle für Sans-Papiers und der Union der ArbeiterInnen ohne geregelten Aufenthalt Miranda gibt nicht auf Aktion am 2.6.10, Corinne Dobler Sans-Papiers-Kinder, die in der Schweiz aufwachsen, dürfen von Gesetzes wegen keine Lehrstelle antreten, da sie hierfür eine Aufenthaltsbewilligung benötigen. Seit Jahren kämpfen die nationale Plattform zu den Sans-Papiers und der Verein für die Rechte illegalisierter Kinder für eine diesbezügliche Gesetzesänderung (siehe Artikel Endspurt ). Seit knapp einem Jahr kommt Miranda jede zweite Woche ins Büro der Anlaufstelle für Sans- Papiers. Die couragierte 19-Jährige hat sich letztes Jahr dazu entschlossen, ohne Familie in der Schweiz zu bleiben. Miranda wuchs mit fünf Geschwistern in bescheidenen Verhältnissen auf. Als in ihrem Land der Krieg ausbrach, flüchtete sie mit ihren Eltern 1999 in die Schweiz. Die Familie lebte jahrelang in der Zentralschweiz, bis sie aufgrund eines Wegweisungsentscheids wegziehen musste. In Basel setzte Miranda ihre Schulbildung fort und lernte ihren Freund Simon kennen. Als die fehlende Aufenthaltsbewilligung ihrer Eltern und Geschwister im letzten Jahr aufflog und die Familie ins Herkunftsland ausgewiesen wurde, war für sie klar, dass sie in ihrem vertrauten Umfeld bleiben möchte. Kaum achtzehnjährig lernte sie, selbständig durchs Leben zu gehen. Die Anlaufstelle für Sans-Papiers unterstützte sie im Entscheid, die Schulbildung weiterzuführen und organisierte ihr ein Stipendium. Seither besucht sie die Anlaufstelle jede zweite Woche und berichtet über die neusten Entwicklungen in ihrem Alltag. Die Familie vermisst sie, doch bereut sie ihren Entscheid hier zu bleiben, nicht. Denn eine Rückkehr in ihr Herkunftsland ist für sie undenkbar. Sie ist in der Schweiz aufgewachsen und fühlt sich hier zuhause. In Basel hat sie ihre Kolleginnen und Freunde. Nach bevorstehendem Abschluss der obligatorischen Schulzeit steht Miranda als jugendliche Sans- Papiers vor einer grossen Herausforderung. Sans-Papiers können bisher keine Berufslehre machen, da die Lehre an eine Arbeitsbewilligung geknüpft ist. Nach monatelanger intensiver Suche hat sie nun aber eine Zwischenlösung gefunden: Ab August kann sie eine einjährige Vorlehre absolvieren. Miranda ist überglücklich: Endlich hab ich es geschafft! Ich bin richtig stolz auf mich! Es geht mir viel besser, seit ich die Stelle habe. Damit ist sie ihrem Ziel - dem Lehrabschluss - ein Stück näher gerückt. Und in einem Jahr, so hofft sie, sollte es in der Schweiz in Anbetracht der aktuellen politischen Vorstösse auch für Sans-Papiers möglich sein, eine Lehre zu absolvieren (siehe auch den Artikel Endspurt ). Die weitere Zukunft sieht Miranda deshalb nicht mehr so schwarz. In den kommenden Jahren erhofft sie sich eine Regularisierung ihres Aufenthalts. Entweder durch ein Härtefallgesuch oder aber eine Heirat. Letzteres könne aber gut noch ein wenig warten. Simon und ich haben es sehr gut zusammen und ich weiss, dass er mich heiraten würde. Wir haben das schon öfters besprochen. Aber wir sind noch sehr jung und es muss nicht dringend jetzt schon sein. Aber klar, die Umstände lassen den Gedanken schon aufkommen. Vorerst muss Miranda aber weiterkämpfen. Mein dringendstes Problem ist gelöst, ich habe eine Vorlehrstelle gefunden. Damit ist meine unmittelbare Zukunft geregelt. Jetzt muss ich mich aber der Wohnungssuche widmen, sonst stehe ich bald auf der Strasse. Eine nicht ganz einfache Angelegenheit für eine Person ohne geregelten Aufenthalt mit beschränken finanziellen Mitteln. Mirjam Ringenbach

Endspurt Die 2008 lancierte Kampagne Kein Kind ist illegal fordert: Ein umfassendes Recht auf Bildung - von der vorschulischen Bildung bis zur Ausbildung an einer Mittelschule und dem Absolvieren einer Lehre; Den sofortigen Stopp der Zwangsmassnahmen gegen Minderjährige; Vereinfachte Regularisierungsmöglichkeiten für Kinder und ihre Familien. Wie geht es weiter mit der Kampagne? Dank intensiver Öffentlichkeitsund Lobbyarbeit wurde die Thematik der Sans-Papiers-Kinder und die Forderungen der Kampagne breit diskutiert und aufs politische Parkett gebracht, so dass zentrale Forderungen der Kampagne kurz vor dem Durchbruch stehen. Ein von mehr als 10'000 Personen und 81 Organisationen unterzeichnetes Manifest wurde am 2. Juni 2010 begleitet von Aktionen den für die Migrations- und Bildungspolitik zuständigen Bundesrätinnen Eveline Widmer-Schlumpf und Doris Leuthard in Bern überreicht umrahmt von einer Veranstaltung auf dem Waisenhausplatz in Bern. Die Übergabe stand im Zeichen der Abstimmungen im Ständerat am 14. Juni 2010. Kein Kind ist illegal. forderte die Ständerätinnen und Ständeräte auf, für die zwei Motionen zu stimmen, welche den Bundesrat beauftragen, die Kinderrechtskonvention auch auf Kinder und Jugendlichen ohne geregelten Aufenthaltsstatus anzuwenden und ihnen den Zugang zu einer Berufslehre zu ermöglichen (siehe dazu in der letzten Nummer Stimme der Sans-Papiers ). Die aus einem Wettbewerb entstandene Wanderausstellung zum Thema tourt auch in Zukunft weiter durch die Schweiz. Zudem steht die Publikation einer Broschüre an, die Lehrpersonen über die rechtliche Situation von Sans-Papiers informiert und Handlungsempfehlungen für Schulen abgibt. Freiheit.Gleichheit. Würde. Für mich und dich! Gesamtschweizerische Gross-Demo am Samstag, 26. Juni 2010 in Bern. Besammlung: 14.30 Waisenhausplatz, Schlusskundgebung auf dem Bundesplatz Wir sagen: Ja zur Regularisierung von Sans-Papiers. Flüchtlinge brau-chen Schutz, nicht Abschreckung. Kein Mensch ist illegal. Zwangs-ausschaffungen sind unmensch-lich. Ja zum Recht auf Ehe auch für Menschen, die keine Papiere haben. Liebe kennt keine Grenz-en. Ja zum Einsatz für Menschenwürde und Menschenrechte. Unterstützungsgruppen von und für Menschen, die ausgegrenzt werden, dürfen nicht kriminalisiert werden. Ja zur Sozialhilfe für alle, die sie benötigen. Die Nothilfe muss in Sozialhilfe umgewandelt werden und ein menschenwürdiges Leben ermöglichen. Die Arbeitslosenversicherung muss in der Krise ausund nicht abgebaut werden. NEIN zur Ausschaffungsinitiative. Ein liberales Strafrecht gilt für alle gleich. Demokratie kann es ohne Grundrechte nicht geben. Sie sind Fundament einer offenen Gesellschaft mit Zukunft. Sie gelten für alle. Oder gar nicht. Darum stehen wir ein für Freiheit. Gleichheit. Würde. Für mich und dich. www.sosf.ch Spendenbarometer 2010 - Helfen Sie der Anlaufstelle über die Runden Am 20. Mai beliefen sich die diesjährigen Spenden von Privaten auf 19 147 Franken. Dies entspricht knapp 20 % des Jahresbudgets 2010. 2

Im Gedenken an Enrique Garcia Am 17. März 2010 ist Enrique in seinem 74. Altersjahr gestorben. 2001 habe ich Enrique im Rahmen der Sans-Papiers-Bewegung kennengelernt. Zu der Zeit lebte Enrique - gebürtiger Kolumbianer - schon mehrere Jahrzehnte in Europa. 2002 erhielte er als erster Sans-Papiers der Region Basel eine Härtefallbewilligung. Bis kurz vor seinem Tod beteiligte er sich aktiv an allen Aktivitäten rund um die Sans-Papiers-Bewegung. Enrique verfolgte das Geschehen rund um die Migrationspolitik intensiv. Er konnte einfach nicht akzeptieren, dass es für so viele Menschen keine Lösung geben sollte. Er konnte sich furchtbar darüber aufregen. In den ersten Jahren war Enrique eine Schlüsselperson für viele Sans- Papiers. Diese wendeten sich mit ihren Problemen oft zuerst an ihn. Bei Verhaftungen war er daher oft der erste Überbringer der schlechten Nachricht an mich Enrique kannte viele Menschen aus unterschiedlichsten Zusammenhängen: Schachclub, lateinamerikanische community, Anthroposophen, Longo Mai, Sans- Papiers. Er lebte vom Gemüseverkauf am Markt, von Übersetzungsaufträgen und hütete die Kinder einer Familie in Baselland. Enrique war ein begnadeter Erzähler von Anekdoten und Witzen. Er konnte unglaubliche Mengen Rotwein trinken und kam dann erst so richtig in Fahrt. Was haben wir zusammen gelacht, bis uns die Tränen kamen! Trotz unzähliger zusammen verbrachter Stunden weiss ich eigenartigerweise kaum etwas über den Menschen Enrique und seine Vergangenheit. Über seine Kinder in Kolumbien zum Beispiel. Oder warum er Südamerika vor so langer Zeit verlassen hat. Mit Enrique verlieren wir einen grosszügigen, humorvollen Menschen, einen Lebenskünstler, einen engagierten Weltbürger. Sein Lebensweg war stets von grossem sozialem Engagement geprägt. Pierre-Alain Niklaus Am Zwangsmassnahmen-Gericht Die Verlängerung der Ausschaffungshaft ist mit dem Völkerrecht vereinbar. Entscheidend ist, dass ein unabhängiger Haftrichter die Verhältnismässigkeit der Haft regelmässig überprüft, steht in der Weisung zu den Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht. Wie kann sich ein solches Haftüberprüfungsverfahren abspielen? Die Richterin zeichnet sich aus durch optimale Effizienz. Im 15- Minuten-Takt sind die Ausschaffungs-und Durchsetzungshäftlinge zur Haftüberprüfung vorgeladen. In Handschellen werden sie von zwei Polizisten vom Gefangenenwagen in den Gerichtssaal hineingeführt und dann für die Verhandlung kurz von den Fesseln befreit. In wenigen Sätzen begründet der Vertreter der Fremdenpolizei zu Verhandlungsbeginn den Haftverlängerungsantrag. Herr X ist von grosser Statur und trägt Kleider, die ihm viel zu klein sind. Während der langen bewegungsarmen Zeit im Ausschaf- 3

fungsgefängnis hat er zugenommen. Er sitzt in einem ausgeliehenen Pullover über einen kleinen Tisch gebeugt, links von ihm das Pult mit dem Antrag stellenden Fremdenpolizisten, vor ihm erhöht die Richterin mit einer jungen Gerichtsschreiberin und der Dolmetscherin. Während der Verhandlung wird Herr X. in eine stumme Statistenrolle verwiesen. Das ganze richterliche Überprüfungsverfahren der Zwangsmassnahmenrichterin dauert 18 Minuten. Der Hin- und Rücktransport des Häftlings die Wartezeiten in einer Zelle in der Nähe des Gerichts miteingeschlossen - erstreckt sich über einen halben oder ganzen Tag. Hätte ich als Vertreterin von Herrn X. nicht ein siebenminütiges Plädoyer gehalten, hätte die Verhandlung noch beschleunigt werden können. Denn das Urteil liegt im Wesentlichen schon vor. Obwohl ich die Überprüfungsverhandlungen dieser Richterin und ihre Eile kenne, habe ich mein Plädoyer gut vorbereitet, denn ich muss in knapper Form die wesentlichen Argumente bringen. Aufgrund der letzten drei fast identischen Urteilsbegründungen antizipiere ich den zu erwartenden Richterspruch. Doch die richterliche Routine ist unerschütterlich. Ohne Unterbrechung der Gerichtsverhandlung folgt nach meinem Plädoyer das Urteil. Die Richterin bejaht die Haftverlängerung. Herr X. trage mit seinem unkooperativen Verhalten allein die Schuld dafür. Fünf Tage später komme ich wieder zum Gericht. Im Korridor treffe ich auf den mir gut bekannten Ausschaffungshäftling S. Nach zehn Minuten Verhandlung wird er ganz benommen von zwei Polizisten aus dem Gerichtssaal herausgeführt. Ich vertrete Herrn Y., der als nächster an die Reihe kommt. Er ist wegen seinem Hungerstreik vor über einem Monat als Ausschaffungshäftling in ein Straf- und später in ein Untersuchungsgefängnis verlegt worden. Er hat keinen Kontakt mit anderen Ausschaffungshäftlingen und kaum Zugang zum Telefon. Solche strengen Haftbedingungen für Ausschaffungshäftlinge sind klar bundesrechtswidrig. Der Fremdenpolizist sagt, es sei nicht möglich gewesen, einen Platz für ihn in einem Ausschaffungsgefängnis zu finden. Ich rege an, dass Herr Y. zu seinen Haftbedingungen befragt wird. Die Fragen der Richterin darf er nur mit nein oder ja beantworten, was ihm nicht recht gelingen will. Sein Vater sei gestorben, das mache ihm zu schaffen Aber solche Sachen gehören nicht hierher. Ja, er erhalte Beruhigungsmedikamente, ja, er habe den Psychiater im vergangenen Monat ein Mal gesehen. Das Migrationsamt solle weiterhin nach einem Platz mit erleichterten Haftbedingungen suchen, sagt die Richterin und verlängert die Ausschaffungshaft um zwei Monate. Gleichentags muss Herr Y. wegen Selbstverletzungen ins Spital eingeliefert werden. Anni Lanz Demo vom 19.3.2010 in Zurich 4 Zeitung der Anlaufstelle für Sans- Papiers Gewerkschaftshaus, Rebgasse 1, Basel Tel. 061 681 56 10 basel@sans-papiers.ch www.sans-papiers.ch Postkonto: 40-327601-1 Öffnungszeiten: Di: 14-18, Do: 16-20 Uhr Telefonische Auskünfte: Di: 11-12 und Do: 15-16 Uhr Trägerorganisationen: Solidaritätsnetz Basel Demokratische JuristInnen (DJS) Interprofessionelle Gewerkschaft (IGA) Comité européen pour la défense des réfugiés et immigrés (C.E.D.R.I) VPOD Basel Unia Basel BASTA! Redaktion: Anni Lanz

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