Helene Kynast Sunshine

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Transkript:

Helene Kynast Sunshine

DIE AUTORIN Foto: privat Helene Kynast, in Lodz/Polen geboren, wuchs in einem kleinen Dorf im Sauerland auf. Nach einer kaufmännischen Ausbildung arbeitete sie zunächst als Arzthelferin und verbrachte dann zwei Jahre auf einer Farm in Island. Von dort aus ging es nach Paris und schließlich zurück nach Deutschland. In Düsseldorf studierte sie Germanistik und Philosophie. Heute lebt Helene Kynast mit ihrem Mann in Bremen. Für ihren Erstling»Alles Bolero«erhielt sie 1997 den Oldenburger Jugendbuchpreis. Weitere Titel von Helene Kynast sind bei OMNIBUS erschienen.

Helene Kynast Sunshine

Band 30260 cbt C. Bertelsmann Taschenbuch Der Taschenbuchverlag für Jugendliche Verlagsgruppe Random House www.cbj-verlag.de Umwelthinweis: Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuches sind chlorfrei und umweltschonend. 1. Auflage Erstmals als cbt-taschenbuch Juli 2005 Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform 2002 Thienemann Verlag (Thienemann Verlag GmbH), Stuttgart/Wien 2005 cbt/cbj Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagkonzeption: init.büro für gestaltung, Bielefeld lf Herstellung: CZ Satz: KCS GmbH, Buchholz/Hamburg Druck: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN 3-570-30260-1 Printed in Germany

SONNTAG Peng! Die Tür ist zu. Es ist also wirklich aus und vorbei. Ich sehe mich noch einmal im Zimmer um. Bimbo guckt mich mit seinen Knopfaugen an. Meinetwegen komm mit, Kleiner, du bist ja n Leichtgewicht. Ich greife mir den Plüschteddy aus dem Regal, dann setze ich den Rucksack auf und schließe leise die Tür. Die fünf Etagen hinunter nehme ich heute Stufe für Stufe. Unten zögere ich. Die Reihe der zerbeulten Briefkästen, Karola Weimann u. Joschu Herz steht mit rotem Filzstift quer über dem letzten. Soll ich noch einen Zettel für sie einwerfen? In Eile und trotzdem von Herzen: Ich liebe dich! Dein Schnorrer»Hau ab. Hau endlich ab!«also lieber nicht. Ich öffne die Schlupftür der Pforte und stehe auf dem Bürgersteig. Der obere Klingelknopf: Wenn ich den Finger draufhalte es ist so ein altes Schepperding, das Tote aufweckt. Doch Karola war vorhin noch sehr lebendig:»ich 5

hab s jetzt satt! Du Poet! Du gammelst nur noch rum. Glaub ja nicht, dass ich dich durchfüttern werde, wenn du pleite bist. Ich bin nicht das Sozialamt!Wenn ich demnächst in die richtige Band einsteige... vielleicht schaffe ich es ja auch allein. Mit meinen Songtexten. Wie... Hör auf mit deinem Bob Dylan!«Sie kam meinen Tapes im Regal gefährlich nahe. Wie schön die Wut in ihren Augen leuchtete! Dann hob sie die Hand und...»bitte nicht!«ich hatte plötzlich das Splittern von damals in den Ohren. Unsere Schallplatte unter Mutters Füßen. Vaters und meine... Karola ließ die Hand wieder sinken.»hau ab! Hau bloß ab! Hau endlich ab!«ihre Stimme war leise klirrender Nachtfrost und sie artikulierte jedes Wort so deutlich, als wäre sie auf der Bühne. Ich sah ihr auf den Mund und erwartete, ihren Atem gefrieren zu sehen. Geh aus, mein Herz, und suche Freud, begann ich vor mich hin zu summen. Meine letzte Clown-Vorstellung; ich wusste, dass es nicht mehr funktionieren würde. Dass ich sie damit nicht noch einmal zum Lachen bringen würde. Schluss! Aus! Vorbei! Sie zerrte meinen Rucksack aus dem Wandschrank und warf ihn mir vor die Füße. Das blaue T-Shirt flog mir an den Kopf, die Jeans hinterher.»den Rest kannst du dir später vor der Tür zusammensuchen«, sagte sie in diesem Gefrierton.»Und mein Schlagzeug?Auch.«Ich fing an zu packen; im Schneckentempo und mit einem letzten Funken Hoffnung, dass sie mich viel- 6

leicht doch noch stoppen würde. Sie sah mir ungerührt zu.»und vergiss deinen Poeten nicht, du Künstler!«Wumm! Das Geschoss saß. Aber die Dylan-Tapes mussten natürlich mit, da hatte sie Recht. Und das Cover der alten Vinylscheibe. Blowin in the wind. Die Welt in Flammen und vornedrauf Bob, der sie mit seinen Songs zu retten versucht. Als Mutter der Platte damals den Rest gab, war zwischen Vater und ihr längst nichts mehr zu retten gewesen. Ich habe noch nie so langsam und ordentlich meinen Rucksack gepackt. Doch dann war es so weit. Ein letzter Check: der Schlafsack, die dreihundert Euro, der Walkman, meine Mundharmonika. Bevor ich ihn aufsetzte, mein allerletzter Versuch:»Karola, bitte... Verschwinde!«Die Buchstaben zischten wie Wasser auf Feuer. Und dann, peng, knallte sie die Tür hinter sich zu. Was für ein trauriges Ende. Los, komm in die Gänge, Joschu Herz! Den Klingelknopf drücken ist so zwecklos wie Betteln und Hausieren. Ich laufe zur Haltestelle. Durch unsere Straße. Bröckelnde Jugendstilfassaden, kleine Läden, die den neuen Glas-und-Stahl-Einkaufspalast noch überlebt haben, an der Ecke die Meisenstuben. Wie schwer der erste Abhau-Schritt ist! Ich schleppe eine Tonne Blei an den Füßen. Aber ich muss weg aus Berlin. Sonst stehe ich nach drei Stunden wieder vor ihrer Tür. Vor unserer Tür. Es war ja auch meine Wohnung, aus der ich rausgeflogen 7

bin. Vielleicht öffnet dann schon dieser Mario: Lass Karola in Ruhe! Kapiert? Und peng! Tür zu! Ich stöpsele mir Bob Dylan in die Ohren. To be your own with no direction home. Das Heimweh brennt schon lichterloh und ich bin noch nicht mal an der Haltestelle. Tschüs, Berlin! Dabei bin ich gar kein Berliner. Ich komme aus der tiefsten Provinz und bin erst seit fünf Jahren hier. Die letzten drei waren das pralle Leben gewesen. Wir Jungs von der Band. Mirko, Achmed, Jan und ich. The Very Go(o)ds! Wir litten nicht gerade an Bescheidenheit. Und dann kam Karola dazu, unser Superstar. Die fünf Unzertrennlichen auf immer und ewig. Doch diese Platte ist seit vier Monaten abgelaufen. Sang- und klanglos. Wirklich ein trauriges Ende. Die Bahn taucht zum Alex ab. Dann geht s überirdisch weiter. Blauer Federwölkchenhimmel; über Berlin ist der Hochsommer ausgebrochen. Mach s wie immer, Joschu. Leg dich eine Weile im Tiergarten unter die Trauerweiden. Denk dir da ein paar Verse aus und geh damit zu ihr zurück. Doch eine nüchterne Instanz in meinem Kopf warnt: Lass es! Ich wundere mich, woher sie plötzlich kommt. Aber sie hat Recht. Es war ja schon längst aus und nur noch eine Frage der Zeit. With no direction home, singt Bob noch einmal, und ich summe mit. Ich muss einen Entschluss fassen. Die Zukunft baut sich wie ein fett gedrucktes Fragezeichen vor mir auf. Vielleicht liegt alles, was das Leben zu bieten hat, ja schon hinter mir: große Liebe, bescheidener Erfolg und 8

etwas Kleingeld, um ein bisschen Spaß zu haben. Ich schließe einen Moment lang die Augen und die Vergangenheit flimmert mir unter den Lidern. Kreise, Punkte, Fäden. Ein buntes Kommen und Gehen. Bis das fette graue Fragezeichen bleibt. Wie ich mich auch anstrenge, keine Farbe mehr. Das kann s doch nicht gewesen sein! Ich betrachte mein Spiegelbild im Fenster: energisches Kinn, kräftige Nase, trotzig aufgeworfene Lippen: Mann, pack es an! Versuch was Neues!»Versuch was Neues!«, fordere ich mich noch mal laut auf und lasse Bimbo zur Bekräftigung brummen. Die Leute um mich herum werfen halb verschämte, halb neugierige Blicke auf mich: Der Arme! Geistig zurückgeblieben. Ich lächle in die Runde:»Zu den Flamingos, Bimbo?«, frage ich den Teddy. Dann stecke ich ihn in die Seitentasche des Rucksacks und lasse ihn rausgucken. Jetzt sehen alle weg. Wenn de nich wees, wohin, alleene bis und keene Knete nich has, denn imma Richtung Süden, hatte Schnapsnase neulich in den Meisenstuben gesagt. Sonne un n bisken Fusel. Det isses. Am Zoo steige ich aus, die meisten auch. Andere drängen schon vor den Türen. Niemand kümmert sich mehr um mich. Alle sind wieder in ihrem eigenen Leben unterwegs. Ich habe noch nicht gefrühstückt. Bevor ich mich für eine Himmelsrichtung entscheide, brauche ich einen Imbiss. - - - - - - - - - - 9

»Bitte nicht drängeln. Immer der Reihe nach«, sagt der Typ grinsend, als ich an ihm vorbei die Auffahrt ein Stück weiter entlanggehen will. Er trägt eine reflektierende Mafia-Sonnenbrille, seine orange gefärbte Haarbürste ist mit Gel gestylt und auf dem blauen Sweatshirt leuchtet eine Sonnenblume. Um den Hals hängt ihm ein gelb-blau geringelter Schal bis zu den Knien. Bei jetzt ungefähr vierundzwanzig Grad im Schatten!»Keine Sorge, der erste Rolls-Royce gehört dir«, beruhige ich ihn.»wohin willst du denn?«, fragt er. Dabei lächelt er schief und zeigt eine Lücke zwischen den unteren Schneidezähnen. Er ist ziemlich mager; eine Windböe könnte ihn wahrscheinlich direkt an sein Reiseziel pusten.»weg«, sage ich knapp. Das muss ihm genügen.»aha.«er tut, als wäre das eine erschöpfende Auskunft, aber ich spüre, dass er mehr wissen möchte. Jedenfalls lächelt er immer noch. Doch ich habe keine Lust auf eine Unterhaltung mit ihm. Ich frage ihn also nicht, wohin er will. So wie er eingemummt ist, könnte er schnurstracks zum Nordpol, um dort etwas Farbe in die Landschaft zu bringen.»ich will übrigens in die gleiche Richtung«, fängt er wieder an, setzt sich jetzt auf seine Leinentasche und hält sein Gesicht in die Sonne. Mister Sunshine!»Aha«, mache ich auch und versuche, desinteressiert zu klingen. Ich habe nicht vor, mit ihm zusammen die Fahrt ins Blaue anzutreten. Demonstrativ lege ich jetzt doch ein paar Meter Abstand zwischen uns. Wird schwer werden, von hier wegzukommen, wenn ich mich an das ungeschriebene Trampergesetz halte: Die 10

Ersten sollen die Ersten sein. Der Typ war zuerst da. Doch so bunt, wie er aussieht, kann s dauern, bis jemand aufs Bremspedal tritt und ihm die Wagentür öffnet. Eigentlich mag ich bunte Vögel. Zum Beispiel weißrosa Flamingos mit schwarzen Unterflügeln. Ich beobachte sie stundenlang im Zoo. Aber gegen den baldigen Abflug von diesem Paradiesvogel hier hätte ich nichts. Und dann bekomme ich meinen eigenen Anschluss Richtung Weg. Hoffentlich ist er kein Nesthocker. Er sitzt immer noch auf seiner blauen Tasche mit dem gelben Aufkleber Follow me!, den linken Ellbogen auf dem Knie, das Kinn in die Hand gestützt, und hält ziemlich lasch seinen rechten Daumen in die Windstille. Manchmal dreht er den Kopf zu mir rüber. Wahrscheinlich schätzt er mich durch seine undurchsichtigen Gläser ab. Das nervt mich ziemlich. Die Wagen rauschen an uns vorbei. Ich habe inzwischen aufgehört, sie zu zählen. Es ist gleich Mittag und die Sonne knallt herunter.»wie lange hängst du hier schon rum?«, rufe ich ihm über die zwanzig Meter Entfernung zu. Er gähnt, als sei ihm die Frage lästig, und nuschelt irgendwas so unverständlich in meine Richtung, dass es nur als phonetisches Atom bei mir ankommt. Hat er vielleicht»halt die Klappe«gesagt? Auf einmal rutscht er mit dem Hintern von der Tasche runter und bettet sein leuchtendes Haupt darauf, die Arme im Nacken verschränkt, das Gesicht voll der Sonne ausgesetzt, nur die Augen hinter der Mafiabrille versteckt.»wenn du erst mal einen Mittagsschlaf machen 11

willst, verzieh dich am besten rüber ins Gebüsch. Dadurch vergrößern sich meine Chancen hier enorm. Und du riskierst keinen Hautkrebs in der prallen Sonne.«Gerade rollt das x-te Gefährt an uns vorbei, ein roter Polo. Ich fluche ihm zwischen den Zähnen nach. Darauf war ich jetzt nicht gefasst, dass der Typ tatsächlich auf meinen Vorschlag eingeht. Er nimmt seine Tasche auf, an der er merkwürdig schleppt, und verzieht sich zu den Heckenrosen. Seine Sonnengläser blitzen wieder auf, als er noch einmal zu mir rübersieht:»weckst du mich dann?«, ruft er mir diesmal sehr deutlich zu.»schaun wir mal«, rufe ich zurück.»aber verlass dich nicht drauf!«doch er hat sich schon auf dem Grünstreifen ausgestreckt. Wenn er Anschluss sucht, ist er bei mir jedenfalls an der falschen Adresse. Ich weiß ja selbst nicht, wo es für mich langgeht. Und mit ihm zusammen werde ich gar nicht erst von der Stelle kommen. Ich halte weiter den Daumen hoch. Opel, Mercedes, VW, Toyota. Dass wenige Minuten nach dem Abtauchen von diesem Typ ein rassiger dunkelblauer BMW stoppt, halte ich nicht für einen Zufall. Eine elegante Frau lässt das Fenster herunter. Sie könnte in einem Werbespot als Chefin einer Großbank auftreten. Ihr Alter? Schwer zu schätzen. Irgendwo zwischen fünfunddreißig und fünfundvierzig.»wohin willst du? Ich fahre nach Osnabrück«, sagt sie freundlich. Dabei tastet sie mich mit einem raschen Blick ab. Ich scheine bei ihr nicht durchzufallen.»ja, prima«, sage ich, obwohl ich auf eine südliche Route gehofft hatte. 12

Ich werfe schnell meinen Rucksack nach hinten, steige vorne ein und zieh die Tür zu. Als sie anfährt, sehe ich mich noch mal kurz um. Mister Sunshine, bei den Heckenrosen, hat sich aufgesetzt und seine Sonnenbrille abgenommen. Er schaut mir direkt in die Augen. In seinem Blick erkenne ich Resignation: Verräter, verpiss dich! So ist das Leben nun mal. Hart, aber ungerecht.»ach ja, mein Kumpel! Den hätte ich fast vergessen«, sage ich in einem plötzlichen Anfall von Solidarität.»Aha, das übliche Spielchen. Einer winkt und fünf kriechen dann noch aus den Büschen.«In ihrer Stimme klingt leiser Spott mit. Ich sehe sie mit meinem braunen Hundeblick an.»diesmal nur einer. Ziemlich netter, unkomplizierter Kerl.Na schön. Meinetwegen.«Sie stoppt noch mal. Der Typ hat die Situation sofort erfasst und kommt in schiefer Haltung auf uns zu, seine Tasche auf der Hüfte abgestemmt. Was er dadrin wohl gebunkert hat?»hi«, macht er, schaut durchs Fenster und lächelt schief.»verstau dein Gepäck und beeil dich«, sagt die Lady zu ihm. Sein Outfit scheint sie nicht zu irritieren. Er wuchtet die Tasche auf den Rücksitz und setzt sich daneben. Die Lady gibt wieder Gas und wir rollen die Auffahrt zur Autobahn hoch. Sie heißt Hannah, sagt sie, und wir können Du zu ihr sagen.»joschu Herz«, stelle ich mich vor. Und biete ihr auch 13

an, dass sie Du zu mir sagen kann. Obwohl sie das ja schon getan hat.»wie das Herz?«, fragt sie.»genau. Wie die Liebeszentrale.«Sie lacht. Mister Sunshine hinter uns verzichtet auf eine förmliche Vorstellung. Hannah kennt sich mit der Jugend von heute aus. Wir wären im Durchschnitt schon ganz okay, meint sie, und irgendwie klingt es etwas gönnerhaft und so, dass ich mir ein bisschen verarscht vorkomme, ich weiß nicht so genau, warum. Trotzdem grinse ich, nicke und sage:»okay. Ja, wir sind schon ganz okay.«und ich weiß wieder nicht, warum, aber ich fühle auf einmal so ein globales Mitleid in mir aufsteigen. Mit mir, mit ihr, mit dem Typ hinter uns und überhaupt mit der Menschheit. Ich drehe mich zu dem bunten Vogel um. Der hat es sich bequem gemacht, den Kopf auf meinem Schlafsack; die Beine baumeln seitlich herunter. Er will wohl sein unterbrochenes Nickerchen fortsetzen. Die Sonnenbrille hat er auf der Brust abgelegt, seine Augen sind geschlossen, die Augäpfel unter den Lidern wandern. Alles bunt darunter? Punkte, Kringel, Kreise, die kommen und gehen? Und dann bleibt vielleicht auch so ein Zukunftsgrau mit dickem Fragezeichen. Auf welchem Trip der wohl ist? Seine Gesichtszüge jedenfalls wirken verreist, weit weg vom Thema Jugend von heute. Ich fühle mich auf einmal wie ein Voyeur, als würde ich etwas Intimes belauschen, und drehe mich wieder weg. Hannah ist Psychologin und fährt zu einem Seminar über Gewaltbereitschaft bei Jugendlichen. Sie hält an der PH in Osnabrück einen Vortrag darüber, erzählt sie. 14

»Und du hast uns trotzdem mitgenommen? Keine Angst, dass wir gleich unsere Messer zücken?«sie lacht.»ihr beide seht ganz zivil aus.äh... beide?«, frage ich und lasse meinen Zweifel raushören.»hm«, macht sie nur, schert nach links aus und überholt einen LKW. Vielleicht sammelt sie ja Studienmaterial und hat deshalb gebremst und uns mitgenommen.»stimmt. Ich bin total friedensbewegt«, sage ich und beobachte aus den Augenwinkeln, wie sie reagiert. Sie verzieht nicht mal die Mundwinkel zu einem Lächeln, sondern schaut weiter unbeeindruckt auf die Fahrbahn.»Wie alt bist du?«, fragt sie dann.»moment mal... seit drei Monaten und zwei Tagen neunzehn, aber ich kenne mich im Leben schon ziemlich gut aus«, sage ich. Jetzt lacht sie doch. Wenn sie lacht, wirkt sie jünger.»und was machst du so? Gehst du noch zur Schule oder schon zur Uni?«Erwecke ich etwa den Eindruck, ein Intellektueller zu sein?»ich studiere das Leben«, sage ich. Sie macht wieder nur»hm«. Vielleicht hat sie ja keinen Humor. Und schon eine komplette Meinung über mich. Ich halte erst mal den Mund und drehe mich wieder zu Mister Sunshine um. Der hat zur Unterhaltung bisher nichts beigetragen. Weilt sein Geist noch unter uns oder schwebt er schon irgendwo im Nirwana? Seine Augäpfel hinter den Lidern wandern nicht mehr. Er schläft und ich bin für den Smalltalk mit Hannah weiterhin zuständig. 15

»Ist doch erlaubt?«ich sehe ihre Kassetten in der Ablage durch. Sie nickt. Ich lese die Titel. Pop, keine Klassik. Immerhin. Damit habe ich nicht gerechnet. Akademiker hören doch nur E-Musik, oder? Ich schiebe eine Kassette ins Tapedeck und sie singt leise mit. Everybody needs somebody Everybody needs somebody to love Somebody to love Wir sind eine Weile mit den Songs beschäftigt.»magst du auch Bob Dylan?«, frage ich sie.»die Beatles und die Rolling Stones sind mir lieber. Interessierst du dich denn noch für diese Oldies?Bob ist ein zeitloses Genie. For ever young, auch noch mit einundsechzig.ich dachte, ihr hört heute nur Techno.Die Hammerbeats aus der Konservendose? Nichts für mich. Bob Dylan ist mein geistiger Ziehvater.Du meinst wohl Großvater?«Ich spüre ihren Seitenblick.»Je älter das Genie, desto größer. Nimm nur mal Goethe.«Sie verzieht ihr Gesicht zum Lächeln. Da frage ich sie:»wie alt bist du eigentlich?ist das so wichtig?«es klingt, als wäre sie jetzt etwas pikiert.»überhaupt nicht«, versuche ich s locker auszubügeln.»genau deswegen kannst du s mir ja verraten.vierzig«, sagt sie. Mir kommt sofort der abgedroschene Gedanke, dass sie meine Mutter sein könnte.»wenn du lachst, siehst du viel jünger aus.«16

»Danke.«Sie wird ein bisschen rot an den Ohrläppchen und am Hals. Ich will sie wieder in Stimmung bringen und hole meine Mundharmonika raus.»für dich«, sage ich und spiele von den Beatles From me to you, dann Yesterday. Sie ist überrascht.»du bist ja richtig gut!«ich glaube, jetzt bin ich ein bisschen rot geworden. Jedenfalls sind meine Ohrläppchen ganz heiß.»mach doch weiter«, fordert sie mich auf. Klar, das mache ich. Schließlich habe ich noch eine Menge drauf. Und es tut mir gut, dass ihr mein Spiel gefällt.»wo wollt ihr raus?«, fragt sie nach einer Weile.»Wir sind bald da.auffahrt Amsterdam«, kommt es von hinten. Mister Sunshine ist wieder unter uns!»nach Amsterdam werdet ihr heute kaum mehr kommen. Es ist schon ziemlich spät.also mein Ziel liegt eigentlich auch südlicher. Irgendeine Flamingogegend.Ihr wollt nach Südfrankreich? In die Camargue?Jedenfalls nach Süden«, sage ich.»zuerst nach Amsterdam«, sagt Mister Sunshine wieder von hinten. Diesmal sehr bestimmt. Ich will ihm klar machen, dass ich meine Luxusreise eigentlich als Single gebucht habe. Aber dann sehe ich vor mir wieder diese Absence vorhin auf seinem Gesicht. Und irgendwas überredet mich, den bunten Vogel für heute erst mal unter meine Fittiche zu nehmen. Womit weckt er bloß in mir schlummernde Beschützerinstinkte? Aber auf welcher Route es langgehen soll, bestimme ich selbst. 17

Ich drehe mich zu ihm um:»ich will eigentlich schnurstracks nach Süden.Nach Süden geht s über Amsterdam«, behauptet er gegen den Kompass und sieht mir einen Moment lang wieder direkt in die Augen. Seine Sonnenbrille hängt im Halsausschnitt seines Sweatshirts. Dann guckt er interessiert aus dem Fenster, obwohl es da draußen nicht sonderlich spannend ist. Er sollte sich keine Illusionen machen. Ich glaube nicht, dass wir dieselbe Wellenlänge haben, um uns zusammenzutun. Plötzlich nuschelt er was, was überhaupt nicht zu der öden Autobahnlandschaft passt.»violette Stadt unter gelbem Gestirn.«Was soll das jetzt? Er muss eine Fata Morgana sehen. Ich jedenfalls sehe nur Asphalt und Gebüsch. Dass seine farbliche Optik gestört ist, erkennt man an seinem Aufzug. Aber vielleicht leidet er auch noch an Ideenflucht. Wir waren gerade dabei, die Reiseroute zu diskutieren. Ich antworte nichts. Schließlich hat er ja keine Frage gestellt. Aber ich bin wieder entschlossen, ihn allein nach seinem eigenen Kompass ziehen zu lassen. Hannah sagt auch nichts mehr, verlangsamt nach ein paar Kilometern das Tempo und blinkt nach rechts. Ausfahrt Osnabrück.»Soll ich euch hier rauslassen?«, fragt sie.»wenn ihr euch übers Ziel noch nicht einig seid, wär s vielleicht besser, ihr würdet erst mal drüber schlafen. Ich weiß nicht, ob es in Osnabrück eine Jugendherberge gibt. Oder habt ihr Geld für ein billiges Hotel?«Von hinten kommt Schweigen. Von mir auch.»was ist jetzt?«sie wird ungeduldig.»im Moment sind wir ziemlich abgebrannt. Ich muss uns mit meiner Mundharmonika über Wasser halten.«18

Der Typ hinten kichert. Hannah guckt kurz zu mir rüber. Ich versuch s wieder mit dem Hundeblick. Es klappt.»na gut. Ich spendiere euch diese Nacht ein Zimmer«, sagt sie.»ausnahmsweise. So was mache ich sonst nicht.«sie seufzt.»danke, das nehmen wir glatt an«, sage ich.»prima. Vielen Dank«, kommt es dann nach einigem Zögern auch von Mister Sunshine. Hannah quartiert uns in ihrem Hotel ein. Der Portier checkt den Orangekopf wie ein Rausschmeißer ab. Doch dann händigt er uns den Zimmerschlüssel aus. Dabei macht er ein beleidigtes Gesicht. Aber der zahlende Kunde ist König.»Sehen wir uns nachher noch?«, frage ich Hannah, als wir im Lift sind. Sie zieht die Augenbrauen erstaunt hoch.»soll das eine Einladung sein?ja, vielleicht zu ner Cola und Fritten, wenn mein Freund und ich zusammenlegen«, sage ich.»na schön. Ich spendiere noch einen Imbiss. Das wär s dann aber! In einer Stunde im Foyer.«Der Lift hält in der zweiten Etage und sie steigt aus.»aber die Cola zahlen wir«, rufe ich ihr nach, dann geht die Tür zu und wir schweben in den vierten Stock hinauf. Mister Sunshine lehnt an der Wand. Er sieht etwas geschafft aus, obwohl er während der Fahrt geschlafen oder wenigstens meditiert hat. Als der Lift hält, wuchtet er seine Tasche über die Schulter und stolpert hinter mir den Gang hinunter. Zimmer 408. Wow! Nicht gerade die Fürstensuite, aber für einen 19

Obdachlosen wie mich eine Luxusabsteige. Und für den Typ vielleicht auch. Er wirft sich gleich in einen der beiden Sessel und streckt die Beine von sich. Ich prüfe erst mal das Ehebett. Zwei Einzelgestelle, wir können sie problemlos voneinander abrücken. Nicht dass ich Berührungsängste hätte. Aber die letzte Nacht, jedenfalls einen Teil davon, habe ich noch neben Karola verbracht. Wenn mich nachher das heulende Elend packt? Dann hätte ich gern eine Ecke für mich. Bis jetzt war ich ja abgelenkt. Dieser Paradiesvogel. Und Hannah, die Frau mit dem Durchblick bei der Jugend von heute.»he, fass mal mit an«, fordere ich ihn auf.»wär vielleicht ganz praktisch, wenn ich deinen Namen wüsste. Zu mir kannst du Joschu sagen oder Herz oder auch Herzchen, falls du schwul bist.meine sexuelle Orientierung liegt noch nicht fest. Du kannst übrigens ruhig»he«zu mir sagen.oh, man reist inkognito? Wenn du steckbrieflich gesucht wirst, hast du nicht gerade das praktischste Outfit gewählt. Ich werde dich Sunshine nennen, okay? Oder ist dir Paradiesvogel lieber?sunshine ist perfekt.«er verzieht seinen Mund zu diesem schiefen Lächeln, das die Zahnlücke unten freilegt. Dann bringt er plötzlich wieder so einen total abgefahrenen Spruch.»Die nicht an die Sonne glauben, sind Gottlose.«Habe ich jetzt vielleicht einen Sektenbruder am Hals? Wie heißen die Spinner noch mal, von denen hin und wieder einige kollektiven Selbstmord begehen? Sonnenanbeter? Nein, das ist ein räuberisches Insekt und heißt Gottesanbeterin. Krallt sich sogar das eigene 20

Männchen und das war s dann für den Herrn. Morgen kann der Vogel hier jedenfalls allein Amsterdam anfliegen. Stopp mal! Amsterdam? Warum bin ich nicht gleich draufgekommen! Ein Junkie! Für die ist diese Stadt das Mekka, in dem Milch und Honig fließt. Hasch soll s da in jeder Kneipe geben. Vielleicht auch Härteres?»Hast du in Amsterdam was Spezielles zu erledigen?«, frage ich.»ja«, sagt er nur.»und was?willst du meinen Terminkalender sehen?«doch plötzlich wird er auskunftsfreudig:»ich will in eine Ausstellung.Fein«, sage ich und tue, als würde mich das Thema nicht mehr interessieren.»wir sollten uns fürs Dinner etwas in Schale werfen«, schlage ich vor. Doch Sunshine streift seine Nike-Treter ab und wirft sich lang auf das Bett, das wir zum Fenster hin abgerückt haben. Er verschränkt die Arme hinterm Kopf und taucht wieder in irgendeine Ferne ab. Ich nehme mein Waschzeug und den Walkman und verschwinde ins Bad. Dort lasse ich Wasser in die Wanne laufen und gebe den Inhalt des Duftschaumtütchens dazu. I m walking through streets that are dead Walking walking with you in my head scheppert s aus meinem Fünf-Watt-Lautsprecher gegen die Kachelwände. Ich drehe bis zum Anschlag auf, steige in die Wanne und genieße das Schaumbad und Love sick aus Bob Dylans letztem Album Time out of mind: Bin krank vor Liebe. Weiß einfach nicht, was ich tun soll. 21

Versuche, dich zu vergessen. Laufe rastlos durch die Straßen. Würde alles geben, um bei dir zu sein. Bis Sunshine im Türrahmen steht.»ist dringend«, sagt er und meint wohl, dass er die Kloschüssel benutzen muss und ich mein Großreinemachen hier beenden soll.»also, mich stört s nicht«, sage ich und bleibe erst mal in der Wanne liegen.»bitte«, sagt er und sieht mich wieder so an, dass ich prompt aussteige. Bitte! Und dieser Blick! Dagegen bin ich machtlos. Ich nehme das Badetuch vom Halter, gehe ins Zimmer, trockne mich ab und ziehe mich an. Sunshine hat hinter der Tür eine ziemlich lange Sitzung. Hat er irgendetwas in der Hand gehabt, als er hineinging? Sucht er seinen Körper nach einer noch nicht zerlöcherten Vene ab? Oder kokst er dadrinnen? Jetzt höre ich ein würgendes Geräusch. Muss er spucken? Dann geht die Klospülung. Was ist los mit ihm? Ist er auf Turkey und hat sich gerade einen Schuss verpasst? Ich klopfe an.»kann ich dir einen Gefallen tun?«ich warte.»im Augenblick nicht«, antwortet er nach ein paar Sekunden durch die geschlossene Tür mit ganz normaler Stimme.»Geh schon mal runter, ja?«dann nicht. Doch mein Verdacht, dass der Typ Drogen nimmt, hat sich erhärtet. Ich kämme mir die widerspenstigen Locken vorm Spiegel, prüfe meinen Gesamteindruck und nicke mir zu. Ganz passabel. Bestimmt wird es ihr eines Tages noch Leid tun! Ich lese im Geist schon die Leitartikel in den einschlägigen Magazinen: Joschu Herz, der leuchtende Ko- 22

UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE Helene Kynast Sunshine Taschenbuch, Broschur, 192 Seiten, 12,5 x 18,3 cm ISBN: 978-3-570-30260-6 cbt Erscheinungstermin: Juni 2005 Ein literarisches Roadmovie! Joschu und Sunshine treffen sich beim Trampen. Obwohl der frustrierte Joschu eigentlich null Bock auf anderer Leute Probleme hat, kann er den freakigen Paradiesvogel Sunshine irgendwie auch nicht stehen lassen. Eine schrill-melancholische Reise quer durch Europa beginnt