Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen und Bremen Herausgegeben von Herbert Obenaus In Zusammenarbeit mit David Bankier und Daniel Fraenkel unter Mitwirkung von Andrea Baumert, Marlis Buchholz, Uwe Hager, Jürgen Rund und Christiane Schröder in Hannover und Tamar Avraham, Almuth Lessing und Antje C. Naujoks in Jerusalem Textauszüge WALLSTEIN VERLAG
Lesum (heute Bremen-Lesum) Erzstift/Herzogtum Bremen bis 1712, unter der schwedischen Krone 1648-1712, Königreich Dänemark 1712-1715, Kurfürstentum Hannover 1715-1810, Königreich Westfalen/Kaiserreich Frankreich 1810-1813, Königreich Hannover 1814-1866, preußische Provinz Hannover 1866-1939, Stadt Bremen 1939-1945; Landdrostei Stade 1823-1885, Regierungsbezirk Stade 1885-1939; Patrimonialgericht Lesum-Schönebeck/Amt Lesum 1815-1859, Amt Blumenthal 1859-1885, Kreis Blumenthal 1885-1932 (für Ritterhude: Amt/Kreis Osterholz 1815-1939), Kreis Osterholz 1932-1939; heute: Bundesland Bremen. Synagogengemeinde im Landrabbinat Stade, angeschlossene Orte: Marßel, Ritterhude, Schönebeck. 1866 Anschluß von Lesum an die Synagogengemeinde Scharmbeck. Einwohner/darunter Juden: Lesum: 1871: 1.072/4; 1895: 1.593/1; 1925: 1.244/1. Ritterhude: 1871: 1.685/25; 1885: 1.826/26; 1905: 2.240/21; 1925: 2.355/ 12; 1933: 2.635/10 (1932); 1939: 2.915/0. Der Ort Lesum an der Mündung der Lesum in einen Weserarm war schon in fränkischer Zeit Sitz eines Grafen mit ausgedehnter Grundherrschaft; im Jahr 860 wurde er erstmals erwähnt. 1062 wurde der Besitz an den Bremer Erzbischof Adalbert gegeben. Die Kirche war Mittelpunkt eines Gerichtsbezirks, der späteren Börde Lesum. Seit 1776 befand sich hier eine bedeutende Schiffswerft. Im 19. Jh. wurde der Geestrücken des Lesumer Raums von Bremer Überseekaufleuten besiedelt. 1939 wurde Lesum der Stadt Bremen eingemeindet. Schönebeck, nordwestlich von Lesum, war Sitz der westfälischen Familie von der Borch mit einer kleinen Gerichtsherrschaft. 1939 wurde es ebenfalls der Stadt Bremen eingemeindet. Ritterhude in der Hammeniederung entstand als Siedlung um den Sitz des stiftbremischen Adelsgeschlechts von der Hude, das hier seit dem 14. Jh. nachweisbar ist und 1775 ausstarb. Aus ihrem Besitz entstand ein kleines Gericht, das zum Amt Osterholz gehörte. Im Dorf entwickelte sich schon früh Gewerbe. Bereits 1730 werden Juden im Bereich der späteren Synagogengemeinde Lesum erwähnt. Die Schlachter in Ritterhude beklagten sich bei dem Amt in Osterholz darüber, daß sich zwei Juden in Ritterhude niedergelassen hätten, die das Schlachtvieh aufkauften. Die Namen der beiden Juden werden nicht genannt, es werden aber wohl Levi Hertz und Meier Levi gewesen sein, die später in Scharmbeck bzw. Stotel und Aumund leben. Ritterhude scheint in dieser Zeit ein auch religiöses Zentrum jüdischer Niederlassung gewesen zu sein. Ausgangspunkt waren die 45
Aktivitäten von Salomon Heidemann, der etwa 1733 aus Delmenhorst nach Ritterhude gekommen zu sein scheint. 1735 erhielt er auf seinen Antrag einen Schutzbrief. Anfang Oktober 1734 berichtete der»commissarius fisci«hartwig Hintze, Heidemann ein»neu angekommener Jude«habe in einer Scheune einen»judentempel«eingerichtet. Man habe dort bereits Neujahr und Laubhüttenfest gefeiert und»überlaut gesungen«. Ihm seien im Amtsbezirk nur vier Schutzjuden bekannt, davon keiner in Ritterhude. Das Amt in Osterholz wurde daraufhin mit der Untersuchung der Verhältnisse der im Bezirk lebenden Juden beauftragt und führte umfangreiche Ermittlungen durch. Seit etwa 1732, so wurde berichtet, seien insgesamt vier Juden nach Ritterhude gezogen. Einer sei allerdings bereits bankrott gegangen und weggezogen. Der von den übrigen drei Familien errichtete»tempel«wurde an einem Sonnabend besichtigt. Am Gottesdienst nahmen 14 Männer teil, drei Frauen, heißt es im Bericht, standen vor der Tür. Für den Gottesdienst besäßen die Familien eine Tora, ein Horn, einen gelben länglichen Apfel und die Rute Haronis. An der Nordseite des»tempels«befand sich noch die Laubhütte. Alle drei Juden Marcus Simon, Levi Samuel und Salomon Heidemann seien verheiratet. Drei Jahre später wurde das Amt erneut mit einer Untersuchung der Verhältnisse in Ritterhude beauftragt. Der Gottesdienst fand nun in der Vorderstube der von Salomon Heidemann gemieteten Wohnung statt. In Ritterhude sollten sich im übrigen vier weitere jüdische Familien eingemietet haben. Diese Angaben wurden von Levi Hertz aus Scharmbeck, der selbst den Gottesdienst in Ritterhude nicht besuchte, bestätigt: In Ritterhude gebe es außer der Familie Heidemann noch vier jüdische Haushaltungen, drei weitere außerdem in Schwanewede. Die für den Gottesdienst eingerichtete Vorderstube war eine Kammer in der Größe von 16 bis 17 Fuß im Quadrat. In der Mitte befand sich ein Tisch mit einer grünen Decke, dahinter hing an der Wand ein kleiner länglicher Schrank (»Schapp«) mit verschlossener Tür und davorgezogener Gardine, in dem die Tora verwahrt wurde. Im»Tempel«sehe es im übrigen, wurde berichtet, sehr unsauber und wüst aus; unter den Bänken lägen Rüben, darauf ein Faß Dünnbier. Weiter untersuchte das Amt, welche Juden sich außer Heidemann noch in Ritterhude aufhielten. Heidemann betonte, er habe nur Israel Isaac geholt, der inzwischen einen Antrag auf Erteilung eines Schutzbriefes gestellt habe. Die übrigen Juden waren nur zum Fest geblieben und wegen Erkrankungen noch nicht wieder abgereist. Offenbar lebte zunächst nur Salomon Heidemann dauerhaft in Ritterhude. Einem der 1737 in Ritterhude verhörten Juden, Abraham Isaac, gelang es jedoch, im Gerichtsbezirk zu bleiben. In einem Bericht des Amtes Osterholz von 1742 heißt es, Salomon Heidemann in Rit- 46
terhude und Abraham Isaac in Lesum beherbergten»allerhand böses Gesindel«. Juden seien an jedem größeren Diebstahl interessiert, oft führen ganze Wagen voll Juden von Blumenthal nach Schwanewede. Der Amtmann vermutete, hier in Ritterhude, Lesum und Umgegend befinde sich eine weit verbreitete Diebesbande. Auf der Grundlage dieses nur vage begründeten Berichts wurde Abraham Isaac mit seiner Familie sofort ausgewiesen. Später, jedenfalls noch vor 1762, wurde auch Salomon Heidemann des Landes verwiesen. Nach einem Bericht von 1762 besaßen zwei Juden einen Schutzbrief, Simon Nathan mit Frau und sieben Kindern in Ritterhude sowie Moses Levi in Lesum. 1784 erhielt auch Koppel Joseph in Schönebeck einen Schutzbrief, der 1824 auf seinen Sohn Hein übertragen wurde. Spätestens 1794 hatte Joseph Simon, wohl ein Sohn des Simon Nathan, in Ritterhude einen Schutzbrief auf das Schlachten, war aber mit der Zahlung seines Schutzgeldes in Rückstand. 1825 lebten in Ritterhude bereits drei jüdische Familien, ihre Zahl wuchs in den folgenden Jahrzehnten weiter. 1843 nannte das Gericht Ritterhude sieben»israeliten«, die Schlachter Jacob Cohn und Levi Isaacsohn, den Kaufmann Levi Simon, den Lumpensammler Hirsch Cohn, die Buchbinder Aaron Levitus und Jacob Simon, die Witwe des Kaufmanns Abraham Simon sowie Rosette Simon, Tochter des verstorbenen Nathan Simon, die drei uneheliche Kinder zu versorgen hatte. 1845 umfaßte die im Vorjahr gebildete Synagogengemeinde Lesum bereits 63 Seelen bzw. zwölf stimmberechtigte Gemeindemitglieder in den Orten Lesum (zwei Familien), Schönebeck und Marßel (je eine Familie) sowie Ritterhude (acht Familien). Der Schwerpunkt lag in Ritterhude. Die insgesamt 18 schulpflichtigen Kinder besuchten die christlichen Schulen. 1848 lehnten die Gemeindemitglieder einen Anschluß an Aumund wegen der Entfernung ab und beschlossen stattdessen, einen eigenen Lehrer mit 75 Rtlr. Besoldung anzustellen. Die Gemeinde hatte offenbar einen Synagogenraum in Lesum angemietet, der 1850 nach Ritterhude verlegt wurde, weil hier inzwischen bereits 13 der 15 Mitglieder wohnten. Schon ein Jahr später wurde der Synagogenraum in das Dorf Marßel verlegt. Der Gemeindeverband war offensichtlich schon bald nicht mehr lebensfähig. 1855 bildeten die Gemeinden Aumund, die das gesamte Amt Blumenthal umfaßte, und Lesum eine Schulgemeinde. In Aumund wurde eine Elementarschule eingerichtet, die Kinder der Gemeinde Lesum erhielten an drei Wochentagen jeweils drei Stunden Religionsunterricht. In der Ritterhuder Feldmark, an der Chaussee zwischen Lesum und Schönebeck, besaß die Gemeinde wohl bereits seit dem 18. Jh. einen 47
Friedhof, der von der Familie Simon in Ritterhude betreut wurde. 1850 war der Platz belegt und mußte um ein Stück Land erweitert werden, das von der politischen Gemeinde gekauft wurde. 1866 wurde die Gemeinde aufgelöst und zwischen den Synagogengemeinden Aumund und Scharmbeck-Osterholz aufgeteilt. Die meisten Mitglieder schlossen sich der Synagogengemeinde Scharmbeck an, beispielsweise die Brüder Simon, Herz und David Goldberg in Lesum noch im August 1866. 1867 gehörten außerdem bereits drei Familien in Ritterhude ebenfalls der Gemeinde Scharmbeck an. Quellen und Literatur CJA: 1, 75 Os 1 Nr. 17: Protokollbuch der Gemeinde Osterholz-Scharmbeck 1863-1877. Nds. StA Stade: Rep. 74 Osterholz Nr. 104-107. Müller, Helga und Kurt: 200 Jahre Juden in Ritterhude, in: Ritterhuder Hefte. Beiträge zur Ortsgeschichte 11, 1989, S. 27-47. Müller, Kurt: Der zu Ritterhude errichtete Judentempel, in: Ritterhuder Hefte. Beiträge zur Ortsgeschichte 11, 1989, S. 18-26. Bohmbach, Jürgen: Juden (s. Allgemeines Literaturverzeichnis). Jürgen Bohmbach 48