Deutscher Klassiker Verlag

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Transkript:

Deutscher Klassiker Verlag Leseprobe Hartmann von Aue, Gregorius / Armer Heinrich / Iwein Herausgegeben von Volker Mertens Deutscher Klassiker Verlag Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch 29 978-3-618-68029-1

Im Armen Heinrich, einer der wirkmächtigsten Erzählungen des deutschen Mittelalters, in der Legende vom Sünderheiligen Gregorius und in seinem zweiten Roman, dem Iwein, hat Hartmann von Aue sein großes Thema gestaltet: die Entdeckung des Selbst in der Verantwortung für sich und andere. Der Iwein, sein ebenso eleganter wie klarer Stil, wurde zum klassischen Muster des höfischen Romans. Den mittelhochdeutschen Texten sind neue Übersetzungen, Einführungen und ausführliche Stellenkommentare beigegeben, die dem Leser das Verständnis ihrer lebensweltlichen und literarischen Bezüge und Eigenheiten ermöglichen.

DEUTSCHER KLASSIKER VERLAG IM TASCHENBUCH BAND 29

HARTMANN VON AUE GREGORIUS DERARMEHEINRICH IWEIN Herausgegeben und übersetzt von Volker Mertens DEUTSCHER KLASSIKER VERLAG

Dieser Titel entspricht Band 6, herausgegeben von Volker Mertens, der Bibliothek des Mittelalters in vierundzwanzig Bänden, Frankfurt am Main 2004 Umschlag-Abb.: Volker Schupp/Hans Szklenar, Ywain auf Schloß Rodenegg. Eine Bildgeschichte nach dem»iwein«hartmanns von Aue 1996 Jan Thorbecke Verlag, Stuttgart Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch Band 29 dieser Ausgabe Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt am Main 2008 Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Vertrieb durch den Suhrkamp Taschenbuch Verlag Satz: pagina GmbH, Tübingen Druck: CPI - Ebner & Spiegel, Ulm Printed in Germany ISBN 978-3-618-68029-1 1 2 3 4 5 6 13 12 11 10 09 08

HARTMANN VON AUE GREGORIUS DERARMEHEINRICH IWEIN

7 INHALT Gregorius Mittelhochdeutscher Text und Übersetzung... 9 Der arme Heinrich Mittelhochdeutscher Text und Übersetzung... 229 Iwein Mittelhochdeutscher Text und Übersetzung... 317 Kommentar................. 769 Inhaltsverzeichnis.............. 1109

GREGORIUS 9

10 GREGORIUS IN DEM STEINE Mîn herze hât betwungen dicke mîne zungen daz si des vil gesprochen hât daz nâch der werlde lône stât: 5 daz rieten mir diu tumben jâr. nû weiz ich daz wol vür wâr: swer durch des helleschergen rât den trôst ze sîner jugent hât daz er dar ûf sündet, 10 als in diu jugent schündet, daz er gedenket dar an: dû bist noch ein junger man, aller dîner missetât der wirt noch vil guot rât: 15 dû gebüezest si in dem alter wol, der gedenket anders danne er sol. er wirt es vil lîhte entsetzet, wande in des willen letzet diu êhafte nôt, 20 sô der bitterlîche tôt den vürgedanc richet und im daz alter brichet mit einem snellen ende. der gnâden ellende 25 hât danne den bœsern teil erkorn. und wære aber er geborn von Adâme mit Abêle und solde im sîn sêle weren âne sünden slac 30 unz an den jungisten tac, sô hæte er niht ze vil gegeben

11 GREGORIUS AUF DER FELSENINSEL Mein Herz hat oft meine Zunge dazu gedrängt, daß sie vieles gesagt hat, was auf den Lohn der Welt aus ist: das riet mir meine jugendliche Unerfahrenheit. 5 Jetzt aber habe ich die Wahrheit erkannt: wer auf den Rat des höllischen Henkers hin sich auf seine Jugend verläßt, so daß er drauflos sündigt, wie ihn die Jugend treibt, 10 und denkt:»du bist noch jung, mit Deinen Missetaten wird man klarkommen: du kannst sie noch im Alter büßen«, 15 der denkt anders, als er soll. Sein Plan schlägt sehr leicht fehl, denn an diesem Wollen hindert ihn höhere Gewalt: wenn der bittere Tod 20 die Überheblichkeit rächt und ihm seine Lebenszeit mit einem jähen Ende abbricht. Aus Gottes Gnade verstoßen, hat er dann die falsche Wahl getroffen. 25 Wäre er hingegen ein Sohn Adams, so wie Abel, und könnte seine Seele bis zum Jüngsten Tag ohne Sündenschuld bleiben, 30 so hätte er nicht zu viel

12 gregorius umbe daz êwige leben daz anegenges niht enhât und ouch niemer zegât. 35 Durch daz wære ich gerne bereit ze sprechenne die wârheit daz gotes wille wære und daz diu grôze swære der süntlîchen bürde 40 ein teil ringer würde die ich durch mîne müezikeit ûf mich mit worten hân geleit. wan dâ enzwîvel ich niht an: als uns got an einem man 45 erzeiget und bewæret hât, sô enwart nie mannes missetât ze dirre werlde sô grôz, er enwerde ir ledic unde blôz, ob si in von herzen riuwet 50 und si niht wider niuwet. Von dem ich iu nû sagen wil, des schulde was grôz unde vil daz si vil starc ze hœrenne ist, wan daz man si durch einen list 55 niht verswîgen getar: daz dâ bîneme war älliu sündigiu diet die der tiuvel verriet ûf den wec der helle: 60 ob ir deheiner welle diu gotes kint mêren und selbe wider kêren ûf der sælden strâze, daz er den zwîvel lâze 65 der manigen versenket. swer sich bedenket houbethafter missetât der er vil lîhte manige hât,

verse 32-68 13 für das ewige Leben gegeben, das keinen Anfang hat und auch nie aufhört. Deshalb möchte ich mit Eifer 35 die Wahrheit verkünden, damit Gottes Wille geschehe und der große Druck der Sündenlast etwas verringert würde, 40 die ich durch meinen sinnlosen Zeitvertreib mit Worten auf mich geladen habe. Denn daran zweifele ich nicht: wie uns Gott an diesem einen Mann gezeigt und bewiesen hat, 45 wurde nie auf dieser Welt die Missetat eines Menschen so groß, daß er ihrer nicht los und ledig würde, falls sie ihn von Herzen reut und er sie nicht wieder von neuem begeht. 50 Von dem ich Euch jetzt erzählen werde, dessen Schuld war gewaltig und groß, so daß sie sehr schwer anzuhören ist. Aber aus einem guten Grund darf man sie nicht verschweigen: 55 damit durch sie alle Sünder zur Erkenntnis kommen, die der Teufel auf den Weg zur Hölle verleitet hat: wenn einer von ihnen 60 die Schar der Gotteskinder mehren und selbst umkehren will auf den Weg zum Heil, daß er dann den Zweifel aufgibt, der viele in den Abgrund sinken läßt. 65 Wenn er sich nämlich seiner schweren Sünden besinnt und sehr leicht hat er viele von ihnen,

14 gregorius sô tuot er wider dem gebote, 70 und verzwîvelt er an gote der sîn niht enruoche ob er genâde suoche, und entriuwet niemer wider komen: sô hat der zwîvel im benomen 75 den wuocher der riuwe. daz ist diu wâre triuwe die er ze gote solde hân: buoze nâch bîhte bestân. wan diu vil bitter süeze 80 twinget sîne vüeze ûf den gemächelîchern wec: der enhât stein noch stec, mos gebirge noch walt, der enhât ze heiz noch ze kalt. 85 man vert in âne des lîbes nôt und leitet ûf den êwigen tôt. sô ist der sælden strâze in eteslîcher mâze beide rûch und enge. 90 die muoz man ir lenge vallen unde klimmen, waten unde swimmen, unz daz si hin leitet dâ si sich wol breitet 95 ûz disem ellende an ein vil süezez ende. Den selben wec geriet ein man: zer rehten zît er entran ûz der mordære gewalt. 100 er was komen in ir walt, dâ hâten si in nider geslagen und im vrevellîche entragen aller sîner sinne kleit und hâten in an geleit 105 vil marterlîche wunden.

verse 69-105 15 so verstößt er gegen das Gebot, wenn er an Gott verzweifelt und glaubt, 70 daß dieser ihn abweisen könnte, wenn er um Gnade bittet, und er daher niemals mehr zu ihm zu kommen wagt. Dann hat ihm der Zweifel die Frucht der Reue geraubt. 75 Das ist die wahre Pflicht, die er Gott gegenüber erfüllen sollte: Buße leisten nach dem Sündenbekenntnis. Denn die so bittere Süßigkeit der Welt zwingt seine Füße 80 auf den bequemeren Weg: der hat weder Stein noch Steg, noch Moor, Berge oder Wald, er ist weder zu heiß noch zu kalt. Man reist auf ihm in Gemächlichkeit, 85 aber er führt zum ewigen Tod. Hingegen ist der Weg zum Heil reichlich rauh und schmal. Man muß ihn der ganzen Länge nach 90 mühsam gehen, man muß klettern, durch Wasser waten und schwimmen, bis er dorthin führt, wo er schön breit wird nach dieser Heimatlosigkeit 95 am süßesten Ziel. Auf ebendiesen Weg geriet ein Mensch: zur rechten Zeit noch entkam er der Gewalt der Mörder. Er war in ihren Wald gekommen, 100 da hatten sie ihn niedergeschlagen und ihm frech die Kleider all seiner Geisteskräfte geraubt und ihm sehr schmerzhafte Wunden geschlagen. 105

16 gregorius ez was zuo den stunden sîner sêle armuot vil grôz. sus liezen si in sinne blôz unde halp tôt ligen. 110 dô enhâte im got niht verzigen sîner gewonlîchen erbarmekeit und sande im disiu zwei kleit: gedingen unde vorhte, diu got selbe worhte 115 daz si im ein schirm wæren und allen sündæren: vorhte daz er erstürbe, gedinge daz er iht verdürbe. vorhte liez in dâ niht ligen. 120 doch wære er wider gesigen, wan daz in der gedinge machete alsô ringe daz er doch weibende saz. dar zuo sô starcte in baz 125 diu geistlîche triuwe gemischet mit der riuwe. si tâten im vil guotes und ervurpten in des bluotes. si guzzen im in die wunden sîn 130 beidiu öl unde wîn. diu salbe ist linde und tuot doch wê: daz öl diu gnâde, der wîn diu ê, die der sündære haben muoz: sô wirt im siechtuomes buoz. 135 alsus huop in bî sîner hant diu gotes gnâde als si in vant ûf ir miltez ahselbein und truoc in durch beruochen hein. dâ wurden im verbunden 140 sîne verchwunden daz er âne mâsen genas und sît ein wârer kempfe was,

verse 106-142 17 In diesem Augenblick war seiner Seele alles genommen. So ließen sie ihn aller Kräfte bloß und halb tot liegen. Jetzt aber hatte ihm Gott 110 sein gewohntes Erbarmen nicht entzogen und schickte ihm diese beiden Kleider: Hoffnung und Furcht, die Gott selbst gemacht hat, daß sie ihm 115 und allen anderen Sündern Schutz böten: Furcht vor dem Tode, Hoffnung auf das Heil. Furcht ließ ihn nicht liegenbleiben. Er wäre jedoch wieder niedergesunken, 120 wenn ihm nicht die Hoffnung so viel Auftrieb gegeben hätte, daß er, wenn auch schwankend, sich aufsetzte. Weiter gab ihm das Vertrauen auf Gott noch mehr Kraft 125 zusammen mit der Reue. Die taten ihm viel Gutes und wischten ihm das Blut ab. Sie gossen Öl und Wein in seine Wunden. 130 Diese Salbe lindert und schmerzt zugleich: das Öl ist die Gnade, der Wein das Gesetz, beides soll der Sünder haben: dann steht er geheilt vom Krankenbett auf. Dann hob ihn die Gnade Gottes 135 mit ihrer Hand, sobald sie ihn gefunden hatte, auf ihre hilfsbereiten Schultern und trug ihn heim, um ihn zu pflegen. Dort wurden ihm seine tiefen Wunden verbunden, 140 so daß er ohne Narben gesund wurde und fortan ein wahrer Streiter war,

18 gregorius er eine über al die kristenheit. noch enhân ich iu niht geseit, 145 welh die wunden sint gewesen der er sô kûme ist genesen, wie er die wunden empfie und wie er sich ir ergie âne den êwigen tôt. 150 des ist ze hœrenne nôt und ze merkenne in allen die dâ sint vervallen under bercswæren schulden: ob er ze gotes hulden 155 dannoch wider gâhet, daz in got gerne empfâhet. wan sîner gnâden ist sô vil daz er des niene wil und ez gar verboten hât 160 daz man durch deheine missetât an im iht zwîvelhaft bestê. es enist dehein sünde mê, man enwerde ir mit der riuwe ledic unde niuwe, 165 schœne unde reine, niuwan der zwîvel eine: der ist ein mortgalle ze dem êwigen valle den niemen mac gebüezen 170 noch wider got gesüezen. Der dise rede berihte, in tiusche getihte, daz was von Ouwe Hartman. hie hebent sich von êrste an 175 diu seltsænen mære von dem guoten sündære. Ez ist ein wälhischez lant, Equitâniâ genant, und lît dem mere unverre.