Das Sommerland Vom Sterben und der Hoffnung Eine Erzählung von Eyvind Skeie Aus dem Norwegischen vonandreas Ebert Mit Illustrationen von Robert Stulier Mit einem Nachwort von Pfarrer Daniel Kaufmann
Der Tod eines Kindes war der direkte Anlass dafür, dass diese Geschichte geschrieben wurde...
Das Sommerland Vom Sterben und der Hoffnung Eine Erzählung von Eyvind Skeie mit Illustrationen von Robert Stulier
Ingvil. Der Tod eines Kindes war der direkte Anlass dafür, dass diese Geschichte geschrieben wurde... Wenn ich sie hiermit in Buchform veröffentliche, dann geschieht das mit dem Wunsch, dass sie vielleicht Familien helfen kann, die von einem vergleichbaren Schicksal betroffen sind. Der Tod macht uns alle verwundbar. Ein Kind zu verlieren, sei es durch Unfall oder Krankheit, gehört zum Schwersten, was uns widerfahren kann. Die Trauer ist eine Wanderung, zu deren Bewältigung wir all unsere Hoffnung und Lebenskraft brauchen. Vielleicht kann die Geschichte vom Sommerland helfen, sich auf den Weg der Trauer zu machen zur Hoffnung. Mein Dank gilt Marit und Anders, die mir gestattet haben, dies zu schreiben. Eyvind Skeie
Ich weiß nicht, wie ich dir das erzählen soll. Denn es ist kein Märchen, und gleichzeitig ist es doch so etwas wie ein Märchen. Es ist niemals passiert, und doch passiert es immer wieder. Es handelt von jemand, den du gekannt hast, und dennoch handelt es von keinem, den du kennst. Direkt neben dir gibt es ein Tal, das du nicht sehen kannst. Du siehst es nicht, bis du dich selbst darin befindest. Und wenn du in diesem Tal bist, weißt du erst, dass du dort gewesen bist, wenn du nicht mehr dort bist. Ich meine das dunkle Tal. Manche nennen es auch den Tod, aber ich habe es immer nur das dunkle Tal genannt. Und zwar deshalb, weil man hindurch gehen muss. Und wenn du hindurch gegangen bist, dann bist du nicht mehr so, wie dich deine Mama, dein Papa, deine Brüder, Schwestern, Nachbarn und Freunde in Erinnerung haben. Du wirst anders im dunklen Tal und davon will ich dir gerne ein wenig erzählen.
Das dunkle Tal befindet sich die ganze Zeit direkt neben dir, du siehst es bloß nicht. Du siehst das dunkle Tal erst in dem Augenblick, in dem du es betreten musst, und das ist, wenn du stirbst. Das ist ein bisschen schwierig zu erklären. Aber wenn Menschen sterben, dann machen sie sozusagen einen Schritt neben sich selbst, und dann sind sie auf einmal im dunklen Tal. Sie können nicht selber bestimmen, ob sie hinein wollen oder nicht, und keiner kann sie aus dem dunklen Tal zurück holen. Der Weg im dunklen Tal führt nur in eine Richtung. Du kannst dich nicht mehr einfach umdrehen und umkehren, wenn du erst einmal im dunklen Tal bist. 10
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Am Anfang ist das dunkle Tal einfach finster. Und es kann sein, dass die, die es durchwandern, ein bisschen weinen. Denn es kann weh tun, wenn man sich plötzlich neben sich selbst befindet, im Schatten des Tales. Ich sage Schatten, weil das Tal nicht ganz finster ist. Wäre es pechschwarz, dann wäre es ja unmöglich, sich darin zurecht zu finden. Aber es gibt ein Licht im dunklen Tal. Davon will ich dir später erzählen. Die, die dort laufen, weinen also vielleicht ein bisschen, jedenfalls am Anfang. Aber wenn sie immer weiter hineinkommen, hören sie auf zu weinen. Ich glaube, dass sie sozusagen vergessen, warum sie geweint haben. Sie vergessen, dass sie einen Schritt neben sich selbst gemacht haben. Sie vergessen, was ihnen weh getan hat. Sie merken bloß, dass der Weg plötzlich ein bisschen nach oben ansteigt. Und dann sehen sie immer mehr von dem Licht. 12
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Und jetzt will ich dir vom Licht im dunklen Tal erzählen. Aber ich kann nichts über das Licht sagen, ohne dir von dem zu erzählen, der immer wartet. Ich nenne ihn einfach Der Immer wartet. Das ist ein etwas komischer Name. Aber ich bin ganz sicher, dass er selbst diesen Namen sehr gern hat. Denn das ist es, was er tut: Er wartet immer. Dort, wo das dunkle Tal aufhört, beginnt eine große Wiese. Diese Wiese nennt man, glaube ich, die Sommerwiese, weil dort immer Sommer ist. Jetzt denken sicher einige, dass es langweilig ist, wenn auf der Sommerwiese immer Sommer ist. Denn es gibt ja auch Leute, die den Frühling oder den Herbst oder den Winter lieber haben als den Sommer. 14
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Aber in dem Land, das am Ende des dunklen Tals liegt, ist vieles anders als hier bei uns. Da kommen die Jahreszeiten nicht nacheinander, wie du und ich es gewohnt sind. Nein, in diesem Land liegen die Jahreszeiten nebeneinander. Auf der einen Seite der Sommerwiese liegen die Frühlingsgärten, auf der anderen Seite befindet sich ein großer Park, der heißt Herbstfeld. Und dahinter kannst du direkt in den Winterwald gehen. Du verstehst also vielleicht, dass du in diesem Land selber wählen kannst, in welcher Jahreszeit du am liebsten sein möchtest. Du kannst direkt von der Sommerwiese in den Winterwald gehen oder in die Frühlingsgärten. Und wenn du Hunger hast, machst du einfach einen kleinen Spaziergang zum Herbstfeld und pflückst dir einfach eine schöne Birne oder Apfelsine. Und das alles kannst du an einem einzigen Tag machen. Übrigens ist in diesem Land niemals Nacht, es ist dort immer Tag. 16
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Das dunkle Tal führt also direkt auf die Sommerwiese. Ich glaube, das muss so sein, weil es so gut tut, ins warme Sommerland zu kommen, wenn du durch die Schatten des Tales gegangen bist. Da fühlst du dich ganz schnell mollig warm. Es gibt übrigens viele Leute, die legen sich erst mal eine Weile hin und schlafen, wenn sie auf der Sommerwiese angekommen sind. Sie lassen sich einfach ins Gras fallen, und selbst wenn sie direkt in der Sonne liegen, kriegen sie keinen Sonnenbrand. Es wird ihnen einfach warm und sie träumen etwas Schönes. 1
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Aber jetzt darf ich nicht vergessen, mehr über den zu erzählen, der immer wartet. Er ist nämlich der Allerwichtigste. Er steht immer am Ausgang des dunklen Tales. Seine Augen schweifen suchend durch die Schatten. Denn er wartet auf alle, die durch das Tal kommen. Zusammen mit ihm stehen drei Engel da. Die Engel sollen ihm helfen und stehen bereit, um alles zu tun, was er ihnen sagt. Der erste Engel heißt Engel des Lichts. Wenn du schon einmal am Meer warst, dann hast du bestimmt schon einen Leuchtturm gesehen. Ohne Leuchtturm wissen die Schiffe nicht, wie sie fahren sollen, um sicher voran zu kommen. Und der Engel des Lichts ist fast so wie ein Leuchtturm. Komm, ich hör jemanden, sagt Der Immer wartet zum Engel des Lichts. Dann stellt sich der Engel des Lichts in den Ausgang des Tals und lässt seine Fackel tief hinein in die Finsternis leuchten. Die durchs Tal kommen, sehen das Licht. Und so wissen sie, wohin sie gehen sollen. 20
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Psst, sagt Der Immer wartet, ich höre die Schritte eines kleinen Kindes. Engel des Lichts, strahle heller! Leuchte wärmer und zeig dem Kind den Weg! Und jedesmal, wenn ein ganz kleines Kind ankommt, geht der Engel des Lichts ganz in das dunkle Tal hinein. Das Licht ist so stark, dass die Schatten verschwinden. Dann ist es taghell im dunklen Tal. Das kleine Kind sieht das Licht und läuft ihm entgegen. Da lächelt Der Immer Wartet. Er streckt dem Kind die Arme entgegen. Aber das kann das Kind noch nicht sehen, weil das Licht so hell ist und weil das Kind noch tief im dunklen Tal ist. 22