Schachteln. Er hat sich geschworen, nur das mitzunehmen, was im Auto Platz hat. Keine weiteren Transporte. Der ganze Rest seiner Bücher, Möbel, Geschirr und so weiter lagert, schön verpackt, in einem Möbellager. Was braucht der Mensch? Vor allem: Was braucht Simon Tanner? Er verscheucht jegliche Anwandlung philosophischer Art und verbietet sich strikt jede Melancholie. Kurz bevor das selbst verordnete Denkverbot offiziell in Kraft tritt, entwischt ein einzelner, stoßgebetartiger Gedanke der inneren Inquisition. Ach, ich wüsste auf jeden Fall, wen ich zum Leben brauche! Die Katze guckt. Habe ich etwas gesagt? Er fragt mit scheinheiliger Miene seine neue Freundin. Hey, Rosalind, habe ich was gesagt? Hast du
irgendetwas gehört? Sie schaut ihn gelangweilt an. Na also, wozu dann die Aufregung? Er schließt den Kofferraum. Zuerst will er sich das Zimmer anschauen, in dem er die nächsten Monate leben wird. Das Zimmer ist klein. Vier mal vier Meter. Ein schmales Bett mit weißer Bettwäsche. Ein Tisch. Ein Stuhl. Ein Schrank mit Schiebetüren. Die Wände sind weiß. Ebenso die gestrichene Holzdecke. Das einzige Fenster blickt auf den Gemüsegarten, auf die dahinter liegenden Obstbäume und auf einen benachbarten Bauernhof. Es riecht gut in dem Zimmer. Eine blaue Vase mit einem kleinen Bund Osterglocken steht auf dem Tisch. Ruth M. lässt grüßen. Über dem Kopfende des Bettes befindet sich das einzige Bild im Zimmer. Eine vergilbte Farbfotografie. Aus einer Illustrierten
ausgeschnitten. Das Foto zeigt eine kleine Baumgruppe um ein winziges, merkwürdig spitzes Rundhäuschen mit einer Holztür, aber ohne Fenster. Das Bild hat einen schlichten Holzrahmen aus Birnholz. Seine Großmutter besaß mehrere solche Rahmen, die nach ihrem Tod alle verschwunden waren. Neben dem Bild klebt eine zerdrückte Mücke. Allerdings ohne Rahmen. Er hört ein leises Kratzen an der Tür. Er ignoriert es und legt sich probeweise aufs Bett. Es ist etwas kurz für seine Länge, aber schön hart. Beim Aufstehen spürt er wieder diesen Druck im Bauch. Es ist kein Schmerz. Die Vorahnung von einem Schmerz. Es fühlt sich an wie ein noch rundes Ding, das da nicht hingehört und das seine scharfen Krallen nicht ausgestreckt hat. Noch nicht. Tanner, geh endlich mal zum Arzt.
Er öffnet das Fenster und atmet die frische Landluft ein. Gott sei Dank! Kein Geruch vom Schweinestall. Aus der Ferne schwillt das Geräusch eines Autos an. Auf der Basslinie der Motorengeräusche hört man dumpfe Technoschläge. Mit überhöhter Geschwindigkeit braust ein schwarzer Golf GTI über die regennasse Straße. Bauernsöhne auf dem Weg in die Disco. Schließlich ist es Freitagabend. Er schließt das Fenster und überlegt sich, wie er die Möbel des Zimmers umräumen soll. Es ist wie ein Zwang. Um sich eine fremde Umgebung schneller anzueignen. Leider stellt er fest, dass alles perfekt an seinem Ort ist, und er verzichtet vorläufig aufs Möbelrücken. Er holt seine Sachen aus dem Auto. Die Katze wartet schon auf ihn. Allerdings ist sie keine große Hilfe. Sie
inspiziert lieber schnuppernd seine Schachteln und Taschen. Er packt einige notwendige Dinge aus. Die Kleider kommen achtlos in den Schrank. Einige seiner Lieblingsbücher legt er auf den Tisch. Einmal Shakespeare. Zweimal Shakespeare. Dreimal Shakespeare. Dann seine geliebte Doppelausgabe der Odyssee/Ilias und ein schmales Bändchen von Pascal, das sie ihm geschenkt hat und von dem sie schwärmt. Seine gähnend leeren Notizbücher und seine beiden Nikons. Er holt die kleine, geschnitzte Kuh aus der Schachtel. Er nimmt sie überallhin mit. Ein Geschenk von einem Freund, der unbegreiflicherweise tot ist. Zwischen seinen Hemden liegt, in Seidenpapier eingewickelt, sein einziges Originalbild. Das Mädchen von Leonor Fini. Seit dreißig Jahren begleitet ihn