1 Prof. Dr. Michael Wolter Predigt über 1.Tim 3,14 16 im Universitätsgottesdienst in der Bonner Schlosskirche am 20. Dezember 2009 (4. Advent) Der Predigttext für den heutigen Sonntag, den 4. Advent, steht im 1. Timotheusbrief. Dieser Brief tut so, als wäre er von Paulus geschrieben, doch in Wahrheit stammt er von einem Schüler des Apostels. Der hat ihn geschrieben, als Paulus schon ungefähr 40 Jahre tot war. Also eine Fälschung, eine Täuschung und Irreführung der Leser? Ja natürlich da sollten wir gar nicht darum herum reden. Es ist aber eine Fälschung aus lauteren Motiven. Eine Fälschung mit guten Absichten. Wie das eben in der zweiten Generation so ist: Da ist die große Gründerfigur gestorben, und sie hat so große Schuhe hinterlassen, dass da kein anderer reinpasst. Denn keiner ist so groß wie der Apostel, und keiner hat so viel Autorität, dass er sagen könnte:»ich bin es nun, auf den alle hören müssen«. Dabei hätten die christlichen Gemeinden am Ende des 1. Jahrhunderts eine solche Stimme bitter nötig gehabt. Denn die Zeiten haben sich seit Paulus geändert. Da mussten zum Beispiel Ordnungen her, die dem kirchlichen Leben auch auf Dauer eine Grundlage geben konnten. Als Paulus noch lebte, hat man das alles im Wesentlichen dem heiligen Geist überlassen. Aber das geht auf die Dauer natürlich nicht. Das hat man ziemlich bald gemerkt, und das spricht ja auch für den Realitätssinn der zweiten Generation. Und so steht dann im 1. Timotheusbrief unter anderem, was für Anforderungen ein Bischof erfüllen muss. Das liest sich wie ein Stellenausschreibung: Ein Bischof, heißt es da,»muss untadelig sein, Mann einer einzigen Frau, nüchtern, besonnen, sittsam, gastfrei, lehrfähig, 3 kein Säufer, kein Schläger, sondern milde, nicht streitsüchtig, nicht geldgierig. 4 Er soll seiner eigenen Familie gut vorstehen und die Kinder mit aller Ehrbarkeit in Zucht und Ordnung halten 5 denn wenn jemand der eigenen Familie nicht vorzustehen weiß, wie kann er dann für die Gemeinde Gottes sorgen?«und so wird die falsche Absenderangabe dann auch verzeihlich.
Denn der tatsächliche Autor des Briefes spielt sich nicht in den Vordergrund. Er sagt nicht»ich, ich, ich bin nun der Wichtigste seitdem Paulus nicht mehr da ist!«, sondern er lässt Paulus selbst zu Wort kommen. Denn er ist überzeugt: Würde Paulus noch leben, hätte er genau dasselbe gesagt, was hier in diesem Brief steht. Und im Grunde genommen stimmt das ja auch, oder gibt es hier einen einzigen unter uns, der behaupten wollte, Paulus hätte nichts dagegen gehabt, wenn Bischöfe Säufer und Schläger wären? Jedenfalls: solche Sachen stehen in dem Abschnitt des 1.Timotheusbriefs, der dem Predigttext von heute vorausgeht. Und sie zeigen, dass der Autor eigentlich ein ganz vernünftiger Mann ist. Der Predigttext geht nun so:» 14 Das schreibe ich (Paulus) dir (Timotheus) in der Hoffnung, dass ich bald zu dir kommen kann. 15 Wenn ich mich aber verspäte, damit du siehst, wie man sich im Haus Gottes zu verhalten hat; das ist die Kirche des lebendigen Gottes Pfeiler und Fundament der Wahrheit. 16 Und groß ist bekanntlich das Geheimnis des Glaubens: er erschienen im Fleisch, gerechtfertigt im Geist, gesehen von den Boten, verkündigt unter den Völkern, geglaubt in der Welt, emporgenommen in Herrlichkeit.«I Oft begegnen uns diese Worte ja nicht in unserem kirchlichen Leben. Sie lösen beim Hören darum auch einen zwiespältigen Eindruck aus: Einerseits klingen die Wörter bekannt und vertraut, andererseits liegen sie daneben neben dem, was uns eben bekannt und vertraut ist. Dieser Eindruck stellt sich vor allem an zwei Stellen ein: II einmal bei den Worten über das Haus Gottes : die Kirche des lebendigen Gottes Pfeiler und Fundament der Wahrheit. Das kennt man natürlich. Und wenn man evangelisch ist, dann weiß man auch, warum uns das nicht nur vertraut, sondern auch fremd ist: Das sind die anderen. Die Kirche der zweiten Generation. Protestanten halten es für gewöhnlich lieber mit Paulus, dem Helden der ersten Generation. 2
Der hat nicht die Kirche Pfeiler und Fundament der Wahrheit genannt, sondern wir kennen von ihm vor allem das eine Wort, den reformatorischen Hauptsatz: So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben. Aber so einfach ist das hier nicht. Denn das, was Paulus Glaube nennt, ist hier nicht einfach durch Kirche ersetzt worden. Denn hier ist nicht die Rede von einer Institution, die selbstgewiss und unangefochten sich im Besitz der Wahrheit weiß und die die Menschen im Grunde genommen nicht braucht. Hier ist vielmehr die Rede von uns, von jeder christlichen Gemeinde und von allen Christen, die in der Kirche des lebendigen Gottes leben. Denn wir sind die Kirche. Wir werden darauf gleich noch einmal zurückkommen. III Und dann ist da noch, was über Jesus gesagt wird. Der wird zwar an keiner Stelle bei seinem Namen genannt. Aber jeder weiß, dass hier von niemand anderem als von ihm die Rede ist. Denn nur von ihm und von niemand anderem gilt, was hier unter der Überschrift Geheimnis des Glaubens gesagt wird: von erschienen im Fleisch zu Beginn bis emporgenommen in Herrlichkeit am Schluss. Und auch das klingt uns vertraut. Denn es ist derselbe Stil, den wir aus unserem Glaubensbekenntnis kennen, aus dem zweiten Artikel. Es sind aber ganz andere Wörter. Statt: empfangen durch den heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria, gelitten unter Pontius Pilatus, und so weiter bis auferstanden von den Toten und aufgefahren in den Himmel steht hier in genau demselben Stil: erschienen im Fleisch, gerechtfertigt im Geist, gesehen von den Boten, verkündigt unter den Völkern, geglaubt in der Welt und emporgenommen in Herrlichkeit. Aber natürlich ist dieser Text älter als das Apostolische Glaubensbekenntnis, das wir heute in unseren Gottesdiensten sprechen. Es handelte sich vielleicht ursprünglich um ein Lied, das die Gemeinde gesungen hat. Ein Lied, dessen Melodie wir nicht kennen. Oder es war ein Bekenntnis, das die Gemeinden der zweiten Generation in ihren Gottesdiensten gesprochen haben lange bevor das Apostolische Glaubensbekenntnis entstanden ist. 3
Denn in beiden Texten ist von Jesus die Rede. Von seiner Geschichte, die mit Weihnachten begann. Aber diese Geschichte wird ganz unterschiedlich erzählt: Im Christusbekenntnis der zweiten Generation, unserem Predigttext kommt weder Maria vor noch Pontius Pilatus, weder Jesu Empfängnis durch den heiligen Geist noch seine Geburt aus einer Jungfrau, noch sein Leiden und Sterben. Statt dessen heißt es einfach nur: erschienen im Fleisch. Die gesamte irdische Existenz Jesu, sein Menschsein, das er mit unser aller Menschsein teilt in einem einzigen Satz zusammengedrängt. Dass Jesus genauso war wie alle Menschen, die diese Worte sprechen. Nicht das, was Jesus von den Menschen unterscheidet empfangen durch den heiligen Geist und geboren von der Jungfrau Maria, ist der Gegenstand des Bekenntnisses, sondern es wird gerade das in den Vordergrund gestellt, was ihn mit allen anderen Menschen verbindet. Denn was wir alle miteinander und mit Jesus gemeinsam haben, ist unsere leibliche Existenz das, was hier Fleisch heißt. Und der zweite Unterschied ist genauso aufregend. Und er liegt eigentlich auch auf derselben Linie wie der erste: Das Apostolische Glaubensbekenntnis erzählt erst die Geschichte Jesu bis aufgefahren in den Himmel, es geht dann im Himmel weiter: Er sitzt zur Rechten Gottes des allmächtigen Vaters, und es kommt dann erst in der Zukunft wieder auf die Erde und zu den Menschen zurück: Von dort wird er kommen, zu richten die Lebenden und die Toten. Ganz anders das Christusbekenntnis der zweiten Generation: Es macht keinen Bogen um die Menschen in der Welt, sondern es bleibt auf der Erde und bezieht die ganze Menschheit in die Geschichte Jesu Christi ein: verkündet unter den Völkern, geglaubt in der Welt. Unsere Geschichte ist ein Bestandteil der Geschichte Jesu, und ohne uns bliebe die Geschichte Jesu unvollständig. Denn erst danach wie um sicher zu stellen, dass dieser Teil der Geschichte Jesu, in dem wir vorkommen, nicht abgetrennt wird erst nach verkündigt unter den Völkern und geglaubt in der Welt kommt emporgenommen in Herrlichkeit, d.h. mit dem Apostolicum gesagt aufgefahren in den Himmel und sitzend zur Rechten Gottes. Die historische Reihenfolge der Geschichte Jesu und des Christusglaubens weicht hier also von der erzählten Reihenfolge ab. Nicht erst Himmelfahrt und dann Verkündigung, wie es Lukas in der Apostelgeschichte erzählt, sondern umgekehrt: Erst verkündet unter den Völkern und geglaubt in der Welt, und dann emporgenommen in Herrlichkeit : damit auch wirklich jeder merkt, dass die Christusverkündigung unter den Menschen und ihr Christusglaube unbedingt in die Geschichte Jesu hineingehören, und dass die Geschichte Jesu unvollendet geblieben wäre, 4
wenn zu ihr nicht auch seine Verkündigung unter den Völkern gehörte und wenn man von ihm nicht auch sagen könnte, geglaubt in der Welt. IV Doch von wem ist hier überhaupt die Rede? Da wird erst das ganze Menschsein in die Geschichte Jesu hineingeholt ( erschienen im Fleisch ) und dann auf die gesamte Menschheit ausgegriffen ( verkündigt unter den Völkern ) und schließlich: geglaubt in der Welt. Die in der Welt sind die, die glauben. Dieselben, von denen Jesus bei Johannes sagt, dass sie Angst haben in der Welt: In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden. Hier sind sie aber gerade nicht solche, die in Welt Angst haben, sondern die in der Welt glauben. Sie stehen nicht der Welt gegenüber, sondern sie sind Teil der Welt. Sie sind mit ihrem Glauben nicht fremd in der Welt, sondern im Gegenteil sie repräsentieren mit ihrem Glauben die gesamte Welt. In ihrem Glauben stehen sie stellvertretend für alle Menschen ebenso aber auch in dem, was uns, die wir das Haus Gottes sind in der Welt, aufgetragen und von uns gefordert ist. Denn wir sind die Kirche. Darum kann die Kirche des lebendigen Gottes auch nicht das Christusbekenntnis sprechen und davon absehen, dass sie dies immer nur als Teil der Welt tun kann. Und nur in diesem Sinne nur als Bestandteil der Jesusgeschichte zwischen erschienen im Fleisch und emporgenommen in Herrlichkeit : nur als Bestandteil dieser Geschichte und nicht aus eigenem Vermögen und Recht kann die Kirche darum auch wie wir es vorhin gehört haben Pfeiler und Fundament der Wahrheit sein. Es gilt aber auch das Umgekehrte: Diese Wahrheit haben die Glaubenden, diese Wahrheit hat die Kirche des lebendigen Gottes in der Welt und für die Welt, und sie darf sich dieser Wahrheit gewiss sein, denn es ist die Wahrheit ihres Bekenntnisses. Wo käme denn die Welt hin, wenn es in ihr und als ein Teil von ihr nicht die Kirche des lebendigen Gottes gäbe, die für die Welt Pfeiler und Fundament der Wahrheit ist, weil sie in der Welt glaubt, dass Gottes Heil nirgendwo anders zugänglich ist als in dem Geschehen, das die Worte ihres Christusbekenntnis erzählen. Und darum ist die Wahrheit, deren Pfeiler und Fundament die Kirche ist, die Wahrheit, durch die allein die Welt vor dem Einsturz bewahrt wird, darum ist diese Wahrheit auch nirgendwo anders zu finden als in dem Bekenntnis unseres Glaubens. V Und warum soll das ein Geheimnis sein? Das ist ja die Überschrift, unter der alles steht: Groß ist... das Geheimnis des Glaubens. Gemeint ist damit natürlich nicht, dass der Glaube eine großes Geheimnis ist. 5
Sondern dass der Glaube eine großartige Sache ist. Aber was ist an ihm ein Geheimnis? Was, wenn nicht eben dies: dass die Kirche des lebendigen Gottes in der Welt dass also wir, die glauben in der Welt ebenfalls zu dieser Geschichte gehören, die hier erzählt wird: zu dieser Geschichte zwischen erschienen im Fleisch und emporgenommen in Herrlichkeit, zwischen der Krippe in Bethlehem und aufgefahren in den Himmel, sitzend zur Rechten Gottes. Und das Geheimnis besteht aus diesem Grund darin, dass hier nicht eine fremde Geschichte erzählt wird, eine Geschichte, mit der wir nichts zu tun hätten. Denn diese Geschichte ist nirgendwo anders präsent als in der Kirche des lebendigen Gottes, bei uns, die wir in der Welt glauben. Denn nur diese Geschichte macht uns zum Pfeiler und Fundament der Wahrheit. Und es ist auch das Geheimnis der zweiten Generation. Ja noch mehr: Es ist eben das, was die zweite Generation überhaupt erst zur zweiten Generation macht: dass sie zurückblickt. Sie lebt aus der Vergangenheit und deutet ihre Gegenwart in Lichte der Vergangenheit. Sie weiß: ohne die Erinnerung an das, was ihr vorausging, wäre sie nichts vor allen Dingen nicht zweite Generation. Sie müsste ihre eigenen Briefe schreiben und dürfte nicht den Namen des berühmten Apostels benutzen. Wäre sie nicht zweite Generation, hätte sie nichts, was sie unter den Völkern verkündigen könnte und was sie in der Welt glauben könnte. Und darum hört die zweite Generation niemals auf. Denn auch wir blicken nicht auf die zweite Generation zurück, sondern wir sind die zweite Generation, die Kirche des lebendigen Gottes, Pfeiler und Fundament der Wahrheit. Und Gott gebe uns, dass wir immer die zweite Generation bleiben. Denn das ist das Geheimnis, das jeder kennt, und das trotzdem immer ein Geheimnis bleibt: Es ist da, und es ist jedermann zugänglich; das ist die eine Seite. Es ist verborgen, und keiner findet es; das ist die andere Seite. Und wo sollte dieser Widerspruch nicht deutlicher zutage treten als an Weihnachten, wo sollte dieser Unterschied nicht deutlicher spürbar werden, als in diesen Tagen der Weihnacht? Denn groß ist das Geheimnis des Glaubens. Es ist der Glaube, den die zweite Generation in der Welt glaubt: in der Welt mit ihren gescheiterten Gipfeln; in der Welt, die ihr Geheimnis ganz genau kennt, und doch so tut, als wüsste sie nicht Bescheid. Die sagen: Warum sollte den Völkern dieses Geheimnis verkündigt werden? Heben wir es doch für die zukünftigen Generationen auf. Die werden es dann schon merken! Wir kennen aber schon jetzt das Geheimnis des Glaubens. Denn es wurde verkündigt den Völkern und geglaubt in der Welt. Nicht gegen die Welt, sondern in unserer Welt und für unsere Welt feiern wir das Weihnachtsfest als das Fest der zweiten Generation. 6
Und die Erinnerung, aus der wir leben und die wir an Weihnachten feiern, ist Pfeiler und Fundament der Wahrheit, ohne die die Welt verloren wäre. Ich wünsche uns allen, dass wir dieses Geheimnis in den kommenden Tagen der Weihnacht wieder neu entdecken und uns an ihm freuen dürfen. Amen. Mögen eure Herzen gestärkt und zusammengefügt werden in der Liebe und zu allem Verständnis, um zu erkennen das Geheimnis Gottes, das Christus ist, 7