Yury und Sonya Winterberg Kleine Hände im Großen Krieg
Yury und Sonya Winterberg Kleine Hände im Großen Krieg Kinderschicksale im Ersten Weltkrieg
In memoriam Elisabeth Liebe (1899 1976) ISBN 978-3-351-03564-8 Aufbau ist eine Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG 1. Auflage 2014 Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 2014 [Mit 38 Abbildungen] Die Veröffentlichung dieses Werkes erfolgt auf Vermittlung von Bookabook, der Literarischen Agentur Elmar Klupsch, Stuttgart. Einbandgestaltung hißmann, heilmann, Hamburg Satz Greiner & Reichel, Köln Druck und Binden CPI Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany www.aufbau-verlag.de
und teile Ihnen mit, dass Ihr lieber Sohn, unser tapferer Kamerad, am 23.7., kurz nach 7 Uhr abends, durch ein Artilleriegeschoß einen leichten Heldentod fand. Trotz seiner Jugend hat er mit Hingabe, Pflichtbewusstsein und vorbildlicher Tapferkeit bis zuletzt seinen Zug geführt. Die Kameraden des Regiments und die Mannschaften der 3. Kompanie beklagen tief den Verlust dieses lieben und bescheidenen Offiziers. Ich, als sein Bataillonskommandeur, kann Ihnen nur versichern, dass er in vollstem Maß seine Schuldigkeit getan und als Held angesichts des Feindes gefallen ist! Die Kameraden mussten ihn an Ort und Stelle südwestlich Martinpuich zur letzten Ruhe betten, da ein Bergen in den furchtbaren Kämpfen nicht möglich ist. Seien Sie unserer allerherzlichsten Teilnahme versichert. Voller Ergriffenheit. Klutmann«Soldat kann jeder werden Einem Angriff gingen im Feld stets Gerüchte voraus. Die Bestätigung kam in aller Regel, wenn den Soldaten der Plan mit einem detaillierten Layout des Schlachtfelds samt Bäumen, Büschen und Gräben bekannt gegeben wurde. Eine gespenstische Ruhe und Taubheit kehrte ein, während die Ängste der Einzelnen wuchsen. Würde man den Kämpfen mit dem Bajonett gewachsen sein? Würde man bereit dazu sein, den Schützengraben zu verlassen, wenn es an der Zeit war? Und alle fürchteten, tödlich verletzt zu werden und im Niemandsland elendig zu sterben. Der Gefreite George Adams hat sich im März als Freiwilliger gemeldet, und nach einem 14-wöchigen Training ist er als Nachhut eines regulären Bataillons, dem 1st Middlesex, ins Ausland geschickt worden. Seit zwei Monaten ist er inzwischen in Frankreich und hat sich schnell an das Leben im Schützengraben gewöhnt. Doch die Nachricht, dass er zum ersten Mal selbst aus dem Schützengraben heraus ins offene Feuer soll, macht ihm 178 KAPITEL 10
mehr Angst, als er zugeben mag. Das Bataillon soll preußische Wachposten angreifen und die Gegner mit dem Bajonett ausschalten. Mit seinen 16 Jahren ist er sich vollständig bewusst, dass er dafür körperlich eigentlich zu klein ist und es ihm zudem an Kraft fehlt. Die Idee, einem Kerl, der doppelt so groß und schwer ist wie er, mit der gleichen Waffe gegenüberzutreten scheint ihm in diesem Moment keine besonders gute Idee. Außerdem regnet es in Strömen, als sich die Truppe in Position begibt. Wenige Tage nach der Schlacht schreibt George seinen Eltern in einem Brief aus dem Feld:»Am Samstagmorgen kamen wir aus dem Graben und von den 700 Kameraden überlebten gerade mal 180. Ich bin einer von ihnen. Es war kein echter Angriff, es war ein bewusstes Opfer, um den Franzosen zu unserer Rechten ein Schlupfloch zu ermöglichen Wir versprühten unser Gas um 6.10 Uhr, und um 6.20 Uhr warfen wir uns in die Schlacht. Und ich muss leider sagen, dass fast alle meine Kameraden gefallen sind und Dad, Jack Badrick, der Maurer, der früher für Harry Rooney gearbeitet hat, ist auch gefallen. Ich drehte mich um, um ihm etwas zu sagen, und da lag er. Eine Kugel hatte seinen Kopf durchbohrt. Der Angriff war von Anfang bis Ende eine einzige Katastrophe. Wir warfen uns in die Schlacht und liefen hinter unserem Gas übers Feld, als die Deutschen ihre Flammenwerfer zum Einsatz brachten, um das Gas zu entzünden. Und als sich das Feld gelichtet hatte, standen sie da auf der Anhöhe in Hemdsärmeln und warteten auf uns.«die Deutschen waren auf den Einsatz von Gas vorbereitet. Niemand, auch nicht George, kam weit aus dem Schützengraben der Kugelhagel und die Flammen waren gnadenlos. Monate später kehrt George an dieselbe Stelle zurück. Die Kämpfe sind an dieser Frontlinie offiziell schon seit Mitte Oktober vorbei, doch hunderte verwesende Leichen liegen immer noch in den Schützengräben und auf dem Schlachtfeld. Der Leichengeruch ist übermächtig. George bekommt die Aufgabe, die Toten einzusammeln und zur Bestattung zu bringen. Wenn Kinder zu Soldaten werden 179
»Wir holten also die Körper, die vom 25. Regiment, und es gab eine Reihe fürchterlicher Anblicke. Einige zerfielen in ihre einzelnen Körperteile, als wir versuchten, sie aufzunehmen. Am ersten Abend gelang es uns nur elf Leichen zu bergen und mir war von dem Gestank speiübel. Doch nach Dienstschluss erhielten wir einen guten Schluck Rum, und das half mir dann. Der nächste Tag war weitaus schlimmer, wir konnten nur neun Kameraden bergen, darunter vier ohne Kopf. Ihre Körper waren von Ratten und Würmern zerfressen und völlig schwarz. Durch die Haut schienen hie und da die Knochen. Als wir den letzten dieses Tages aus dem Schützengraben zogen, verliefen wir uns auch noch. Erst vier Stunden später fanden wir unsere Ausgangsposition wieder.«ende 1915 hat George Adams genug vom Krieg. Er will nach Hause. Seine Eltern haben einen entsprechenden Antrag gestellt. Einen Monat später wird er zum Militärarzt gerufen, um untersucht zu werden.»der Arztbericht ist eingereicht worden, und heute wurde ich dann zum Kommandeur gerufen. Er fragte mich, ob ich immer noch dienen wolle, und versuchte mich dazu zu bringen, ja zu sagen. Doch meine Antwort war nein. Er sagte, dass er mich zurückschicken würde, und jetzt warte ich auf den Moment, endlich wegzukommen. Ich weiß nicht, ob er meinte, dass ich auf die Basis zurück oder nach Hause geschickt werde. Hoffentlich Letzteres.«Sechs Tage später wird George auf die Basis in Rouen zurückgeschickt, kurz darauf nach Großbritannien, wo er entlassen wird. Eine Regel jedoch hatte Bestand. Außer im Falle»extremer Jugend«konnte kein Junge an der Front sein Schicksal mehr selbst bestimmen. Auch wenn jemand plötzlich große Angst bekam und nicht mehr bleiben wollte, konnte er nur noch seine Familie zu Hause bitten, einen entsprechenden Antrag zu stellen, und das Ergebnis abwarten. 180 KAPITEL 10