Deutsch Heinrich von Kleist

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Transkript:

Deutsch Heinrich von Kleist Sendemanuskript MARTINI: Kleist (war) ein nicht zu dämpfender Feuergeist, der Exaltation selbst bei Geringfügigkeiten anheimfallend, unstet, aber nur dann, wenn es auf Bereicherung seines Schatzes von Kenntnissen ankam, mit einer bewundernswerten Auffassungsgabe ausgerüstet, von Liebe und warmem Eifer für das Lernen beseelt; kurz der offenste und fleißigste Kopf von der Welt, dabei aber auch anspruchslos. So urteilte Heinrich von Kleists erster Erzieher, der Hauslehrer Christian Ernst Martini, über seinen Zögling. Kleist stammte aus einem angesehenen Adelsgeschlecht und trat schon mit 15 Jahren wie es in seiner Familie der Brauch war als Gefreiterkorporal in den preußischen Heeresdienst. Sieben Jahre später, kurz vor der Reifeprüfung, beantragte er seinen Abschied vom Militär. Damals, im Frühjahr 1799, schreibt er dem ehemaligen Hauslehrer Martini einen Brief, in dem er die Erwartungen, die er an sein künftiges Leben stellt, darzulegen versucht: Vielleicht ist es möglich, dass Zeit und Schicksale in mir Gefühle und Meinungen ändern; denn wer kann davor sicher sein! Es ist möglich, dass ich einst für ratsam halte, eine Bedienung, ein Amt zu suchen, und ich hoffe und glaube auch für diesen Fall, dass es mir dann leicht werden wird, mich für das Besondere eines Amtes zu bilden, wenn ich mich für das Allgemeine, für das Leben, gebildet habe. Aber ich bezweifle diesen möglichen Schritt; weil ich die goldne Unabhängigkeit, oder, um nicht falsch verstanden zu werden, die goldne Abhängigkeit von der Herrschaft der Vernunft mich gewiss stets zu veräußern scheuen würde, wenn ich erst einmal so glücklich gewesen wäre, sie mir wieder erworben zu haben. Diese gewundenen Sätze lassen die tiefen Selbstzweifel des Briefschreibers erkennen. Und sie weisen voraus auf seine zukünftige Lebensgeschichte. Feuergeist, Eifer und Exaltation wie der frühere Hauslehrer sich ausdrückte das mag ja alles stimmen. Doch andere, engste Freunde, bezeugen auch seinen Hang zur Melancholie. Gewiss, Kleist wird hartnäckig am Lebensplan der goldnen Unabhängigkeit festhalten. Aber eben diese Hartnäckigkeit wird ihm auch zum Problem, wird ihn immer wieder an Grenzen stoßen lassen: Er beginnt mit dem Studium der Mathematik und Naturwissenschaften, gibt auf, geht früh eine Verlobung ein, die er schon zwei Jahre später wieder löst, bereitet sich auf den zivilen Staatsdienst vor, entdeckt sein literarisches Talent, leidet bei allem, was er plant und tut, an chronischem Geldmangel, engagiert sich in der politischen Publizistik, stößt mit der Zensur zusammen, bewirbt sich um zivile Berufe, denkt dann wieder an eine militärische Laufbahn und beendet im Alter von 34 Jahren sein Leben durch Selbstmord. Seinen Freitod, den er zusammen

mit der Freundin Henriette Vogel vollzieht, hat er genau geplant. In einem Abschiedsbrief schreibt Henriette Vogel an einen befreundeten Militärbeamten: VOGEL: Mein sehr werter Freund! Ihrer Freundschaft, die Sie für mich, bis dahin immer so treu bewiesen, ist es vorbehalten, eine wunderbare Probe zu bestehen, denn wir beide, nämlich der bekannte Kleist und ich befinden uns ( ), auf dem Wege nach Potsdam, in einem sehr unbeholfenen Zustande, indem wir erschossen daliegen, und nun der Güte eines wohlwollenden Freundes entgegensehn, um unsre gebrechliche Hülle der sicheren Burg der Erde zu übergeben. Es sind Kleist sche Bilder, die Henriette in ihrem Abschiedsbrief verwendet: Selbst noch im Tod ist der menschliche Körper gebrechlich. Nur das Grab scheint Sicherheit zu bieten, endgültige Sicherheit in einer Welt, die als ganz und gar unsicher erlebt wurde. PROTHOE: Es ist die Welt noch, die gebrechliche, Auf die nur fern die Götter niederschaun. Kleists literarisches Werk, von der Nachwelt des 20. Jahrhunderts in den Himmel der Klassiker erhoben, ist in dem relativ kurzen Zeitraum von zehn Jahren niedergeschrieben worden. Seine Gedichte, Erzählungen und Dramen kreisen wie besessen um die Themen Kampf, Krieg, Liebe. In nicht wenigen Fällen verbinden sie beides; am eindrucksvollsten in der Erzählung Die Marquise von O, in den Dramen Penthesilea und Prinz Friedrich von Homburg. In der Paradoxe Von der Überlegung schreibt er: Das Leben selbst ist ein Kampf mit dem Schicksal; und es verhält sich auch mit dem Handeln wie mit dem Ringen. Der Athlet kann, in dem Augenblick, da er seinen Gegner umfasst hält, schlechthin nach keiner anderen Rücksicht, als nach bloßen augenblicklichen Eingebungen verfahren; und derjenige, der berechnen wollte, welche Muskeln er anstrengen und welche Glieder er in Bewegung setzen soll, um zu überwinden, würde unfehlbar den Kürzeren ziehen und unterliegen. Aber nachher, wenn er gesiegt hat oder am Boden liegt, mag es zweckmäßig sein zu überlegen, durch welchen Druck er seinen Gegner niederwarf oder welch ein Bein er ihm hätte stellen sollen, um sich aufrecht zu erhalten. Wer das Leben nicht wie ein solcher Ringer umfasst hält und tausendgliedrig, nach allen Windungen des Kampfs, nach allen Widerständen, Drücken, Ausweichungen und Reaktionen empfindet und spürt: Der wird, was er will, in keinem Gespräch durchsetzen; viel weniger in einer Schlacht. Sonderbar ist, dass auch das Gespräch als Zweikampf gesehen wird. Im Licht dieses Bildes erscheint die Sprache als Waffe, mit der ein Gegner überwunden werden kann. Und tatsächlich spricht Kleist in einer programmatischen Passage der von ihm herausgegebenen Berliner Abendblätter vom Köcher der Rede, dem der Redner und Schriftsteller die Pfeile entnimmt, um sie mit dem Bogen des Urteils auf diejenigen abzuschießen, die er niederwerfen oder doch wenigstens erschrecken und warnen will. Die Bewegungen der Kämpfenden, so

hörten wir aber auch, folgen einer augenblicklichen Eingebung und sind gerade nicht das Ergebnis zeitraubender Überlegung. Im Augenblick der Gefahr sind die körperlichen Reflexe wichtiger als die Reflexion. Eine Beobachtung, die Gegenstand der philosophischen Erzählung Über das Marionettentheater ist. In diesem Text berichtet eine der Dialogfiguren, wie sie einst den Degen zückte, um einen Zweikampf mit einem Bären zu bestehen: Ich fiel ( ) mit dem Rapier auf ihn aus; der Bär machte eine ganz kurze Bewegung mit der Tatze und parierte den Stoß. Ich versuchte, ihn durch Finten zu verführen; der Bär rührte sich nicht. Ich fiel wieder, mit einer augenblicklichen Gewandtheit, auf ihn aus, eines Menschen Brust würde ich ohnfehlbar getroffen haben: Der Bär machte eine ganz kurze Bewegung mit der Tatze und parierte den Stoß. ( ) Der Ernst des Bären kam hinzu, mir die Fassung zu rauben, Stöße und Finten wechselten sich, mir triefte der Schweiß: umsonst! Nicht bloß, dass der Bär, wie der erste Fechter der Welt, alle meine Stöße parierte; auf Finten ging er gar nicht einmal ein: Aug in Auge, als ob er meine Seele darin lesen könnte, stand er, die Tatze schlagfertig erhoben, und wenn meine Stöße nicht ernsthaft gemeint waren, so rührte er sich nicht. ( ) Wir sehen, dass in dem Maße, als in der organischen Welt die Reflexion dunkler und schwächer wird, die Grazie darin immer strahlender und herrschender hervortritt. Reflexion und Grazie, Überlegung und Anmut stehen nach diesen Worten wie die beiden Schalen einer Waage zueinander: Sinkt das eine, so steigt das andre Vermögen. Das Wort Grazie bedeutet ja nicht nur Anmut, es steht auch für Unschuld, für Gnade. Es ist die natürliche Grazie, die die Menschengattung mit dem Sündenfall verloren hat, und das gehört seitdem zu ihrer Konstitution. Und doch soll der Mensch sie einst wieder zurückgewinnen können, nämlich dann, wenn er wie es im Text paradoxerweise heißt die verbotene Tat wiederholt: Mithin, sagte ich ein wenig zerstreut, müssten wir wieder von dem Baum der Erkenntnis essen, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen? Allerdings, antwortete er; das ist das letzte Kapitel von der Geschichte der Welt. Ein Fauxpas, der Sündenfall, steht am Anfang der Menschheitsgeschichte; am Ende das Zurückfallen in den Naturzustand der Unschuld. Zu beidem zur Schuld und zur Erlösung kommt der Mensch, indem er vom Baum der Erkenntnis isst. Ein Rätsel, das auch andere Bilder im Marionettentheater nicht aufhellen. Das Paradies ist verriegelt und der Cherub hinter uns; wir müssen die Reise um die Welt machen und sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwo offen ist. Für die Erlösung vom Fluch des Gedankens findet Kleist ein überraschendes Bild. Es ist die tanzende Marionette, die vom Puppenspieler am Draht geführt wird. Sie erreicht, nach den ihr eigenen Konstruktionsgesetzen, wonach der von Reflexion und Bewusstsein angekränkelte Mensch unablässig strebt: Ebenmaß,

Beweglichkeit, Leichtigkeit und Anmut. Die Marionette ist ein wenn auch mechanisches Kunstwerk und lässt sich mit dem poetischen Kunstwerk durchaus vergleichen. Denn wie der Puppenspieler die Glieder der Marionette aus ihrem Schwerpunkt heraus schwingen und pendeln lässt, so bewegt der Dichter die von ihm geschaffenen Figuren aus dem Schwerpunkt seiner poetischen Fantasie. Anmut ist allerdings nur dem Kunstwerk vergönnt. Die dargestellten Figuren befinden sich keineswegs im Stand paradiesischer Unschuld. Im Gegenteil: Es ist ein besonderes Merkmal vieler Kleist scher Gestalten, dass sie nicht nur dem Sünden-Fall, sondern auch dem Stolpern, Fallen und Stürzen, nicht zuletzt jedoch dem Zu-Fall zum Opfer fallen. Das Lustspiel Der zerbrochne Krug spielt gleich zu Beginn mit der biblischen Sündenfallgeschichte und ihren Folgen. Der gestürzte Verführer heißt Adam und die zu verführende Unschuld Eve. Ei, was zum Henker, sagt, Gevatter Adam! Was ist mit Euch geschehn? Wie seht Ihr aus?! Ja, seht. Zum Straucheln brauchts doch nichts als Füße. Auf diesem glatten Boden, ist ein Strauch hier? Gestrauchelt bin ich hier; denn jeder trägt Den leid gen Stein zum Anstoß in sich selbst. Nein, sagt mir, Freund! Den Stein trüg jeglicher? Ja, in sich selbst! Verflucht das! Was beliebt? Ihr stammt von einem lockern Ältervater, Der so beim Anbeginn der Dinge fiel, Und wegen seines Falls berühmt geworden; Ihr seid doch nicht? Nun? Gleichfalls? Ob ich? Ich glaube? Hier bin ich hingefallen, sag ich Euch.

Unbildlich hingeschlagen? Ja, unbildlich. Es mag ein schlechtes Bild gewesen sein. Wann trug sich die Begebenheit denn zu? Jetzt, in dem Augenblick, da ich dem Bett Entsteig. Ich hatte noch das Morgenlied Im Mund, da stolpr ich in den Morgen schon, Und eh ich noch den Lauf des Tags beginne, Renkt unser Herrgott mir den Fuß schon aus. Und wohl den linken obenein? Den linken? Hier, den gesetzten? Freilich! Allgerechter! Der ohnhin schwer den Weg der Sünde wandelt. Der Fuß! Was! Schwer! Warum? Der Klumpfuß? Klumpfuß! Ein Fuß ist, wie der andere, ein Klumpen. Erlaubt! Da tut Ihr Eurem rechten Unrecht. Der rechte kann sich dieser Wucht nicht rühmen, Und wagt sich eh r aufs Schlüpfrige. Ach, was! Wo sich der eine hinwagt, folgt der andre.

Die Eingangsszene stellt den Dorfrichter Adam nicht nur als Namensvetter und Nachfahrn des biblischen Ältervaters Adam vor; sie deutet auch auf witzige Weise seine Verwandtschaft mit einem berühmten tragischen Klumpfuß der Antike an: mit Ödipus. Kleist geht mit beiden Traditionen ironisch um. Sein Lustspiel zitiert die alten Geschichten, die von der Wahrheit und ihrer Macht erzählen, um einen Rechtsfall zu klären, in dessen Mittelpunkt ein Alttagsding steht, ein Krug. Doch was soll s? Er und die Hand, die ihn zerbrochen hat, die Hand des alten neuen Adam, reichen hin, um ein vertracktes Spiel zu inszenieren, das Wahrheit und Lüge auf ein Nichts bezieht, auf das Loch im Krug: Es ist ein Symbol nicht nur für die verlorne Unschuld Eves, sondern auch für den Sündenfall der Sprache. Die Zweideutigkeit des Dialogs am Anfang, der sich vom Straucheln über den Fall und das Hinschlagen bis zum Teufelsfuß der Sünde vortastet, ist nur die Ouvertüre für ein virtuoses Täuschungsspiel. Wie genau dagegen ist die Beschreibung des Nichts, des Lochs im zerbrochnen Gefäß: MARTHE: Seht Ihr den Krug, Ihr wertgeschätzten Herren? Seht Ihr den Krug? O ja, wir sehen ihn. MARTHE: Nichts seht Ihr, mit Verlaub, die Scherben seht Ihr; Der Krüge schönster ist entzwei geschlagen. Hier grade auf dem Loch, wo jetzo nichts, Sind die gesamten niederländischen Provinzen Dem span schen Philipp übergeben worden. Hier im Ornat stand Kaiser Carl der Fünfte: Von dem seht Ihr nur noch die Beine stehn. Hier kniete Philipp und empfing die Krone: Der liegt im Topf, bis auf den Hinterteil, Und auch noch der hat einen Stoß empfangen. Dort wischten seine beiden Muhmen sich ( ) Gerührt die Augen aus; wenn man die eine Die Hand noch mit dem Tuch empor sieht heben, So ist s, als weinete sie über sich. Hier im Gefolge stützt sich Philibert Noch auf das Schwert; doch jetzo müsst er fallen, So gut wie Maximilian Was Frau Marthe, die Besitzerin des Krugs und Mutter Evens, als zerscherbtes Bild beschreibt, das ist ein Teil der Geschichte der Niederlande. Ein Unfall hat diese Geschichte zerstört. Und von diesem Tatbestand lässt sich eine Brücke schlagen zu Kleists Meinung, dass es vor allem der Zufall sei, der in der Geschichte regiere, und nicht Gott oder Menschenplan oder gar die Vernunft. So bemerkt er über den Anlass, der die Revolution in Frankreich ausgelöst haben könnte:

Vielleicht, dass es ( ) zuletzt das Zucken einer Oberlippe war, oder ein zweideutiges Spiel an der Manschette, was in Frankreich den Umsturz der Ordnung der Dinge bewirkte. Die Ordnung der Dinge, das ist die von Menschen gemachte Ordnung. Nicht von ungefähr sind es Rechtskonflikte, die im Mittelpunkt der Kleist schen Dichtung stehen: der Verstoß des Prinzen von Homburg gegen das Kriegsrecht, die gewalttätigen Rechtsbrüche des Michael Kohlhaas im Namen eines eigensinnigen Rechtsbewussteins, das zweideutige Gottesurteil in der Erzählung Der Zweikampf, höhere Gewalt und Lynchjustiz im Erdbeben in Chili. Was Gewalt zwischen Menschen verhindern soll Rechtsprechung, Gesetz, politische Verfassung erscheint zweideutig, brüchig. Ja die Ordnung selbst kann bürgerkriegsähnliche Gewalttaten auslösen, sobald ein Privileg, ein Affekt, ein Zufall das durch sie geschaffene prekäre Gleichgewicht stört. In jedem Augenblick kann das Ganze in einen Krieg aller gegen alle stürzen. Diese untergründig immerzu drohende Gefahr ist es, die nach Recht und Ordnung verlangt. Und nur Ausnahmezustände, wie Not und Gefahr, können dieser prekären Ordnung bisweilen den Anschein brüderlicher Eintracht geben. Jede große und umfassende Gefahr gibt, wenn ihr wohl begegnet wird, dem Staat, für den Augenblick, ein demokratisches Ansehn. Die Balance zwischen Ordnung und Chaos in der Menschenwelt ist gleichzeitig stabil und fragil wie die Architektur eines Gewölbes. Warum ( ) sinkt wohl das Gewölbe nicht ein, da es doch keine Stütze hat? Es steht ( ), weil alle Steine auf einmal einstürzen wollen. Die Szenen und Geschichten, die Kleist für seine Dichtungen gewählt hat, handeln meist an fernen Orten und in fernen Zeiten, als hätte auch ihm der Zufall die Stoffe in die Hand gespielt: Der zerbrochne Krug in den Niederlanden, Robert Guiskard zur Zeit der Normanen vor Konstantinopel, Amphitryon und Penthesilea in der Antike, Die Familie Schroffenstein und Das Käthchen von Heilbronn im Mittelalter, Die Hermannsschlacht zur Zeit des Augustus, Prinz Friedrich von Homburg unter Friedrich Wilhelm, dem Großen Kurfürsten, Michael Kohlhaas zu Luthers Zeiten, Die Marquise von O in Italien, Das Erdbeben in Chili in Südamerika, Die Verlobung in St. Domingo in der Karibischen See und so fort. Es scheint daher auf den ersten Blick, als habe der Autor sich gescheut, über die Gegenwart zu schreiben. Der zweite Blick aber, der Kleists politische Schriften zur Kenntnis nimmt, zeigt einen in die Zeitgeschichte verstrickten und engagierten Autor. 1809 Frankreich siegt in diesem Jahr bei Wagram über Österreich veröffentlicht er einen politischen Katechismus der Deutschen, in dem er mit der Napoleon-Bewunderung seiner Landsleute abrechnet: VATER: Wer also, unter den Deutschen, mag ihn bewundern?

SOHN: Die obersten Feldherrn etwa, und die Kenner der Kunst. VATER: Und auch diese, wann mögen sie es erst tun? SOHN: Wenn er vernichtet ist. Die alten Geschichten, selbst die ältesten, werden dem Dichter zum Gleichnis für die Zustände der Gegenwart. In der dramatischen Dichtung Die Hermannsschlacht, die den historischen Sieg der Cherusker über die Römer darstellt, inszeniert er sein Wunschbild: die Befreiung der Deutschen von der französischen Fremdherrschaft. Ein sprödes, heute kaum nachvollziehbares Werk wie Kleist selber sagt: Für den Augenblick berechnet. Sein patriotisches Motto lautet: Wehe, mein Vaterland, dir! Die Leier, zum Ruhm dir zu schlagen, / Ist, getreu dir im Schoß, mir, deinem Dichter, verwehrt. Aber auch hier, in diesem unter dem Schleier einer alten Geschichte verborgenen Zeitkommentar, interessiert den Autor vor allem die zerbrechliche Ordnung der Welt: der Konflikt zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen Verrat und Treue zu sich selbst, zwischen Rache und Recht. Wie Penthesilea im gleichnamigen Drama den wehrlosen Achill, so ermordet der Cheruskerfürst den wehrlosen Römer, der sich auf das Recht des Kriegsgefangenen beruft. In beiden Fällen ist das Motiv Rache. HERMANN: Du weißt, was Recht ist, du verfluchter Bube, Und kamst nach Deutschland, unbeleidigt, Um uns zu unterdrücken? Nehmt eine Keule doppelten Gewichts, Und schlagt ihn tot! In Penthesilea, in der Hermannsschlacht wie in der Erzählung Das Erdbeben in Chili vergleicht Kleist den Impuls der Rache, der das Recht missachtet, mit der Mordlust reißender Bluthunde. Der mit dem Tod bedrohte Römer antwortet dem Cheruskerfürsten: SEPTIMUS: Der das Geschlecht der königlichen Menschen Besiegt, in Ost und West, der ward Von Hunden in Germanien zerrissen: Das wird die Inschrift meines Grabmals sein! Die Frage nach der Moral des Handelns wird beiseite geschoben, wenn der Rache- und Mordtrieb ungebändigt-zügellos hervorbricht. Doch ist auch jede

Ordnungsvorschrift zweideutig, weil sie selbst schon mit potentieller Gewalt getränkt ist. Im Erdbeben in Chili erzählt Kleist, wie die weltlichen und geistlichen Behörden der Hauptstadt einen Verstoß gegen die moralische Ordnung ahnden wollen und wie alles ganz anders kommt. Der Hauslehrer Jeronimo verliebt sich in Josephe, die Tochter seines Arbeitgebers; die Liebe wird erwidert. Der Vater will die Beziehung unterbinden und steckt die Tochter ins Kloster. Durch einen glücklichen Zufall hatte Jeronimo hier die Verbindung von Neuem anzuknüpfen gewusst und in einer verschwiegenen Nacht den Klostergarten zum Schauplatze seines vollen Glückes gemacht. Der Sündenfall ist entdeckt, als Josephe vor der Kathedrale in Mutterwehen niedersinkt. Sie wird sofort nach der Geburt eines Sohnes zum Tod durch das Schwert verurteilt, der Vater des Kindes, Jeronimo, ins Gefängnis geworfen. An dem Tag aber, an dem die Hinrichtung vollstreckt werden soll, zerstört ein furchtbares Erdbeben die Stadt, tötet die Richter und befreit die Liebenden aus Todesgefahr und Gefangenschaft. (Jeronimo Rugera war starr vor Entsetzen; und gleich, als ob sein ganzes Bewusstsein zerschmettert worden wäre, hielt er sich jetzt an dem Pfeiler, an welchem er hatte sterben wollen, um nicht umzufallen. Der Boden wankte unter seinen Füßen, alle Wände des Gefängnisses rissen, der ganze Bau neigte sich, nach der Straße zu einzustürzen, und nur der seinem langsamen Fall begegnende Fall des gegenüberstehenden Gebäudes verhinderte, durch eine zufällige Wölbung, die gänzliche Zubodenstreckung desselben. Zitternd, mit sträubenden Haaren und Knien, die unter ihm brechen wollten, glitt Jeronimo über den schief gesenkten Fußboden hinweg, der Öffnung zu ( ). Josephe war, auf ihrem Gang zum Tode, dem Richtplatze schon ganz nahe gewesen, als durch den krachenden Einsturz der Gebäude plötzlich der ganze Hinrichtungszug auseinander gesprengt ward. Ihre ersten entsetzensvollen Schritte trugen sie hierauf dem nächsten Tore zu; doch die Besinnung kehrte ihr bald wieder, und sie wandte sich, um nach dem Kloster zu eilen, wo ihr kleiner, hülfloser Knabe zurückgeblieben war.) Josephe gelingt es, das Kind zu retten. Und auf dem freien Land, draußen vor der Stadt, finden Mutter und Kind bald auch den Geliebten und Vater. Der Schauplatz ihres unverhofften Glücks ist ein idyllisches Tal. (Überall, längs der Talquelle, hatten sich, im Schimmer des Mondscheins, Menschen niedergelassen und bereiteten sich sanfte Lager von Moos und Laub, um von einem qualvollen Tage auszuruhen. Und weil die Armen immer noch jammerten, dieser, dass er sein Haus, jener, dass er Weib und Kind, und der Dritte, dass er alles verloren habe: So schlichen Jeronimo und Josephe in ein dichteres Gebüsch, um durch das heimliche Gejauchz ihrer Seelen niemand zu betrüben. Sie fanden einen prachtvollen Granatapfelbaum, der seine Zweige, voll duftender Früchte, weit ausbreitete; und die Nachtigall flötete im Wipfel ihr wollüstiges Lied.)

An diesem Ort, der die Züge eines friedlichen Paradieses trägt, haben die sozialen Schranken keine Geltung, ist der Gedanke an Rache für den Augenblick getilgt. Auf den Feldern, soweit das Auge reichte, sah man Menschen von allen Ständen durcheinander liegen, Fürsten und Bettler, Matronen und Bäuerinnen, Staatsbeamte und Tagelöhner, Klosterherren und Klosterfrauen: ( ) als ob das allgemeine Unglück alles, was ihm entronnen war, zu einer Familie gemacht hätte. Ein Ausnahmezustand, der wir erinnern uns dem Zusammenleben ein demokratisches Ansehn gibt. Jedoch nur für den Augenblick. Das als ob signalisiert die Unwirklichkeit der neuen Ordnung, eine Ordnung, die auf jede Vorschrift verzichten kann und dennoch oder gerade deshalb die Menschen im Stand ihrer natürlichen Gleichheit vereinigt. Denn sobald die alte Ordnung wieder in Kraft tritt, zeigt der alte Rachedämon die Zähne. Jeronimo, Josephe und ihr Söhnchen kehren zusammen mit einem andern jungen Paar und dessen Kind, mit denen sie sich angefreundet haben, in guter Ordnung in die Stadt zurück. Ihr Wunsch ist, am Dankgottesdienst der Bürger in der Kathedrale teilzunehmen. In der Messe predigt der Chorherr. Er interpretiert die Naturkatastrophe als Gottesgericht und gibt damit der Rettung der wiedervereinigten Liebenden eine schreckliche Wendung: Als er das gestrige Erdbeben gleichwohl, auf einen Riss, den der Dom erhalten hatte, hinzeigend, einen bloßen Vorboten nannte, lief ein Schauder über die ganze Versammlung. Hierauf kam er, im Flusse priesterlicher Beredsamkeit, auf das Sittenverderbnis der Stadt; Gräuel, wie Sodom und Gomorrha sie nicht sahen, straft er an ihr ( ). Aber wie dem Dolche gleich fuhr es durch die von dieser Predigt schon ganz zerrissenen Herzen unserer beiden Unglücklichen, als der Chorherr bei dieser Gelegenheit umständlich des Frevels erwähnte, der in dem Klostergarten ( ) verübt worden war; die Schonung, die er bei der Welt gefunden hatte, gottlos nannte und in einer von Verwünschungen erfüllten Seitenwendung die Seelen der Täter, wörtlich genannt, allen Fürsten der Hölle übergab! Die Folgen des religiösen Fanatismus sind grässlich, da dieser in der Menge Rache- und Mordlust weckt. Jeronimo und in der allgemeinen Verwirrung eine andere Frau werden auf barbarische Weise getötet. Doch damit nicht genug: Meister Pedrillo schlug (Josephen) mit der Keule nieder. Darauf ganz mit ihrem Blute bespritzt: Schickt ihr den Bastard zur Hölle nach!, rief er und drang, mit noch ungesättigter Mordlust, von Neuem vor. Er trifft auf Don Fernando, den Ehemann des befreundeten Paars, der beide Kinder sein eigenes und das des ermordeten Jeronimo im Arm hält:

Don Fernando, dieser göttliche Held, stand jetzt, den Rücken an die Kirche gelehnt; in der Linken hielt er die Kinder, in der Rechten das Schwert. Mit jedem Hiebe wetterstrahlte er einen zu einen zu Boden; ein Löwe wehrt sich nicht besser. Sieben Bluthunde lagen tot vor ihm, der Fürst der satanischen Rotte selbst war verwundet. Doch Meister Pedrillo ruhte nicht eher, als bis er der Kinder eines bei den Beinen von seiner Brust gerissen und, hochher im Kreise geschwungen, an eines Kirchpfeilers Ecke zerschmettert hatte. Wie die Ordnung der Dinge zerbrechlich und trügerisch ist, so ist es auch die Ordnung des Textes. Eben atmet der Leser angesichts der unverhofften Rettung auf, schon wird er in die nächste Katastrophe gestürzt. Kleists Texte erzeugen ein Schwindelgefühl. Ihre poetische Logik folgt der rätselhaften Logik einer zerbrechlichen Welt bis ins Detail. Wie eine unruhige Spur sind die Verwerfungen und Widersprüche der Zeit ins Werk eingezeichnet. Nur in den seltenen Augenblicken des Kunstgenusses und der Freundschaft scheinen die Texte sagen zu wollen kann sich die flüchtige Empfindung eines unberechenbaren Glücks einstellen. Das verbindet Kleists literarisches Werk mit dem seiner Zeitgenossen Jean Paul und Friedrich Hölderlin. Das Glück kann nicht wie ein mathematischer Lehrsatz bewiesen werden, es muss empfunden werden, wenn es da sein soll. Daher ist es wohl gut, es zuweilen durch den Genuss sinnlicher Freuden von Neuem zu beleben; und man müsste wenigstens täglich ein gutes Gedicht lesen, ein schönes Gemälde sehen, ein sanftes Lied hören oder ein herzliches Wort mit einem Freund reden, um auch den schönern, ich möchte sagen, den menschlicheren Teil unseres Wesens zu bilden.