Die europäische Hexenverfolgung der Frühen Neuzeit (WS 2016/7) 9. Januar 2017 Gerüchte, soziale Konflikte und Funktionen Prof. Dr. Gerd Schwerhoff
Die Europäische Hexenverfolgung der Frühen Neuzeit 10. 10. (1) Einführung II. Formierung und Hochphase der Hexenverfolgung 24. 10.(!) 07. 11. 14. 11. (2) Die Formierung des Hexenglaubens im späten Mittelalters (3) Die Hochphase der Hexenverfolgung: Anfänge und Auslöser (4) Die Hochphase der Hexenverfolgung: Konjunkturen in Zeit & Raum III. Juristische und Intellektuelle Dimensionen der Verfolgung 21. 11. 28. 11. (5) Die Welt der Juristen und der Hexenprozess (6) Die Wissenschaft von den Hexen und ihre Gegner IV. Zentrale Aspekte des Hexenglaubens 05. 12. 19. 12.(!) (7) Schadenszauber und sein Verhältnis zur Alltagsmagie (8) Hexensabbat und nächtliche Ausflüge V. Zur sozialen Dynamik der Verfolgungen 09. 1. 16. 1. (9) Gerüchte, soziale Konflikte und Funktionen 10) Frauen und Männer im Fadenkreuz der Verfolgung VI. Ende und Nachleben der Hexenverfolgung 23. 1. 30. 1. (11) (11) Das Ende der Hexenverfolgungen, ihre Ideologisierung und Folklorisierung (18.-21. Jh.) (12) Klausur
Klausur am 30. Januar Pflichtteil: Diskussion von drei problemorientierten Fragen zu verschiedenen Aspekten der Vorlesung (Auswahl aus sechs Fragen) Kür: Stichwortartige Beantwortung von Wissensfragen (Möglichkeit der Notenverbesserung)
Gerüchte, soziale Konflikte und Funktionen 1. Sozialgeschichte als die klassische Moderne der Hexenforschung 2. Zwei Beispiele: Barbara Oberhuserin (Kriens, um 1500) und Anna Veltmans (Lemgo, 1654) 3. Zur Soziologie der Verfolgten: Das Beispiel Lemgo 4. Hexen-Streitigkeiten: Zur Konflikt-Typologie der frühneuzeitlichen Gesellschaft 5. Perspektivenwechsel: Hexereiverdächtigung als Kommunikationsprozess
1. Sozialgeschichte als die klassische Moderne der Hexenforschung Die archetypische Situation: Arme Bettlerin wird an der Haustür ihres reich gewordenen Nachbarn abgewiesen, der ihr die Solidarität aufkündigt, und rächt sich mit Flüchen. Hexereianklage von oben nach unten bekräftigt die Marginalisierung der neuen Armen. Macfarlane, Alan: Witchcraft in Tudor and Stuart England. A regional and comparative study, London 1970 Vgl. http://www.alanmacfarlane.com/ Thomas, Keith: Religion and the Decline of Magic. Studies in popular beliefs in sixteenth- and seventeenth-century England, Harmondsworth 1971
2. Zwei Beispiele: Barbara Oberhuserin (Kriens, um 1500) und Anna Veltmans (Lemgo, 1654/65) nach: Andreas Blauert: Frühe Hexenverfolgungen. Schweizerische Ketzer-, Zauberei-, und Hexenprozesse des 15. Jahrhunderts, Hamburg 1989 Ursula Bender Wittmann: Communis salutis hostis. Die Kauffrau Anna Veltmans, in: G. Wilbertz/ J. Scheffler (Hg.): Biographieforschung und Stadtgeschichte. Lemgo in der Spätphase der Hexenverfolgung, Bielefeld 2000, S.150-184
3. Zur Soziologie der Verfolgten: Das Beispiel Lemgo Ursula Bender-Wittmann: Hexenprozesse in Lemgo: Eine sozialgeschichtliche Analyse, in: Der Weserraum zwischen 1500 und 1650: Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur in der Fruehen Neuzeit, Marburg 1993, 235-266
3. Zur Soziologie der Verfolgten: Das Beispiel Lemgo
13 3,8 11,3 3,8 5,7 62,3 Verteilung der identifizierten Opfer auf die Bauernschaften (%)
= 43,4 %
4. Hexen-Streitigkeiten: Zur Konflikt- Typologie der frühneuzeitlichen Gesellschaft Sozialprofil der Angeklagten und der Ankläger (Denunzianten): sozialer Status: Oberschicht schützt länger, macht aber Anklagen um so attraktiver; Unterschichten waren häufiger betroffen, aber auch zahlreicher; Randgruppen standen in bestimmten Verfolgungswellen im Mittelpunkt (z. B. Salzburger Zauberjackl- Prozess); Familienstand: Witwen als schutzlose leichte Anklageziele; aber: Hexereidynastien besonders im Fokus; oft ist die jahrzehntelange Verdachtsgenese zu beachten; Alter: überdurchschnittlich viele alte Menschen unter den Opfern; aber Kinderhexen als besondere Zielgruppe in der Spätphase der Prozesse.
Sozialstatus mecklenburgischer Angeklagter wegen Hexerei (nach K. Moeller) bis 1640 landesherrliche Dörfer adlige Dörfer Kleinstädte Großstädte gesamt Oberschicht 9 (5,1%) 9 (5,5%) 19 (12,8%) 7 (10,3%) 44 (7,9%) Mittelschicht 90 (50,6%) 94 (57,7%) 106 (71,6%) 24 (35,3%) 314 (56,4%) Unterschicht 79 (44,4%) 60 (36,8%) 23 (15,5%) 37 (54,4%) 199 (35,7%) ab 1641 Oberschicht 39 (11,1%) 11 (5,5%) 42 (16,9%) 6 (7,2%) 98 (11,1%) Mittelschicht 212 (60,2%) 144 (71,6%) 146 (58,9%) 52 (62,7%) 554 (62,7%) Unterschicht 101 (28,7%) 46 46 (22,9%) 60 (24,2%) 25 (30,1%) 232 (26,2%) insgesamt Oberschicht 48 (9%) 20 (5,5%) 61 (15,4%) 13 (8,6%) 142 (9,9%) Mittelschicht 302 (57%) 238 (65,4%) 252 (63,6%) 76 (50,3%) 868 (60,2%) Unterschicht 180 (34%) 106 (29,1%) 83 (21%) 62 (41,1%) 431 (29,9%)
Exkurs: Kinderhexenprozesse Behringer, Wolfgang: Kinderhexenprozesse. Zur Roller von Kindern in der Geschichte der Hexenverfolgung, in: Zeitschrift für Historische Forschung 16 (1989), S. 31-47 Roper, Lyndal: Evil Imaginings and Fantasies. Child Witches and the End of the Witch Craze, in: In: Past and Present 167 (2000), S. 107-139 Kurt Rau: Augsburger Kinderhexenprozesse 1625 1730, Wien 2006 2011
4. Hexen-Streitigkeiten: Zur Konflikt- Typologie der frühneuzeitlichen Gesellschaft Sozialprofil der Angeklagten und der Ankläger (Denunzianten): sozialer Status Familienstand Alter Beziehungskonstellationen zwischen den Parteien: Familie Nachbarschaft Berufskollegen Konflikttypen: - Erbschaftskonflikte - konkurrierende Familienverbände - Nachbarschaftskonflikte - ökonomische Konkurrenz - politische Fraktionskämpfe [ ]
4. Hexen-Streitigkeiten: Zur Konflikt- Typologie der frühneuzeitlichen Gesellschaft Mögliche Funktionen des Hexenglaubens: Kontingenzreduktion und Erklärungspotential Durchsetzung eigener Interessen Sündenbockfunktion für die gesamte Gesellschaft Walz: Prinzip der Summenkonstanz, ökonomisches Denken kreist um begrenzte Güter (Foster)
4. Hexen-Streitigkeiten: Zur Konflikt- Typologie der frühneuzeitlichen Gesellschaft Fazit: Hexenverfolgung als multifunktionales Vielzweckinstrument bzw. als Konfliktkatalysator (Dillinger) Kontroverse: Instrumentalisierung der Hexenverfolgung? Lit: Walter Rummel / Rita Voltmer: Die Verfolgung eigener Interessen durch Untertanen, Funktionäre und Herrschaften bei den Hexenjagden im Rhein- Maas-Mosel-Raum. In: Unrecht und Recht. Kriminalität und Gesellschaft im Wandel von 1500-2000, Gemeinsame Landesausstellung der rheinlandpfälzischen und saarländischen Archive. Wissenschaftlicher Begleitband, hg. v. Heinz-Günther Borck, Koblenz 2002, S. 297-339
5. Hexereiverdächtigungen als Kommunikationsprozess Funktionalität des Hexenglaubens problematisch, weil - keine eindeutige Funktion erkennbar - Häufige Dysfunktionalität Perspektivenwechsel: Hexereizuschreibungen als Ergebnis eines offenen, häufig kontingenten, aber trotzdem regelhaften Kommunikationsprozesses nach Rainer Walz: Hexenglauben und magische Kommunikation im Dorf der frühen Neuzeit, Paderborn 1993)
5. Hexereiverdächtigungen als Kommunikationsprozess idealtypische Stufen und Möglichkeiten A) Die Verdächtigenden 1) Verdachtgenerierung 2) Strategien der Konfliktvermeidung Stillschweigen Beschickungen Ausweichen, Anspielung 3) Agressive Verhaltensweisen Schreien Bezichtigung ins Angesicht Aus-dem-Haus-Rufen Drohung und physischer Angriff Aufforderung zur Verteidigung und zur Wasserprobe Klage vor dem Gogericht Meideverhalten B) Die Verdächtigten 1) Passive Verhaltensweisen Nichtverteidigung Selbstzurechnung 2) Verteidigung Aufforderung zum Beweis Retorsion Steigerungsformen der Verteidigung Wasserprobe Klage vor dem Gogericht 3) Verhalten der Verwandten Verteidigung Nichtverteidigung