Ellen Schmitz Juli 2015 Tres Soles - Bolivien Für immer schwarz, rot, gold und grün Mein aufregendes Jahr in Bolivien ist nun vorbei. Von meiner letzten Zeit aus Cochabamba berichte ich euch aus Gau-Algesheim: Meine letzten Tage waren ganz ähnlich wie die vor einem Jahr in Gau-Algesheim, total vollgepackt. Neben dem Empfang und der Einarbeitung der neuen Freiwilligen, den täglichen Caporaleseinheiten sowieso den vielen Abschieden kam leider noch ein total unerwartetes und sehr trauriges Ereignis dazu. Die zwei Geschwisterpaare Wendy (13) und Diego (7), sowie die Brüder Alejandro (13), Alan (10) und Wilmer (7) sind eines Freitags zusammen aus Tres Soles abgehauen. Als die fünf gegen abends immer noch nicht zurück gekehrt waren und es keinerlei Spur von ihnen gab, fing ich an mir richtige Sorgen zu machen. Nach einer unruhigen Nacht schaute ich am nächsten Morgen hoffnungsvoll auf mein Handy. Immer noch keine Neuigkeiten. Während die Mitarbeiter sich alle versammelten, holten Katharina und ich die neuen Freiwilligen am Flughafen ab. Nachdem wir die sechs herzlich in Empfang genommen hatten, blickten wir wieder auf unsere Handys. Guisela, unsere Chefin, bat uns Fotos von den fünf zu schicken, um diese an die Polizei weiterzugeben. Da unsere Kinder allerdings fünf unter etlichen vermissten Kinder in Cochabamba waren und wir uns auf die Polizei nicht verlassen konnten, machten wir uns selbst auf die Suche. Katharina und ich suchten zusammen mit dem Koch Braulio. Mit Fotos gewappnet, schauten wir zuerst in einem Gebiet von Cochabamba nach ihnen, in dem sich viele Straßenkinder aufhalten. Einige Passanten behaupteten, die drei Brüder gesehen zu haben, doch da die meisten Jungs schwarze kurze Harre haben, waren die Aussagen
sehr unsicher. Ich werde diesen Tag nie vergessen. Besorgt lief ich eilig von Passant zu Passant und hielt ihm die Fotos vors Gesicht. Am Ende des Tages mussten wir die Suche erfolglos beenden und verabredeten uns völlig erschöpft für den nächsten Morgen bereits um sechs Uhr in der Frühe, um die Kinder, falls sie auf der Straße schliefen, so abzufangen. Ich sah so einige Kinder auf Pappkartons, überwiegend in Märkten aneinander gekuschelt schlafen, doch unsere nicht. Nachdem diese Suche wieder erfolglos blieb, wurden wir uns unseren viel zu begrenzten Möglichkeiten bewusst. Cochabamba ist riesig, wir hatten keine Chance. Am Abend jedoch dann endlich Neuigkeiten. Die Oma der drei Brüder hatte sich bei Tres Soles gemeldet. Alan, einer der drei Brüder, sei bei ihr. Im ersten Moment pure Erleichterung. Doch wo sind die anderen vier? Unsere zwei Psychologen Jorge und Lucio machten sich am nächsten Morgen in aller Frühe auf den Weg zu der Großmutter. Dort fanden sie tatsächlich Alan und dieser wusste Gott sei Dank, wo sich die anderen vier befanden. Sie seien in der "Chicheria" von seinem Onkel. Cicha ist ein alkoholisches Getränk aus Mais und eine "Chicheria" somit vergleichbar mit einer Kneipe. Die Oma warnte jedoch die beiden Psychologen vor diesem Ort und empfahl Verstärkung von der Polizei zu holen, da die Leute dort sehr betrunken und aggressiv seien. Um ihren Rat zu befolgen, machten sich Jorge und Lucio auf den Weg zur nächsten Polizeistation. Die Beamten dort waren allerdings, kaum zu glauben aber in Bolivien leider wahr, auch betrunken und demnach nicht zu gebrauchen. Bis sie die nächste Station zu Fuß erreicht hatten, waren einige Stunden vergangen. Dort arbeiteten immerhin auch einige Mitarbeiter vom Jugendamt. Mit Verstärkung durch die Polizei und Jugendamt sind sie in die Chicheria eingetreten. Dort sahen sie die anderen vier vermissten Kinder, inmitten von lauter betrunkenen Männern und Frauen. Jorge sagte, dass sich der weite Weg zur Station gelohnt hätte, da die Oma Recht hatte. Ohne Verstärkung hätten sie sich nicht gegen die Betrunkenen durchsetzen können. Entgegen meinen Vermutungen waren die Kinder nicht froh Jorge und Lucio zu sehen. Wendy wollte gar nicht mit, drohte sogar wieder abzuhauen
und den Kleinen war es mehr oder weniger egal. Als die Kinder dann mit dem Auto vom Jugendamt in Tres Soles ankamen, packte sie Guisela sofort und ging mit ihnen zum Arzt, um sie durchchecken zu lassen. Zu tiefst geschockt war ich, als sie mir mitteilte, dass Wendy keine Jungfrau mehr ist, sie eine heftige Infektion im Intimbereich hat und sich vermuten lässt, dass der Onkel der Brüder sich an ihr vergriffen hat. Viele Kinder aus Tres Soles mussten schon einmal sexuelle Gewalt erfahren oder diese mit ansehen, das war mir bewusst. Dieses Leid jedoch zum Ende noch einmal so nah mitzuerleben hätte ich mir nicht gewünscht. Doch Wendy selbst hatte es soweit kommen lassen. Weshalb die Kinder überhaut abgehauen sind, konnte ich anfangs einfach nicht nachvollziehen. Doch die Gründe liegen eigentlich auf der Hand : Die unfassbar große Sehnsucht nach der eigenen Familie, die eigentlich so nah wohnt, sich jedoch trotzdem nicht einmal zum Geburtstag blicken lässt. Als ich jedoch am 15. August frisiert und geschminkt in meiner Caporales Tracht am Zuganfang der Urkupiña stand, konnte ich diese Sorgen für zwei Abende ausschalten. Ich kann euch sagen, ich hatte den größten Spaß. Die Schritte saßen nahezu perfekt, das Publikum jubelte uns zu und unheimlich viele wollten ein Foto mit mir schießen. Das war nochmal Bolivien pur in all seinen bunten Farben. Ich habe gestrahlt über beide Backen. Hätte ich nicht so große Blasen von den neuen Stiefeln an meinen Zehen gehabt, hätte ich am liebsten noch zwei weitere
Abende getanzt. Die Tracht habe ich mir als Andenken mit nach Hause genommen. In Frankfurt gibt es eine bolivianische Tanzgruppe, die ich mir gerne ansehen möchte. Kreative Solesianer Jhaqui tanzt Tinku Nach diesen wahnsinnig aufregenden letzen Tagen saß ich dann auch schon zum letzten Mal im "Micro" nach Tres Soles. Ich wollte gar nichts Besonderes an diesem Tag machen, sondern viel lieber noch einmal einen schönen letzten Alltag in Tres Soles durchleben. Doch so normal wurde der Tag nicht. Schon beim Mittagessen kullerten mir die ersten Tränen über die Backen. Ständig sagten die Kinder "No te vayas", gehe nicht Ellen. Wir knallten zum Tee das große Glas Nutella mit den selbstgebackenen Brötchen. Danach überreichte mir Katharina ein wunderschönes Buch, indem jedes Kind eine Seite selbst gestaltet hat. Durch die stressigen Tage davor hatte ich mein Abflugsdatum ziemlich gut verdrängen können. Doch als ich die ersten Kinder zum Abschied nochmal ordentlich drückte, brach ich komplett in Tränen aus. Was hatte ich bloß für ein riesiges Glück mit meinem Projekt mit den herzlichsten Kindern, die es gibt. Die Kinder haben auf ihren selbst gestalteten Seite ganz oft geschrieben "bitte vergiss uns nicht". Doch diese
Angst konnte ich ihnen hoffentlich nehmen. Ich werde sie nie vergessen. Jeder Einzelne hat seinen eigenen Platz in meinem Herzen gewonnen und ich werde alles dafür geben, sie in zwei Jahren besuchen zu können. Jetzt bleibt mir nur noch DANKE zu sagen. Ich danke dem Bistum Mainz, das mir dieses wertvolle Jahr überhaupt ermöglicht hat. Besonderer Dank gilt Wolfgang und Tobi, ihr macht eure Arbeit mit Herz und verdammt gut. "Gracias" Katharina. Wir hätten es beide anfangs nicht gedacht, doch haben uns zu den dicksten Freunden entwickelt und mit dir kann ich dieses Jahr immer teilen. Danke Mama, Papa und Maren ich konnte trotz Entfernung und Zeitverschiebung in jeder Situation auf euch zählen und ihr habt mir ganz viel Kraft gegeben. All meinen Freunden und meiner am Ende erstaunlich großen Leserschar danke ich für euer großes Interesse an meinem Jahr und die lieben Zeilen aus Deutschland. Für immer schwarz, rot, gold und grün. vielen Dank, Eure Ellen Unser Abschiedsgeschenk: Tres Soles T-Shirts