Predigt zum Gleichnis der verlorenen Dracheme, Lukas 15, 8-10 Liebe Gemeinde, das Gleichnis der verlorenen Drachme ist so anschaulich geschildert, dass wir uns leicht in die Szene hineinversetzen können. Eine Frau, die etwas unermüdlich sucht in ihrer Unordnung und das ganze Haus fegt, um das Verlorene zu finden. Wir alle haben schon mal den Schlüssel, das Portemonnaie oder sonst irgend etwas überall gesucht, diese Erfahrung kennen wir alle. Aber warum bloss sucht diese Frau wie verrückt nach nur einem Geldstück? Eine Erklärung ist, dass die Frau in ihrem Stand als Witwe arm war. Sie hatte 10 Drachmen und eine davon ist ihr verloren gegangen. Ein Zehntel des Vermögens ist viel. Zu einer interessanteren Erklärung kommen wir, wenn wir den hohen Symbolgehalt des Gleichnisses beachten: Die Zahlen eins und zehn sind Zahlen der Ganzheit. Die Frau hat zehn Drachmen wer zehn Drachmen besitzt, der ist ganz und heil. Doch die Frau hat eine Drachme verloren. Wenn die Frau eine Drachme verloren hat, fällt sie aus ihrer Ganzheit, aus ihrer Einheit mit sich selbst und mit Gott. Sie hat die Mitte verloren. Wie fühlen wir uns denn, liebe Gemeinde, wenn wir unsere Mitte verloren haben? Vielleicht nehmen wir eine gewisse Leere in uns wahr, eine Sinnlosigkeit gegenüber dem Leben. Es kann Antriebslosigkeit sein, ein Mangel an Lebenskraft.
Oft ist es aber gar nicht so einfach zu merken, weil man die innere Leere meist ganz unbewusst mit viel äusserer Aktivität überdeckt und sich dabei noch besonders lebendig fühlt, obwohl man innerlich leer ist. Wer sein Selbst verloren hat, der tut nach aussen noch Vieles. Aber vor allem fehlt die Mitte, die Kraft, die Klarheit. Die Frau in unserem Gleichnis spürt aber, dass ihr die Einheit fehlt. Und sie unternimmt etwas dagegen. Sie zündet eine Lampe an. Die Lampe ist ihr ein Hilfsmittel, das Licht in die Wirniss bringt. Wofür kann für uns diese Lampe stehen? Was bringt Licht in unsere innere Unordnung? Was ist uns ein Hilfsmittel, damit wir unsere Mitte finden? Zu einem Teil ist da der Verstand und Wille. Über den Verstand kann man sich kontrollieren und beherrschen, kann man verstehen und analysieren. Sich beherrschen und kontrollieren mit Verstand und Wille ist aber erst ein kleiner Teil der Lampe, nicht das ganze Licht. Denn Wille und Verstand bringen wohl situationsbezogen etwas Licht in die Unordnung, aber daraus wachsen kaum nachhaltige Veränderungen. Die Frage ist, wie kommen wir näher an uns selbst, an unser Inneres heran? Ich sehe in der Achtsamkeit ein echtes und wertvolles Hilfsmittel, wie wir zu mehr Licht in unserer Unordnung kommen. Wenn wir lernen aufmerksam und möglichst präsent durch den Alltag zu gehen, nehmen wir uns selber und unser Inneres differenzierter wahr. Durch Achtsamkeit verringert sich unser äusserer Aktivismus, der alles überdeckt und bringt uns näher zu uns selbst. Anders gesagt: Wir finden vom Lärm zu Stille.
Achtsamkeit ist eine ganz klare Hilfe, um damit näher zum innern Kern zu kommen. Es gibt viele Möglichkeiten, Achtsamkeit zu lernen und zu üben. Z.B. mit Meditieren oder beim aufmerksamen Wandern in der Natur, bei der Gartenarbeit, beim Spiel mit den Kindern. Zugänge über unseren Leib, über die Bewegung, oder über die Musik, die Kunst sind dabei sehr wertvoll. Achtsamkeit als Hilfsmittel also, wodurch wir wacher werden und so mehr Licht in innere Unordnung kommen kann. Und die Frau sucht ja wirklich unermüdlich nach der Drachme. Das griechische Wort epimelos bedeutet: fürsorgend, sorgfältig, genau, eifrig. Die Frau sieht genau hin, und sie sucht sorgfältig, achtsam eben. Es liegt ihr am Herzen, dass sie die Drachme wieder findet. Die Frau fegt den Schmutz weg, der sich auf den Boden gelegt hat. Im Schmutz sehe ich die Unachtsamkeit, die grosse Unbewusstheit, mit der wir leben. Durch viele Aktivitäten legt sich eine dicke Schicht von Staub auf den Boden unserer Seele. So müssen wir kräftig fegen. Und dann! findet sie die Drachme. Sie findet sich selbst. Da ruft sie ihre Freundinnen zusammen und veranstaltet ein Fest. Freut euch mit mir, ich habe die Drachme wiedergefunden, die ich verloren hatte. Ich interpretiere dieses Fest wie folgt: Wer sich selbst findet, der findet auch eine neue Beziehung zu den Mitmenschen.
Liebe Gemeinde, Wir können also viel Tun, um unseren inneren Kern zu finden, und das ist wertvoll. Und ich glaube auch, dass Gottes Geist gerade dort am Werk ist, wo Veränderung statt findet, dort wo sich unser Leben bewegt hin zu mehr Lebendigkeit, zu mehr Echtheit. Und so braucht es zur vollen Helligkeit der Lampe den Glauben: Es ist das Licht Gottes, das wir brauchen, um in unserem inneren Haus die Drachme zu suchen. Erst der Glaube ist die volle Helligkeit der Lampe, mit der wir suchen. Der Glaube, das Vertrauen darauf, dass der Geist Gottes in uns wirkt und uns wandelt. Um den Glauben lebendig zu gestalten haben wir auch Hilfsmittel, dazu können wir auch etwas beitragen. Ich weise hier im Besonderen auf das Gebet hin. Da pflegen wir aktiv die Beziehung mit Gott. Eine eigene Weise des Betens zu finden, lohnt sich. Nun haben wir uns Gedanken gemacht darüber, wie es ist, wenn wir uns an der Stelle der Witwe sehen und so also uns selbst, unsere Mitte suchen. Die Witwe kann aber auch ein Bild sein für Gott, der den verlorenen Menschen sucht und dabei das ganze Haus auf den Kopf stellt. Ganz Interessant ist: Bei dieser Deutung haben wir nebst den vielen männlichen Gottesbildern in der Bibel, eines der wenigen weiblichen. Die Deutung, die Witwe als Gott zu sehen, liegt auf der Hand. Unser Gleichnis ist bei Lukas eingebettet zwischen dem Gleichnis des verlorenen Schafes, wo Gott mit einem Hirten verglichen wird und dem Gleichnis des verlorenen Sohnes, wo Gott mit dem gütigen Vater verglichen wird.
Der Mystiker Johannes Tauler hat das so gedeutet, dass Gott gerade dann, wenn wir uns gut eingerichtet haben in unserem Lebenshaus, wie eine Frau handelt, die alles durcheinanderwirft, um die Drachme zu suchen. Gerade in der Lebensmitte haben wir uns oft gut situiert und eingerichtet, haben Beruf und Familie, vielleicht ein Eigenheim oder eine tolle Wohnung. Bei vielen kommt da die Krise und die Frage nach Sinn. Vor lauter äusserem Tun haben wir die Drachme verloren. So führt uns Gott in die Krise, wirbelt einiges im Leben auf, damit wir in uns auf die Suche nach dem Wesentlichen mache. Wenn wir also in der Witwe Gott sehen, ist er derjenige, der uns manchmal aufwirbelt, aber er ist auch derjenige, der uns sucht. Liebe Gemeinde In mir ist die Überzeugung gewachsen, dass es stets ein Miteinander ist von Mensch und Gott. Unser Suchen nach unserem wahren Innern, ist stets auch eine Suche nach Gott. Und wenn wir zu unserer Mitte finden, finden wir Gott. Unser Selbst ist der göttliche Kern, der Christus in uns. Jesus Christus ist bei der Suche eine Hilfe: Er war der Wanderer, der die Menschen durch die Begegnung und durch seine Botschaft eingeladen hat, Gott wieder zu finden. So ist er zum Wegbereiter und Wegweiser geworden für uns bis heute. Und es ist ein kostbarer Schatz des Glaubens, dass Jesus Christus der Weg selber ist, auf dem wir gehen können.
Es ist doch tröstlich und ermutigend, dass wir nicht alleine suchen müssen und vor allem, dass wir während unserer Suche von Gott gesucht und gefunden werden. Möge das unsere Ermutigung und Hoffnung sein! AMEN Thalwil, 21. Okt. 2012, Pfrn. Noa Zenger