Kunst und Kultur Die Dreischiffigkeit der Moschee ist dem byzantinischen Kirchenraum entlehnt. Erst der Baumeister Mimar Sinan erprobte die verschiedenen Möglichkeiten, wie die Raumwirkung der Hagia Sophia mit dem islamischen Gedankengut verbunden werden konnte, das einen Einheitsraum, in dem alle Gläubigen gleichgestellt sind, favorisiert. In seiner Süleyman-Moschee ist Sinan dies großartig gelungen. Seine Moscheen gelten als Höhepunkte des osmanischen Moscheebaus. Im 18. Jh., der sogenannten Tulpenzeit, fand das Formengut von Barock und Rokoko Eingang in die islamisch-türkische Kunst. Im 19. Jh., zur Zeit der Reformen, dokumentierte man dann seine Offenheit gegenüber Europa auch durch die Übernahme der dort aktuellen Architektursprache. Kalligraphie Die Kalligraphie ist die bedeutendste osmanische Kunstform. Sie diente nicht nur der Niederschrift von Texten, insbesondere des Korans, sondern schmückte auch öffentliche Gebäude. Bis zum 19. Jh. entwickelte sie sich stetig weiter. Erst mit der Ablösung der arabischen Schrift durch das lateinische Alphabet 1928 schwand allmählich die Bedeutung der Kalligraphie. Eng mit dem islamischen Glaubensgut verbunden, lebt sie aber bis heute im religiösen Bereich fort. Die Kalligraphie mit ihren verschiedenen Schriften konnte sich wohl nur deshalb so hoch entwickeln, weil Mohammed im Koran die Wiedergabe menschlicher Gestalten in Statuenform ablehnt. Miniaturenmalerei Die lange Tradition der Miniaturenmalerei fand nur im höfischen Bereich Verbreitung. In flacher, schemenhafter Darstellung schildern die Bilder historische Momente aus dem Leben bzw. den Eroberungszügen des Sultans. Sie sind primär schmückendes Beiwerk der Bücher. Der Sultan steht in der Regel im Mittelpunkt der Miniatur, die anderen Gestalten sind erzählerisch, wie die arabische Schrift, von rechts nach links im Schwung ihrer kalligraphischen Zeichen angeordnet. Presse Als Kulturhauptstadt der Türkischen Republik kommt Istanbul auch heute noch eine große Be- Kalligraphie: Schrift als Kunst 53
Kunst und Kultur deutung zu. So werden alle sieben überregionalen Zeitungen nach wie vor in Istanbul gedruckt. Hürriyet (Freiheit), ein nationalistisches Sensationsblatt, ist die auflagenstärkste. Dane ben gibt es die linkskemalistische Cumhurriyet (Republik) sowie die gewerkschaftsorientierte Milliyet (Nationalität). Üblich sind reißerische Schlagzeilen, viele Fotos, Sport- und Sensationsberichte. Zugleich wird in der Berichterstattung oft kritisch und ideologisch überspitzt. Einzig und allein die Cumhurriyet hebt sich in ihrer sachlichen Aufmachung und Berichterstattung deutlich von den anderen Zeitungen ab. Film Der türkische Film gewann nach dem Militärputsch von 1960 im Zuge eines liberaleren Kulturklimas an Bedeutung. In Yeşilcam, dem türkischen Hollywood im Istanbuler Stadtteil Beyoğlu, wurden bis Ende der 1970er-Jahre massenhaft Melodramen, Sexfilme und Schnulzen nach ägyptischem und amerikanischem Vorbild gedreht, die im arabischen Ausland ebenfalls beliebt waren. Auch heute noch ist Istanbul Zentrum der türkischen TV-Produktionen, vor allem der zahlreichen Sitcoms, die die Filmschnulzen abgelöst haben. Künstlerisch anspruchsvolle Filme, die sich mit sozialkritischen und politischen Themen auseinandersetzen, hatten und haben häufig Probleme mit staatlicher Zensur und dem Maulkorbparagrafen 301, der jedes Verunglimpfen des Türkentums unter Strafe stellt. Im Ausland gelangen sie zu wesentlich höherem Ansehen. Neuerdings wächst die Zahl kritischer und auch experimenteller Filme, wie das inzwischen renommierte Istanbul Film Festival S. 37 u. 56 jedes Jahr im März/April zeigt. Literatur Alle Schriftsteller, die sich kritisch über gesellschaftliche Missstände oder die Politik des eigenen Landes äußerten, kamen ins Gefängnis oder waren Repressalien ausgesetzt. Der Kommunist Nazım Hikmet, der bedeutendste moderne Lyriker, starb 1962 im russischen Exil. Bis heute ist ihm ein Grab in der Türkei verwehrt. Aziz Nesin war der hervorragendste Satiriker der Türkei. In über 100 Büchern beschrieb der gebürtige Istanbuler seit den 1950er-Jahren die Zustände seiner Heimat. Seine Erzählungen geißeln übertriebenen Nationalismus, religiösen Fanatismus Sprachgewaltig: Orhan Pamuk und 54
Kunst und Kultur Anprobe eines Bauchtanzkostüms in einer Schneiderei die Arroganz der politischen Machthaber. Zwei Attentate, lange Haftstrafen und mehr als 200 Prozesse waren der Preis seiner Liebe zur Türkei. Sein Tod rief 1995 bei den Intellektuellen im Land große Trauer hervor. Yaşar Kemal schildert in kraftvoll poetischer Sprache in mehr als 20 Büchern das Leben der Landbevölkerung. Sein»Auch die Vögel sind fort«ist eine wunderbare Hommage an das alte Istanbul jenseits der Reiseführer. Zu einer sprachgewaltigen Odyssee im nächtlichen Istanbul verschmelzen Vergangenheit und Gegenwart in dem Roman»Das schwarze Buch«von Orhan Pamuk, dem zurzeit bekanntesten Schriftsteller der Türkei. 2005 erhielt der Autor mit seinem neuesten Werk»Schnee«den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, 2006 den Nobelpreis für Literatur. In der Türkei wurden die Auszeichnungen sehr zwiespältig aufgenommen und sowohl von den Nationalisten als auch von den Islamisten als Affront aus politischen Gründen verstanden. Musik und Tanz Die Musik- und Tanzkultur Istanbuls war einst ebenso unterschiedlich wie die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung davon ist heute nur wenig zu spüren. Ein musikalisches Porträt der Bosporus-Metropole und ihrer Menschen schuf der Regisseur Fatih Akin mit seinem Dokumentarfilm»Crossing the Bridge The Sound of Istanbul«. Seit den 1970er-Jahren wurden viele traditionelle Lieder ihre Texte besangen Alltagssorgen, Liebe und Leid als türkische Schlager verbreitet. Aus dieser»arabesk-musik«, die in jedem Taxi, Dolmuş und Geschäft ertönte, entwickelte sich Anfang der 1990er-Jahre der 55 Echt gut Echt gut
Unterwegs in Istanbul Entdecken Sie die einzelnen Stadtviertel jeweils mit den schönsten Touren, allem Sehens- und Erlebenswerten sowie zahlreichen Tipps
Das kaiserliche Zentrum Nicht verpassen! Die»schwitzende Säule«in der Hagia Sophia Den Alexander-Sarkophag im Archäologischen Museum Den Harem im Topkapı-Palast Einen kühlen Drink im Hof des Hotels Yeşil Ev Handgemachtes, marmoriertes Papier im Arasta-Basar kaufen Ein Essen in den kühlen Gewölben der Yerebatan-Zisterne
Kaiserliches Zentrum ][ Zur Orientierung Karte Seite 73 Zur Orientierung Das alte kaiserliche Zentrum von Konstantinopel heißt heute nach der bedeutendsten Moschee Istanbuls Sultanahmet. Es umfasst den alten Sultanspalast (Topkapı Sarayı), das byzantinische Hippodrom mit Hagia Sophia und Blauer Moschee sowie die Areale bis zum Meer, wo von der früheren Seemauer durch den Bau der Eisenbahnlinie nur kümmerliche Reste erhalten geblieben sind. Das Viertel rund um die Hauptsehenswürdigkeiten hat natürlich eine gute touristische Infrastruktur, es sind aber auch besonders viele Geschäftemacher unterwegs. Vor Nepp sollte man sich daher hüten. Im letzten Jahrzehnt sind hier viele Hotels in älteren Häusern entstanden, meist bezahlbare Mittelklasse, deren wahrer Trumpf die Dachterrasse ist: für ein Frühstück mit freiem Blick zur Hagia Sophia. In Sultanahmet sind alle Sehenswürdigkeiten gut zu Fuß zu erreichen. Vom Hotelviertel Aksaray kommt man am besten mit der Tramvay, die bis zur Hagia Sophia fährt. Vom Hotelviertel am Taksim-Platz nimmt man erst die moderne Standseilbahn Füniküler bis Kabataş und steigt dort in die Tramvay um. Rechts und links des Hippodroms liegen gute Touristenlokale und Basare mit kunsthandwerklichen Waren, auch dafür sollte man genügend Zeit einplanen. Touren im kaiserlichen Zentrum Durch den Palast der Sultane Kaiserliches Tor *Ha gia Eirene Topkapı- Serail-Museum Harem **Archäologisches Museum Rosenhauspark Dauer: Für die drei wichtigsten Museen Istanbuls sollten Sie einen Tag einplanen. Topkapı- Palast: mind. 3 Std.; Harem: 1 Std. mit Führung, Archäologisches Museum: 2 3 Std. Praktische Hinweise: Es empfiehlt sich, frühzeitig mit dem Serail zu beginnen, bevor der Besucherandrang zu groß wird. Eine Pause kann man sich im Restaurant Konyalı auf einer Terrasse unterhalb des vierten Hofes mit schönem Bosporus-Blick gönnen. In der Hagia Sophia 61