Seite 1 / 6 Gottes Reich ist da! Siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch! [Lk. 17, 21b]. Lk. 17, 21b Liebe Gemeinde, Wir stehen kurz vor dem Ende dieses Jahres: Der Abreisskalender an der Wand ist ganz dünn geworden und die Zeitungen und Nachrichten sind voll von Rückblicken und Ausblicken und Zitaten aus dem Jahr 2013. Wichtige Fragen zum Jahreswechsel, so eine Schlagzeile in der vergangenen Woche. Ja, was ist wichtig? Was war uns wichtig im vergangenen Jahr? Was haben wir erreicht? was ist uns gelungen? was hat uns geprägt? worin wurden wir enttäuscht? Und was ist uns wichtig im Blick auf das kommende Jahr? Was wollen wir tun? was erreichen? Ja, was ist wichtig? Vor längerer Zeit bat der Hauskreis jüngerer Erwachsener, der jeweils hier im Hause zusammenkommt, Sigmar Friedrich, den Redaktor der Zeitschrift Kirche und Welt, einen Abend zu gestalten. Das Thema wurde ihm vorgegeben und lautete in etwa: Kann all das, was Jesus sagte und tat, in einem einzigen Satz zusammengefasst werden? oder in anderen Worten: Was ist die Quintessenz? was ist das Wichtigste an der Botschaft Jesu? Ich bin dankbar, dass die ganze Gemeinde zu jenem Gesprächsabend eingeladen war und ich dabei sein konnte. Sigmar antwortete miit Jesu Wort, das uns im 1. Kapitel des Markusevangeliums übermittelt ist: Jesus kam nach Galiläa, predigte das Evangelium Gottes und sprach: Die Zeit ist erfüllt und das Reich Gottes ist genaht [Mk. 1,15]. Neben diesen Satz aus dem Markusevangelium möchte ich den stellen, den wir in der Lesung aus dem Lukasevangelium gehört haben. Pharisäer wollten von Jesus wissen, wann denn das Reich Gottes komme. Und Jesus antwortete: Siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch! [Lk. 17, 21b] Zwei einfache Sätze; aber wenn wir sie in verschiedenen Bibelübersetzungen und übertragungen nachlesen, merken wir, wie schwierig es sein kann, diese einfachen Sätze so zu übersetzen, dass sie für möglichst viele Menschen zu einer konkret verständlichen Aussage werden. Was bedeutet denn Reich Gottes? Und was meint Die Zeit ist erfüllt?
Seite 2 / 6 Die Zeit ist erfüllt bedeutet nicht, dass mit Jesu Geburt eine Zeit abgeschlossen wurde, in der das Reich Gottes noch sehr weit entfernt war, und erst jetzt mit dem Kommen Jesu auf Erden erfahrbar wird, sondern vielmehr und das ist in der Gute Nachricht Bibel sehr schön übersetzt: Es ist soweit! Es ist soweit, und das Reich Gottes ist genaht. Aber was ist das Reich Gottes? Matthäus bezeichnet es meistens als Reich der Himmel, und in einer neueren Übertragung wird es die neue Welt Gottes genannt. Reich Gottes bezeichnet den Bereich, in dem Gott sich als Herr erweist. Und Gott ist schon von allem Anfang an Herr über allem gewesen. Das Alte Testament berichtet von seinen Anfängen und von den prophetischen Verheissungen, die dieses Reich und seine Zukunft betreffen, und das Neue Testament zeigt uns, wie in Jesus Christus dieser Herrschaftsbereich Gottes machtvoll in Erscheinung tritt. Und mit Jesu Wiederkunft wird das Reich Gottes in Vollendung uneingeschränkt sichtbar werden. [Rienecker, Lexikon zur Bibel] Wenn wir nun die Worte Jesu nach Markus und nach Lukas kombinieren so können wir Jesus so verstehen: Es ist soweit! Jetzt will Gott seine Herrschaft mitten unter euch aufrichten! [Mk. 1,15; Lk. 17, 21b] Und trotz aller Übersetzungsbemühungen: Reich Gottes entzieht sich einer detaillierten Beschreibung, so wie wir auch Gott nicht beschreiben können. Aber so, wie uns verschiedene Bilder und Vorstellungen von Gott uns ihn besser verstehen lassen, so gibt es Wege, uns dem Verständnis des Reiches Gottes zu nähern: Da stehen uns als erstes die Gleichnisse zur Verfügung, die Jesus über das Reich Gottes erzählt. Die meisten dieser Bilder finden wir bei Matthäus [Mt. 13], die dort in der Regel mit den Worten beginnen: Mit dem Himmelreich ist es wie mit. Da wird uns Reich Gottes gezeigt als etwas, das in Entwicklung begriffen, am Werden und unaufhaltsam am Wachsen ist, manchmal unbeachtet, manchmal spektakulär schnell. Es ist etwas unerhört Wertvolles, für das es sich lohnt, alles andere aufzugegeben. Reich Gottes wird oft missverstanden, weil es nicht unseren gängigen Beschreibungs und Beuteilungskriterien unterliegt. Ein zweiter Weg, sich dem Verständnis des Reiches Gottes zu nähern führt durch die Bergpredigt Jesu im 5. und 6. Kapitel des Matthäusevangeliums mit den Seligpreisungen und den Anweisungen zu einem Leben in der neuen Welt Gottes.
Seite 3 / 6 Und ein dritter Zugang eröffnet sich uns im Brief des Apostels Paulus an die Galater, wo Paulus im 5. Kapitel die Resultate des Wirkens von Gottes Geist in uns beschreibt. Und doch: Sehen können wir das Reich Gottes nicht. - Aber wir können es an seinen Auswirkungen erkennen, an dem, was an Menschen geschieht, die sich ihm aussetzen und an dem, wie Menschen, die unter dem Herrschaftsbereich Gottes leben, auf ihre Mitmenschen wirken. Ich denke da zum Beispiel an Dietrich Bonhoeffer, der durch das nationalsozialistische Regime im April 1943 verhaftet wurde und zwei Jahre im Gefängnis verbracht hatte, bevor kurz vor Kriegsende ein Todesurteil an ihm vollzogen wurde. Als Gefangener schrieb er: Wer bin ich? - Sie sagen mir oft, ich träte aus meiner Zelle gelassen und heiter und fest wie ein Gutsherr aus seinem Schloss. Wer bin ich? Sie sagen mir oft, ich spräche mit meinen Bewachern frei und freundlich und klar, als hätte ich zu gebieten. Wer bin ich? Sie sagen mir auch, ich trüge die Tage des Unglücks gleichmütig, lächelnd und stolz, wie einer, der Siegen gewohnt ist. So kann Reich Gottes in unserer Mitte erkennbar sein: Wenn von einem Gefangenen so viel ausstrahlt, dass er wie ein Gutsherr erscheint, dass er mit seinen Wärtern auf Augenhöhe verkehrt, ja, dass es sogar so aussieht, wie wenn er gebieten und seine Bewacher auf ihn hören würden. Denken wir da nicht: Ja, so sollte es auch unter uns sein! Wären doch Gottes Kraft und sein Geist so in uns wirksam, dass Seine Grösse für meine Mitmenschen glaubhaft erkennbar würden. Beachten wir nun aber auch, was Bonhoeffer in seinem Text weiterschreibt: Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen? Oder bin ich nur das, was ich selber von mir weiss? unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig, ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle, hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen, dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe, zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung, umgetrieben vom Warten auf grosse Dinge, ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne,
Seite 4 / 6 müde und leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen, matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen? Wo ist denn jetzt hier Reich Gottes in diesem Menschen, der nach aussen stark und gelassen erscheint, in seinem Inneren aber nur Verzweiflung verspürt und nach guten Worten und menschlicher Nähe dürstet? Auch das gehört zum Herrschaftsbereich Gottes, dass wir ihn nicht verorten können, dass wir nicht sagen können, wo und wie Gottes Reich in Erscheinung zu treten hat. Hören wir dazu aber auch die letzte Zeile in Bonhoeffers Text: Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott! Da ist es wieder! Da leuchtet es auf! Da, wo wir in allen Situationen sagen können: Dein bin ich, o Gott! da ist Reich Gottes Realität, da ist Gottes Reich mitten unter uns, selbst wenn wir uns dessen gar nicht bewusst sind. Was wir über Dietrich Bonhoeffer gehört haben lässt uns unmittelbar Parallelen suchen zum Leben Nelson Mandelas, dessen in diesen Tagen Millionen Menschen gedenken. Auch er wurde durch ein unmenschliches Regime ins Gefängnis gesperrt und dort 27 lange Jahre festgehalten viel länger noch als Dietrich Bonhoeffer. Aber die Art, wie er diese Jahre lebte und die Kraft und die Ausstrahlung, die von ihm ausgingen, erinnern an den Mann der wie ein Gutsherr aus seiner Zelle trat. Wird da, bei Nelson Mandela, auch Reich Gottes sichtbar? Ich bin fest davon überzeugt, dass Gott in der Geschichte handelt und dass er es in dieser Geschichte auf ganz besondere Weise tat und noch tut. Nicht Nelson Mandela hat Geschichte gemacht, sondern Gott hat durch Mandela Geschichte gemacht. Ob Mandela das auch so gesehen hat, wissen wir nicht. Vieles deutet aber darauf hin, wissen wir doch, dass er im Glauben an Gott immer wieder die Kraft gesucht und gefunden hat, Ungerechtigkeit zu bekämpfen und Versöhnung zu suchen und zu leben. Reich Gottes mitten unter uns! Wir könnten noch lange in der Politik verweilen und sprechen über Dag Hammerskjöld, den zweiten Generalsekretär der Vereinten Nationen oder über den unblutigen Zerfall des sozialistischen Machtapparates in der DDR, der seinen Anfang in den wöchentlichen Friedensgebeten in der Nikolaikirche in Leipzig genommen und im Fall der Mauer in Berlin einen spektakulären Höhepunkt erreicht hatte. Wir müssten nachdenken über
Seite 5 / 6 die katholischen und die protestantischen Frauen, die sich in Nordirland zum gemeinsamen Gebet für Frieden in ihrem Land zusammengefunden haben und über die jüdischen, die palästinensischen und die christlichen Frauen, die in einem Umfeld, das solches nicht zulassen will, miteinander Wege zum friedlichen Zusammenleben suchen und gehen. Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Land besitzen [Mt. 5,5] und selig sind die Friedfertigen [Mt. 5,9]. Reich Gottes wird da erkennbar, wo Menschen an Versöhnungsprozessen beteiligt sind und als Versöhnte miteinander leben. Das gilt nicht nur in den weiten Bereichen von Geschichte und Politik, sondern auch und da vielleicht ganz besonders in unseren persönlichen Beziehungen in Familie und Gemeinde und in den kleinen und grösseren Problemen, die uns tagtäglich begleiten und bedrängen. Wenn wir die Augen offen halten, werden wir die Wirkungen des Herrschaftsbereiches Gottes in den verschiedensten Situationen mitten unter uns entdecken, da. wo Menschen nach einem Streit wieder inneren Frieden finden und einander in die Augen blicken können, da, wo Ungerechtigkeit - am eigenen Leibe erfahren - und falsche Schuldzuweisungen keine Bitterkeit hinterlassen, da, wo nach einem Bruch in Beziehungen wieder gegenseitiges Vertrauen wachsen darf. Reich Gottes ist auch da mitten in euch, wo in einer Familie schier unlösbare Probleme diskutiert werden, und eines der Kinder plötzlich sagt: Aber wir können doch beten! Das Reich Gottes, verstanden als der Bereich, in dem Gott sich als Herr erweist, ist da! mitten unter uns und in uns. Reich Gottes können wir nicht als unbeteiligte aussenstehende Beobachter beschreiben, nicht sagen es geht von da bis da, nicht sagen, wie gross es ist, welche Berge und Flüsse und wieviele Menschen dazugehören. Wir können nicht sagen, wer dazu gehört und wer nicht, und wir können uns schon gar nicht erlauben zu urteilen, wer dazu gehören darf und wer nicht. Zusammen mit Juden sind wir Christen nicht Danebenstehende, sondern in diesem Bereich Lebende. Wir sind Bürger dieses Herrschaftbereiches Gottes, Teil dieses Reiches und damit auch Repräsentanten dieses Reiches. - Es wäre nun naheliegend, die Frage zu stellen, ob wohl Gottes Reich an uns und in der Umgebung, die wir prägen, erkennbar sei. Die Frage nach unserem Auftreten und Tun soll aber heute im Hintergrund stehen; Thema ist Gottes Reich und Sein Tun, Gottes Geist und Sein Wirken.
Seite 6 / 6 Dazu ist Jesus in die Welt gekommen, um uns zu sagen, dass mit ihm eine neue Zeit angebrochen ist, dass Gott jetzt sein Schöpfungswerk vollenden will [Mk. 1,15]. Das Friedensreich, das Jesaja gesehen hat, wird Realität werden [Jes. 9, 1-6]. Darum dürfen wir singen: Fröhlich soll mein Herze springen dieser Zeit, da vor Freud alle Engel singen. Gott wird Mensch dir, Mensch zugute; Gottes Kind, das verbindt sich mit unserm Blute. [Gesangbuch der EMK, Lied 166, aus Strophen 1 und 2] Und: Kommt, atmet auf, ihr sollt leben. Ihr müsst nicht mehr verzweifeln, nicht länger mutlos sein. Gott hat uns seinen Sohn gegeben. Mit ihm kehrt neues Leben bei uns ein. [Gesangbuch der EMK, Lied 286, Refrain] So dürfen wir denn frohgemut und in grosser Dankbarkeit auf den Jahreswechsel zugehen in der Gewissheit, dass Gottes Reich mitten unter uns ist. Wir sind Gottes Kinder und Teil seines Reiches! heute, morgen und an jedem Tag im Neuen Jahr! Amen