Von der Staatensouveränität zur Responsibility to Protect Völkerrecht und Menschenrechte von Steffen Gorski Immer wieder kam es in den vergangenen Jahrzehnten zu massiven Menschenrechtsverletzungen. Nicht selten selten führte dies zu militärischen Interventionen der Staatengemeinschaft. Zu diesem Thema haben wir am 06.05.2011 Dr. Anne Rausch ins Allerweltshaus eingeladen, die zum Thema Völkerrecht und Menschenrechte einen Vortrag hielt. Sie ist promovierte Juristin, schrieb ihre Doktorarbeit über das Konzept der Responsibility to Protect und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Völkerrecht und ausländisches öffentliches Recht der Universität zu Köln. Die Veranstaltung wurde von Simone Lenz moderiert. Was ist Völkerrecht, wen schützt es und wer setzt es durch? Zu Beginn stellen sich drei ganz zentrale Fragen: Was ist das Völkerrecht? Wen schützt es? Und wer setzt es durch? Anne Rausch beginnt mit einer Begriffserklärung - so ist das Völkerrecht nicht etwa das Recht der Völker, wie man allein von der Wortbedeutung meinen könnte. Es handelt sich nämlich bei dem Begriff um eine ungenaue Übersetzung des lateinischen Begriffs "ius gentium". Besser wäre "internationales Recht", denn es handelt sich um das Recht zwischen Staaten, um Pflichten und Rechte zwischen den Staaten. Grundprinzip des Völkerrechts ist der Grundsatz der Staatensouveränität demnach sind die Staaten grundsätzlich keinem andere Staat unterworden, sie unterliegen nur dem Völkerrecht. Geschützt wird der Grundsatz durch das Interventionsverbot - dieses garantiert die Integrität eines jeden Staates, was bedeutet, dass ein Staat nicht in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates eingreifen darf. Dies gilt grundsätzlich auch dann, wenn es in einem Staat z.b. zu Menschenrechtsverletzungen kommt. Zu nennen ist auch das Gewaltverbot - seit Gründung der Vereinten Nationen (im Folgenden UN) ist festgeschrieben, dass kein Staat gegen einen anderen militärische Gewalt anwenden darf. Ausnahmen hiervon bilden Maßnahmen, die der Selbstverteidigung dienen (Art. 52 UN-Charta), oder solche, die durch eine
Resolution des UN-Sicherheitsrates nach Kap. 7 der UN-Charta autorisiert werden. Damit ist auch die zweite der zu beginn aufgeworfenen Fragen beantwortet: Das Völkerrecht schützt zumindest in seiner ursprünglichen Form die Staaten. Es gibt allerdings keine zentralen Instanzen oder Gewalten, die das Völkerrecht schaffen und durchsetzen können, wie es im nationalen Recht der Fall ist. Aufgrund des Grundsatzes der Staatensouveränität sind die Staaten nur dann an Normen gebunden, wenn sie diesen zugestimmt haben. Es herrscht das Konsensprinzip. Rechtsquellen des Völkerrechts sind vor allem das Völkergewohnheitsrecht und völkerrechtliche Verträge: Ersteres ist eine Form ungeschriebenen Rechts, das aus der Praxis und Rechtsüberzeugung der Staaten abgeleitet wird. Völkerrechtliche Verträge sind Verträge zwischen den Staaten im Bereich des internationalen Rechts. Durch den Abschluss von Verträge zum Schutz der Menschenrechte im letzten und aktuellen Jahrhundert hat sich viel am ursprünglichen Gedanken des Völkerrechts geändert. Der Schutz der Menschenrechte, der vorher Angelegenheit eines jeden Staates war, wurde auf die internationale Ebene gehoben und ist damit Gegenstand des Völkerrechts geworden. Zu nennen ist insbesondere die (unverbindliche) Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UN-Generalversammlung von 1948, die UN-Menschenrechtspakte von 1966 sowie die Europäische und die Amerikanische Menschenrechtskonvention. Mittlerweile ist ein enges Netz völkerechlticher Regeln zum Schutz der Menschenrechte.entstanden. Es ist daher zu einer gewissen Gewichtsverschiebung vom Staatsschutz zum Schutz von Individuen gekommen. Die Menschenrechte und deren Schutz sind also nun nicht mehr allein innerstaatliche Angelegenheiten. Womit wir bei der dritten Frage ankommen. Wie wird das Völkerrecht durchgesetzt? Wie gesagt, gibt es keine Zentralgewalten, die das Völkerrecht durchsetzen könnten. Allerdings gibt es Rechtsinstrumente wie z.b. das Rechtsinstitut der Gegenmaßnahme oder kollektive Zwangsmaßnahmen nach Kap. 7 der UN-Charta. Dieses besagt, dass nicht-militärische (Artikel 41) und militärische Maßnahmen (Artikel 42) gerechtfertigt werden können, wobei in beiden Fällen die Erfüllung von Artikel 39 vorausgesetzt wird, der festschreibt, dass Angriffshandlungen nur legitim sind, wenn eine Angriffshandlung, ein Bruch oder eine Bedrohung des internationalen
Friedens vorliegt. Humanitäre Konflikte Mit dem Ende des vergangenen Jahrhunderts haben sich die Konflikte von der internationalen auf die natinale Ebene verlagert. Es handelte sich nicht mehr um Konflikte zwischen den Staaten, sondern um Konflikte in den Staaten, in denen es häufig zu massiven Menschenrechtsverletzungen gekommen ist. Aufgrund der zwischenstaatlichen Zielsetzung des Völkerrechts bot dieses keinen direkten Lösungen für humanitäre Konflikte. Lange war umstritten, ob der Sicherheitsrat im Falle von Menschenrechtsverletzungen militärische Interventionen anordnen darf. Mittlerweile ist dies aber ankannt. Die Entwicklung begann insbesondere mit der Mandatierung der Interventionen in Somalia 1992 und Ruanda 1994 und hat schließlich durch die Bestätigung der Responsibility to Protect durch die Staats- und Regierungschefs auf dem Weltgipfel 2005 einen Abschluss gefunden. Humanitäre Interventionen ohne Sicherheitsratsmandat Allerdings besteht bei der Möglichkeit über den Sicherheitsrat vorzugehen immer die Problematik, dass die ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates ein Einschreiten durch die Einlegung eines Vetos verhindern können. Es bleibt daher die Frage, ob zum Schutz der Menschenrechte auch ohne ein Mandat des Sicherheitsrates militärisch eingegriffen werden darf. Auf internationaler Ebene sind vier Präzedenzfälle zu nennen, die als humanitäre Intervention bezeichnet werden können: die Eingriffe der ECOWAS-Staaten in die Bürgerkriege in Sierra Leone und Liberia in den 90er Jahren, die Intervention der USA, Frankreichs und Großbritanniens im Irak 1991-1993 sowie der NATO-Einsatz im Kosovo 1999. Mangels einer entsprechenden Rechtsüberzeugung hat sich aber noch kein Völkergewohnheitsrecht herausgebildet, wonach humanitäre Intervenitonen ohne Sicherheitsratsmandat zulässig wären. Dies ergibt sich insbesondere aus der ausdrücklichen Ablehnung der Gruppe der 77 (damals bereits 132 Staaten) aus den Jahren 1999 und 2000.
Verschiedene Kommissionen und Versammlungen haben sich seit solchen Fällen verstärkt mit einem neuem Völkerrechtsverständnis beschäftigt. Die International Commission on Intervention and State Sovereignty (ICISS) schuf 2001 das Konzept der Responsibility to Protect. Im Folgenden beschäftigten sich auch der Bericht des high level panel 2004, der Bericht des damaligen UN- Generalsekretärs Kofi Annan und das UN-Weltgipfeldokument 2005 mit den neuen Entwicklungen. Den Staaten kommt nach dem Konzept eine Primärverantwortung zu, ihre eigene Bevölkerung und dessen Rechte zu schützen. Der Weltgemeinschaft kommt aber die Sekundärverantwortung zu, dort einzugreifen, wo Menschenrechte verletzt werden. Das neue Konzept der Responsibility to Protect gliedert sich in drei Bereiche: die Responsibility to Prevent, was bedeutet, dass Konflikte, die z.b. Verbrechen gegen die Menschlichkeit hervorrufen könnten, von vornherein verhindert werden soll. Hier setzen z.b. entwicklungspolitische Überlegungen und Entwicklungshilfe an. Die Responsibility to React, was bedeutet, dass zuerst nicht-militärische und zuletzt militärische Interventionen gerechtfertigt werden und auch die Pflicht zu solchen besteht. Und zuletzt die Responsibility to Rebuild, was bedeutet, dass neue Konflikte verhindert werden sollen. Dazu gehören z.b. die Entwaffnung von Staaten oder der Wiederaufbau von Wirtschaft und Staatsapparat. Zu betonen ist aber, dass das komplette Konzept keine rechtliche Grundlage darstellt, sondern eher ein moralisch-politisches Konzept ist. Die Responsibility to Protect ist kein feststehender Begriff und bietet keine Rechtsverbindlichkeit. Um humanitäre Interventionen zu rechtfertigen, ist nach wie vor eine Resolution des UN- Sicherheitsrates notwendig. Libyen - ein Anwendungsfall der Responsibility to Protect? Die aktuellen Entwicklungen in Libyen und die folgenden Reaktionen der Weltgemeinschaft stellen einen Anwendungsfall des Konzepts dar. Der UN-Sicherheitsrat stellte nach gegebener Faktenlage fest, dass in Libyen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verübt werden. In Folge verabschiedeten sie im Sinne der Responsibility to Protect zuerst die Resolution 1970 am 26.02. Hier wurden zuerst nicht-militärische Maßnahmen wie Reisebeschränkung, Sperrung von Konten und ein Waffenembargo verhängt. Im nächsten Schritt folgten dann die
Androhung von Gewalt und schließlich die Anordnung militärischer Interventionen, die am 17.03. durch Resolution 1973 mandatiert wurden. Die Weltgemeinschaft nimmt damit ihre Sekundärverwantwortung zum Schutz von Individuen wahr. Auch andere Staatenverbände wie die Afrikanische Union und die Arabische Liga waren in die Entscheidung mit eingebunden. Aus juristischer Sicht ist die Intervention in Libyen zunächst nicht zu beanstanden. Bis zur Resolution 1973 sind alle Maßnahmen nach geltendem Völkerrecht durchgeführt worden. Die verhängte Flugverbotszone sollte "mit allen erforderlichen Mitteln" durchgesetzt werden. Man handele damit zum Schutz der Bevölkerung. Die folgende Vorgehensweise der Staaten bleibt aber nach wie vor umstritten. Ein UN-Mandat rechtfertigt eigentlich keinen Eingriff in einen Bürgerkrieg. Zum Abschluss ihres Vortrages stellt Anne Rausch die Frage, inwieweit militärische Interventionen überhaupt einen Nutzen haben oder als Hilfe gesehen werden können. Frau Rausch beendet ihren Vortrag, bedankt sich für die Aufmerksamkeit und lädt zur anschließenden Diskussion ein. Diskussion In der Diskussion werden viele Bedenken zur Rechtmäßigkeit von humanitären Interventionen und zur Organisation der Weltstaatengemeinschaft geäußert. So die Frage, ob es nicht auch eine Responsibility to Respect gebe, was heißen soll, eine Verantwortung und Pflicht zur Achtung der Menschenrechte. Außerhalb der Grenzen eines Staates habe seine Regierung keine Verpflichtungen und auch keine Rechte zum Eingriff. Wie kann es sein, dass schon mehrmals in der Geschichte humanitäre Interventionen durchgeführt und im Nachhinein gerechtfertigt wurden, ohne dass ein UN-Mandat vorlag, wie z.b. im Kosovo 1999? Wer ist überhaupt der Sicherheitsrat? Der Sicherheitsrat ist heutzutage einer der mächtigsten politischen Entscheidungsträger auf internationaler Ebene. Er besteht aus 15 Mitgliedern, von denen nur die fünf führenden Staaten USA, Großbritannien, China, Russland und Frankreich einen ständigen Sitz beanspruchen. Diese
fünf haben ein Veto-Recht, mit dem sie politische Entscheidungen lähmen können. So ist zum Beispiel zu bedenken, dass niemals eine Resolution gegen eines dieser Länder möglich wäre, da es selbst ein Veto einlegen würde. Des Weiteren ist bedenklich, dass diese fünf Staaten heutzutage die ganze Weltgemeinschaft repräsentieren sollen. Sicherlich kann sich auch der UN-Sicherheitsrat nicht davon freisprechen, politisch zu handeln und parteiisch zu agieren. Die Frage ist deshalb, wer die Bevölkerung vor den Entscheidungen der UN schützen kann. Eine weitere wichtige Frage ist, ob und wann eine militärische Intervention überhaupt gerechtfertigt sein kann. Waren in Libyen die Fakten so evident, dass ein völkerrechtlicher Eingriff legitimiert werden kann? Und ist ein solcher Eingriff legitim, wenn nur eine Seite zweier Konfliktparteien unterstützt wird? Ein Zuschauer fragt weiterhin, was die Welt ohne Völkerrecht wäre. Rausch antwortet u. a., dass man sich nur die Zustände vor 1945 anschauen müsse, bevor die Vereinten Nationen geschaffen wurde. Hätte man das Völkerrecht nicht, wäre es nach wie vor für jeden Staat legitim, Gewalt anzuwenden und militärische Angriffe ohne rechtliche Grundlage durchzuführen. Mehrere Diskussionsteilnehmer äußerten Bedenken hinsichtlich der Auswahl der mandatierten Eingriffe. Warum wurde gerade eine Intervention in Libyen legitimiert, wo doch noch vor einigen Jahren Machthaber Gaddafi hofiert und mit Gütern unterstützt worden ist? Warum greift man nicht auch in anderen Staaten wie z.b. Bahrain ein? Wer stellt fest, wann und wo ein Verbrechen vorliegt oder nicht? Der Sicherheitsrat der UN hat eine gewaltige politische Entscheidungsgewalt. Ist das gerechtfertigt? Warum können gerade diese fünf ständigen Mitglieder plus zehn temporär wechselnde entscheiden, was rechtens ist und was nicht? Zu bedenken hierbei sind auch vermeintliche Fakten, die von Staaten als Rechtfertigung für Resolutionen der UN herangezogen werden. Wir alle kennen historische Beispiele, in denen Fakten fingiert waren und nur dazu dienten, vor einem Eingriff oder sogar post facto eine Intervention zu legitimieren. Ist bei unklarer Tatsachenlage ein Eingriff gerechtfertigt? Und kann man einer solchen Institution nach Glauben schenken? Ist das Konzept der UN vielleicht obsolet und es muss eine andere Lösung geben? Fotos von Silja Fischer