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Transkript:

WIENAND S KLEINE REIHE DER KÜNSTLERBIOGRAFIEN Annegret Hoberg WEITERE TITEL: ALEXEJ JAWLENSKY KÄTHE KOLLWITZ MAX LIEBERMANN AUGUST MACKE PAULA MODERSOHN-BECKER EGON SCHIELE GABRIELE MÜNTER Wienand

Inhalt Malerin des Expressionismus 5 Herkunft und Jugend 7 Die Reise nach Amerika 11 Studium in München 16 Unstetes Wanderleben 24 Künstlerische Befreiung in Murnau 29 Im Kreis des Blauen Reiters 48 Letzte Jahre mit Kandinsky 57 In Skandinavien Erfolg und Einsamkeit 63 Die 1920er-Jahre München, Murnau, Köln und Berlin 74 Wieder in Murnau ein neuer Lebensgefährte 84 Die letzten Lebensjahrzehnte 90 EXKURSE Das Münter-Haus in Murnau 32 Volkskunst und Hinterglasmalerei 44 Die Schenkung an das Lenbachhaus 88

Gottes Funke steckt in Dir, was so unglaublich selten bei den Malern zu finden ist. Und Deine äußere Begabung reicht doch genügend aus. Deine wiegende Linie und der Farbensinn! Malerin des Expressionismus Gabriele Münter ist neben Paula Modersohn-Becker die herausragende Künstlerin des Expressionismus in Deutschland. Als Mitbegründerin des Blauen Reiters fand sie den Durchbruch zu einer neuartigen, spontanen Malerei. Ihre Bilder sind von zwingender innerer Vorstellung und Anschauungskraft, Unmittelbarkeit der Ausführung und kühner Farbenpracht, wobei sie sich verschiedener Ausdrucksmittel von gegenständlich bis abstrakt bedient, um nur das Notwendige stark zum Ausdruck zu bringen, wie Wassily Kandinsky es formulierte. Selbstporträt mit Hut, 1909, Öl auf Leinwand, 76,2 58,4 cm Wassily Kandinsky an Gabriele Münter, Moskau, November 1915

spontanem Duktus zunächst Ansichten des Ortes, wenig später der näheren Umgebung mit dem Murnauer Moos und der Alpenkulisse. Ihre Malereien dieser Periode sind herausragende Beispiele für die frühen Schwellenbilder am Beginn einer neuartigen, expressiven Umsetzung des Naturvorbilds und geben die bunten Häuser von Murnau in überwältigender Farbexplosion wieder. In keiner Phase stehen sich Münter und Kandinsky in der künstlerischen Handschrift so nahe wie in den Murnauer Ansichten der ersten Zeit. Auch in Münters Blick aufs Murnauer Moos herrscht eine für das damalige Kunstempfinden kühne Farbigkeit, mit sparsam verteilten Violett-, Blau- und ungemischt nebeneinandergesetzten Grüntöne zieht die Künstlerin eine Art Essenz aus den landschaftlichen Grundelementen, die sie durch einfache schwarze Linien voneinander abgrenzt. Über den intensiven Austausch gerade auch mit Jawlensky während des ersten Murnauer Aufenthalts hat Münter in ihrem Tagebuch von 1911 rückblickend berichtet. Darin schildert sie die kollegiale Zusammenarbeit mit Jawlensky, der ihre Arbeiten mit Korrekturen und Ermunterungen begleitet. Von Jawlensky lernt Münter bald, ihre Bildelemente in größeren Farbflächen zusammenzufassen und mit schmalen dunklen Konturen zu umgeben, um sie für eine ausdrucksstarke Synthese der Komposition miteinander zu verspannen. Sie entrümpelt ihre Palette noch weiter, dabei stehen in ihren Bildern starke Farben häufig rein und ungemischt in kühner Direktheit nebeneinander, auch warme und kalte Töne der gleichen Farbe, etwa Krapplack- und Zinnoberrot, Ultramarin- und Preußischblau. Blick aufs Murnauer Moos, um 1910, Öl auf Malpappe, 34 42,5 cm Klarheit und Einfachheit. Über ihren ersten Murnauer Aufenthalt 1908 hat sich Münter in ihren Erinnerungen immer wieder begeistert geäußert. So schreibt sie unter anderem: Die erste Studienzeit dort, im Spätsommer 1908, war ich voll den Bildern des Ortes und der Lage und warf sie hin auf Pappen von 31 x 33 cm. Immer mehr erfaßte ich die Klarheit und Einfachheit dieser Welt. Besonders bei Föhn standen die Berge als kräftiger Abschluß im Bilde, schwarzblau. Dies war die Farbe, die ich am meisten liebte. 30 31

Bildnis Marianne von Werefkin, 1909, Öl auf Pappe, 81 55 cm GRÜNDUNG EINER NEUEN KÜNSTLERVEREINIGUNG Es war eine schöne, interessante, freudige Arbeitszeit mit viel Gesprächen über Kunst mit den begeisterten Giselisten. [ ] Wir alle 4 strebten sehr u. jeder einzelne entwickelte sich. Gabriele Münter, Tagebuch, 1911 Während der produktiven Arbeitswochen im Spätsommer 1908 fährt Kandinsky für kurze Zeit von Murnau nach München, um eine Wohnung in der Ainmillerstraße in Schwabing zu mieten und damit endlich einen gemeinsamen Haushalt mit Ella einzuleiten. Doch nach der Rückkehr in die Stadt wohnt Münter noch ein ganzes weiteres Jahr, bis Herbst 1909, in der Pension Stella in der Adalbertstraße in Schwabing, wo sie einige Häuser weiter ein kleines Atelier unterhält. Währenddessen setzt sich zu Beginn des Jahres 1909 in München der produktive Austausch in häufigen Kunstdiskussionen mit den Kollegen im Salon der Giselisten v in der Schwabinger Giselastraße fort. Hier wird die Idee geboren, eine neue, fortschrittliche Künstlervereinigung ins Leben zu rufen. Die Gründungsurkunde der Neuen Künstlervereinigung München (NKVM) vom 22. Januar 1909 ist von Münter handschriftlich abgefasst. Zu den ersten Mitgliedern gehören neben ihr selbst Kandinsky, Jawlensky, Werefkin, Adolf Erbslöh, Alexander Kanoldt sowie v Der SALON DER GISELISTEN wurde nach der Wohnung von Marianne von Werefkin und Alexej Jawlensky in der Giselastraße im Münchner Künstlerviertel Schwabing benannt. Hier empfingen sie bereits seit 1900 Künstlerfreunde und richteten ein Farblabor ein. Die große Zeit des Salons als Treffpunkt der progressiven Kunstszene Münchens und vieler auswärtiger, besonders osteuropäischer Besucher, wie Sergei Djagilew, fällt in die Zeit um 1909 bis 1914. Das Bildnis der Marianne von Werefkin entstand im Frühsommer 1909 zur gleichen Zeit wie Münters berühmtes Bild Jawlensky und Werefkin auf der Wiese Werefkin trägt sogar den gleichen Hut wie auf der Wiese. Münter verrät in einer ihrer verstreuten Notizen: Die Werefkina malte ich 1909 vor dem gelben Sockel meines Hauses. Sie war eine pompöse Erscheinung, selbstbewusst, herrisch, reich gekleidet, mit einem Hut wie ein Wagenrad, auf dem allerhand Dinge Platz hatten. 34 35

Kandinsky im Garten des Murnauer Hauses, um 1910/11 Jawlensky und Werefkin auf der Wiese, 1909, Öl auf Pappe, 32,7 44, 5 cm Wladimir von Bechtejeff, Erma Bossi, Moissey Kogan, Alfred Kubin und der mit Kandinsky befreundete russische Komponist Thomas von Hartmann. Im Dezember 1909 findet dann erstmals eine Ausstellung der Neuen Künstlervereinigung München in der Galerie Heinrich Thannhauser in München statt, wobei Münter mit der relativ hohen Anzahl von zehn Gemälden, überwiegend neue Landschaften und Stillleben, und neun Druckgrafiken vertreten ist. Neben dem Begriff der Synthese ist es die Verschmelzung von Eindrücken der äusseren mit einer inneren Welt, die Kandinsky in seinem Katalogvorwort als entscheidendes Stichwort für die Eigenart der neuen Malerei gibt. Dies gilt gerade auch für Münters Kunst und ihre Umwandlung des Naturvorbilds in eine persönliche und expressive Darstellung. In einem seiner Texte über die NKVM charakterisiert Kandinsky einzelne Künstler und schreibt dabei: Münter eine Welt düsterer Einfachheit, die ins Unbestimmte schaut oder plötzlich einen lustvollen Beiklang im Leben der toten Sachen offenbart. Kandinsky Leben des Entkörperten. ZWEI BERÜHMTE BILDER Vor der ersten Ausstellung der NMKV sind Münter und Kandinsky ab Frühjahr 1909 mit Jawlensky und Werefkin wieder in Murnau. Erneut widmet sich Münter mit großer Intensität den verschiedensten Motiven, nun treten auch Porträts der Freunde hinzu, die mit ihren starken, das Naturvorbild weit überschreitenden Farben und kompromissloser Einfachheit verblüffen. Im Juni 1909 ziehen Münter und Kandinsky innerhalb von Murnau um, zu Xaver Streidl in die neugebaute Villa, in die sich Kandinsky auf den ersten Blick verliebt hat. Dieser Liebe ist er treu geblieben. Es gab hin und her überlegen er bearbeitete mich etwas im Spätsommer war die Villa gekauft von Frl. G. Münter. Diese oft zitierte Tagebuchaufzeichnung Münters von 1911 hat ungewollt eine der vielen späteren Legenden über ihr Verhältnis mit Kandinsky befestigt: Die Ansicht, Kandinsky habe als heimatloser Russe auf ihre Kosten gelebt. Beide Künstler leben jedoch während ihres Zusammenseins jeweils von einer Art Leibrente aus ihren familiären Vermögen, die in beiden Fällen nicht üppig war. Während Münters Erbe von ihrem Bruder Carl in Bonn verwaltet wird allerdings durch dessen leichtsinniges Verschwenden ab 1913 mehr schlecht als recht, bezieht Kandinsky Einnahmen aus der Vermietung eines eigenen Wohnhauses in Moskau und Zuwendungen seiner geschiedenen, in großbürgerlichen Verhältnissen lebenden 36 37

ausgesprochenen Trennung zu beenden. Im November 1914 trennen sich beide in Zürich. Nach sechswöchiger Reise schreibt Kandinsky am 25. Dezember 1914 aus Moskau: Das Briefchen, das du mir vor der Abreise gabst, habe ich freilich gelesen. Ich möchte dir helfen und dir Freude machen. Oft denke ich daran, wie einsam du geblieben bist, und es tut mir sehr weh. Es scheint mir aber doch, daß die von mir vorgeschlagene Form die beste ist: Die letzte Zeit habe ich viel neue graue Haare bekommen und tatsächlich war nicht die Reise daran schuld. Das Gewissen drückt mich. Ebenso das Bewußtsein, daß vieles, was ich tun sollte, außer Möglichkeit für mich steht: gegen meine Grundnatur kann ich nichts machen. Aber Zeit bringt Rat. Das unwillkürlich lange Auseinandersein wird sicher in manches Klarheit bringen. Münter ihrerseits kehrt zu Beginn des Jahres 1915 von Zürich nach München zurück, beginnt voll Ungeduld die Wohnung in der Ainmillerstraße aufzulösen und den Hausrat und die Bilder in einer Münchner Spedition einzulagern. Im Frühling 1915 verschließt sie auch das Murnauer Haus, da sie es kaum abwarten kann, nach Stockholm abzureisen, um Kandinsky im neutralen Ausland wiederzutreffen. Dieses Versprechen hatte sie ihm beim Abschied abgerungen. Die vielen erschütternden Briefe, die Münter in den nächsten Monaten aus Stockholm an Kandinsky schreibt, geben einen tiefen Einblick in ihre verzweifelten Versuche, die Beziehung aufrechtzuerhalten oder auch einzuklagen. Kandinsky wiederum versucht ein ums andere Mal, sich gegen ihre Vorwürfe zu verwahren und macht auch monatelang keine Anstalten, sein Versprechen bezüglich des Treffens einzulösen. Münters gesamter Aufenthalt in Skandinavien, zunächst bis November 1917 in Schweden, anschließend bis Februar 1920 in Dänemark, wird von ihrer enttäuschten Liebe zu Kandinsky überschattet sein, ihrer Einsamkeit und der endgültigen Trennung von dem Gefährten, der 1917 die Verbindung abbrechen lässt und in Moskau die junge Russin Nina Andrejewskaja heiratet. Bei der Schleuse Stockholm, 1916, Kaltnadelradierung auf Zink, 7,4 9,9 cm EINTAUCHEN IN DIE STOCKHOLMER KUNSTSZENE Zunächst jedoch trifft Münter voll neuer Hoffnung in Stockholm ein und mietet sich ab 20. Juli 1915 in einer Pension am Stureplan 2 ein. Das helle, freundliche Zimmer an einem zentralen Platz mitten in der Stadt und die freudige Entdeckung von Stockholm heben ihre Laune. Über den positiven Eindruck der schwedischen Kapitale schreibt sie noch fast 40 Jahre später an die schwedische Künstlerkollegin Lilly Rydström-Wickelberg: Ich war erstaunt und begeistert darüber, daß ich hier im hohen Norden, von dem ich nur geringe Kenntnisse hatte, eine so wunderbar gelegene und schöne Stadt fand. Hier fühlte ich mich sofort freundschaftlich und wohlwollend empfangen. Münter und die Gruppe des Blauen Reiters waren zu diesem Zeitpunkt in Schweden keine Unbekannten mehr. Unter anderem hatte der Berliner Galerist Herwarth Walden die letzten Stationen der seit 1912 auf Tournee befindlichen Blauen-Reiter-Ausstellung in Malmö und 64 65

Die Schenkung an das Lenbachhaus Als der Kunsthistoriker und Museumsangestellte Hans Konrad Röthel 1956 zum ersten Mal Münters Bilderbestand in Murnau ansehen durfte, ahnte er nicht, welch ungeheuren Schatz sie hier bewahrte. Anlässlich ihres 80. Geburtstags im Februar 1957 stiftete Gabriele Münter ihren unermesslichen Bilderbesitz und viele Werke ihrer eigenen Hand der Städtischen Galerie im Lenbachhaus in München. Die Schenkung umfasste allein über 90 Ölbilder von Wassily Kandinsky, mehr als 300 seiner Aquarelle und Zeichnungen, 29 Skizzenbücher, 24 Hinterglasbilder, kunstgewerbliche Arbeiten und fast das gesamte druckgrafische Werk Kandinskys. Dazu schenkte Münter 25 Gemälde ihrer eigenen Hand, über 200 Aquarelle und Zeichnungen, 7 Skizzenbücher und ihr komplettes druckgrafische Werk. Darüber hinaus enthielt die Schenkung zahlreiche Werke der Künstlerfreunde des Blauen Reiters, wie Franz Marc, Alexej Jawlensky, Marianne von Werefkin, August Macke, Paul Klee und Alfred Kubin. Gartenfront des Lenbachhauses, München Mit dieser überaus großherzigen Schenkung hat Gabriele Münter nicht nur das Lenbachhaus gleichsam über Nacht zu einem Museum von internationalem Rang gemacht, das seitdem die weltweit größte Sammlung zum Blauen Reiter beherbergt. Sie hat damit auch maßgeblich zur Rezeption der Kunst des Blauen Reiters nach dem Zweiten Weltkrieg und bis heute beigetragen. Gabriele Münter vor der Städtischen Galerie im Lenbachhaus, München, 1934 Nach ihrem Tod im Jahr 1962 wurde zudem ihre zweite, langfristig vorbereitete Stiftung etabliert, die Gabriele Münter- und Johannes Eichner-Stiftung, die ihren restlichen Nachlass, das heißt zahlreiche weitere eigene Bilder, ihre und Kandinskys Hinterglas- und Volkskunstsammlung, die gesamte Korrespondenz, Manuskripte und Fotos sowie das Haus in Murnau enthält. Nirgendwo kann man deshalb die Geschichte des Blauen Reiters so gut studieren wie im Münchner Lenbachhaus und im Münter-Haus in Murnau, die zu Stätten des Blauen Reiters geworden sind, so wie Gabriele Münter es gewollt hat. 88 89