Es gilt das gesprochene Wort! Eröffnungsrede von Olaf Scholz, Bundesminister für Arbeit und Soziales anlässlich der ESF-Jahreskonferenz Chancen schaffen für junge Menschen am 5. Mai 2009 in Berlin Sehr geehrte Damen und Herren, ich begrüße Sie herzlich auf der Jahreskonferenz des Europäischen Sozialfonds in Deutschland. Im letzten Jahr konnte ich mit dem europäischen Kommissar für Beschäftigung, Herrn Spidla, hier in Berlin den Startschuss für die neue Förderperiode des Europäischen Sozialfonds in Deutschland geben. Heute ist erstmals Gelegenheit zu schauen, was wir in den letzten Monaten angeschoben haben. Planung und Umsetzung der ESF-Programme und Projekte sind in vollem Gange. Bei allen steht im Mittelpunkt, Beschäftigung zu sichern und neue zu schaffen, soziale Eingliederung voranzubringen und damit auch unsere Wettbewerbsfähigkeit zu stärken. Die heutige Veranstaltung ist der Auftakt einer Reihe thematischer Konferenzen, die jeweils zentrale Themenfelder des Europäischen Sozialfonds herausgreifen. Unser heutiges Thema lautet Chancen schaffen für junge Menschen. Hier liegt zu Recht ein Schwerpunkt der zahlreichen ESF-Programme, die in Deutschland umgesetzt werden. Denn jungen Bürgerinnen und Bürgern einen guten Start ins Leben zu ermöglichen, ist eine Voraussetzung für gerechte Teilhabe dafür dass jeder sein Leben später selbstbestimmt in die Hand nehmen kann. Wir wollen jedem die gleiche Chance geben, seine Fähigkeiten und Talente zu entwickeln. Keinen zurückzulassen ist ein Gebot sozialer Gerechtigkeit. Es ist aber auch ein Gebot wirtschaftlicher Vernunft. Denn, meine sehr geehrten Damen und Herren, die Zukunft gehört in Deutschland und Europa der qualifizierten Arbeit. Der Bedarf an niedrigqualifizierten Arbeitskräften wird auch zukünftig weiter zurückgehen. Gleichzeitig
- 2 - verändert sich die Altersstruktur unserer Gesellschaft: Immer weniger junge Bürgerinnen und Bürger werden in den kommenden Jahrzehnten die allgemeinbildenden, Berufs- und Hochschulen verlassen. Wir können es uns also auch schlicht nicht leisten, das Können und das Talent auch nur eines Einzigen brachliegen zu lassen. Wenn wir diese Erkenntnis nicht ernst nehmen, werden wir unsere Wettbewerbsfähigkeit, den sozialen Zusammenhalt, kurzum: die Zukunft unseres Landes und Europas nicht sichern können. Deswegen müssen wir jedem eine Chance geben und wenn es nötig wird auch eine zweite oder dritte: Chancen auf einen Schulabschluss, Chancen auf eine Berufsausbildung, Chancen auf Weiterbildung und Qualifizierung und letztlich Chancen auf gute, existenzsichernde Arbeit. tatsächlich sind die Aussichten junger Bürgerinnen und Bürger auf eine existenzsichernde Arbeit in Deutschland besser als in einigen anderen auch europäischen Staaten. Besser heißt jedoch noch längst nicht gut: Im letzten Jahr waren immer noch rund 7 Prozent aller Jugendlichen unter 25 Jahren arbeitslos. Die Zahl ist in den letzten Jahren kontinuierlich gesunken. Da hat zum einen die gute konjunkturelle Entwicklung geholfen. Aber auch die erheblichen Anstrengungen der Bundesregierung für junge Bürgerinnen und Bürger haben Wirkung gezeigt. Im Ausbildungspakt mit den Sozialpartnern haben wir die Schaffung vieler Ausbildungsplätze sichern können. Jedem Jugendlichen, der nach einem Ausbildungsplatz gesucht hat und der das nötige Rüstzeug mitgebracht hat, konnte so im Jahr 2008 ein Angebot gemacht werden. Gemeinsam mit den Unternehmen und den Gewerkschaften müssen wir jetzt alle Anstrengungen unternehmen, damit wir uns auch in der Krise die Zukunft nicht verbauen. Die Zielmarke muss sein, auch in diesem Jahr wieder über 600.000 Ausbildungsverträge zu schließen. Auch für diejenigen, die schon seit einem oder mehr Jahren vergeblich auf der Suche sind und die Hoffnung fast aufgegeben haben, müssen wir Perspektiven eröffnen. Nur weil es aus den verschiedensten Gründen im ersten Anlauf nicht geklappt hat, sind das nämlich keineswegs
- 3 - hoffnungslose Fälle, wie der unsägliche Modebegriff der ausbildungsungeeigneten Jugendlichen suggeriert. Wir sollten uns alle einmal zurück erinnern: Hätten Sie sich eingestellt, als sie 15 oder 16 waren? Als junger Mensch hat man doch auch mit vielen anderen Dingen zu kämpfen und das sagt nichts darüber aus, ob man später ein viel gefragter Fachmann oder eine Fachfrau z. B. für Maschinenbau werden kann. Mit dem Ausbildungsbonus sollen deshalb bis 2010 weitere 100.000 zusätzliche Ausbildungsplätze für diese so genannten Altbewerber entstehen. Bis Ende März diesen Jahres hat das bereits rund 13.500 zusätzliche Ausbildungsplätze gebracht. Für ein Instrument, das es erst seit Oktober gibt, ist das eine beachtliche Zahl! trotz dieser Bemühungen liegt noch einiges im Argen. Die Finanzkrise stellt uns vor zusätzliche Herausforderungen: Die Jugendarbeitslosigkeit ist in den ersten Monaten dieses Jahres deutlich gestiegen. Allen ist klar, dass eine gute Ausbildung den nötigen Grundstein für gute Arbeit legt. Und ich habe es schon gesagt auch unsere Wirtschaft ist auf gut ausgebildete, motivierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter angewiesen. Schon jetzt zeichnet sich in einigen Wirtschaftsbereichen ein Fachkräftemangel ab und zwar trotz der Krise! Gleichzeitig bleibt eine erschreckend hohe Zahl von Jugendlichen ganz ohne Berufsausbildung. Jedes Jahr verlassen immer noch 80.000 Jugendliche die Schule ohne Abschluss. Rund 15 Prozent aller Jugendlichen beginnen erst gar keine Ausbildung. Diese Entwicklung gilt es umzukehren! Das ist ein staatspolitisches Versagen, das wir nicht hinnehmen dürfen. Unser Ziel muss es sein, dass mit Anfang 20 jeder eine Berufsausbildung oder das Abitur als Eintrittskarte in das Berufsleben in der Tasche hat.
- 4 - Es gibt viele, sehr unterschiedliche Gründe, warum es mit der Ausbildung nicht klappen kann. Wir müssen da genau hinsehen: Immer noch spielt in Deutschland Bildung und soziale Stellung der Familie eine viel zu große Rolle für den Schulerfolg. Junge, alleinstehende Frauen mit Kindern z.b. stoßen auf besonders hohe Hürden. Auch junge Migrantinnen und Migranten haben mit besonderen Schwierigkeiten zu kämpfen: Rund 40 Prozent aller jungen Bürgerinnen und Bürger ohne deutschen Pass haben keinen Berufsabschluss. Da schlummert ein riesiges Potenzial an Arbeitskräften, das uns verloren geht. Das darf nicht sein! Was heißt das für die Politik? Erst einmal, dass es keine einfachen Lösungen geben kann wir brauchen unterschiedliche und sehr individuelle Lösungsansätze. Ein Punkt, an dem sich viel entscheidet, ist der Übergang von der Schule in Ausbildung. Im Februar haben wir deshalb ein Modellprojekt auf die Beine gestellt: An 1.000 Modellschulen werden schwächere Schüler von Berufseinstiegsbegleitern beraten und intensiv begleitet, damit der erste Schritt in die Berufswelt vom Stolperstein zum Sprungbrett wird. Denn es ist immer die beste Lösung, den Zug so früh wie möglich aufs richtige Gleis zu setzen. Aber auch wenn es mit dem Schulabschluss nicht gleich geklappt hat, darf das nicht aufs Abstellgleis führen. Deswegen gibt es jetzt ein Recht, sich auf das Nachholen des Hauptschulabschlusses vorzubereiten und zwar ein Leben lang, egal ob mit 22 oder 52. Die Förderprogramme des Europäischen Sozialfonds folgen der gleichen Logik: Für vielschichtige Schwierigkeiten, die im Weg stehen können, müssen passgenaue Lösungsansätze gesucht werden. In der laufenden Förderperiode bis 2013 wird der Bund rund 600.000 Jugendliche mit Mitteln des Europäischen Sozialfonds dabei unterstützen, sich gut auf das Arbeitsleben vorzubereiten und hoffentlich dauerhaft Fuß zu fassen. Zusammen mit den ESF-Programmen der Bundesländer werden wir sogar über 3 Millionen Jugendliche deutschlandweit erreichen. Das sind beeindruckende Zahlen. Wir können mit den ESF-Mitteln eine Menge bewegen: Es gibt Programme zur Unterstützung beim Schulabschluss, andere, die bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz helfen
- 5 - und solche, mit denen neue Wege für den Übergang in Beschäftigung beschritten werden, Programme für bestimmte Zielgruppen in Regionen mit spezifischen Problemlagen und mit ganz unterschiedlichen Partnern. Wir brauchen diese Vielfalt, um möglichst alle Jugendlichen zu erreichen, die eine helfende Hand oder Ansporn auf ihrem Weg brauchen. An dieser Stelle möchte ich deshalb auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus dem Bildungs-, dem Familien-, dem Verkehrs- und Wirtschaftsministerium danken, die heute anwesend sind und deren Ressorts neben dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales ebenfalls aktiv an der Umsetzung von ESF-Programmen beteiligt sind. wir können mit den Aktivitäten des Europäischen Sozialfonds neue Wege beschreiten bessere und wirksamere Lösungen finden. Einige Programme sind deshalb bewusst als Experimentierfelder angelegt, in denen quer gedacht wird, in denen unterschiedliche Akteure zusammenarbeiten, in denen ausprobiert und getestet werden kann. Das Programm Integration durch Austausch, kurz IdA, ist so ein Beispiel: Im Sommer starten bundesweit 73 Projekte, in denen Jugendliche, arbeitslose junge Erwachsene und junge Alleinerziehende in europäischen Austauschprojekten praktische Job- Erfahrungen sammeln werden. Sie stärken ihre Fremdsprachenkenntnisse sowie ihre sozialen und beruflichen Kompetenzen. Diese Erfahrung und das Sich-Behaupten in einem fremden Lernumfeld werden diesen jungen Leuten neue Motivation geben, ihren Ehrgeiz wecken und ihr Selbstbewusstsein stärken. Das ist die halbe Miete, um auch auf dem heimischen Arbeitsmarkt Erfolg zu haben. Um das auf die Beine zu stellen, haben ganz unterschiedliche Institutionen ihr Know-how und ihre Erfahrungen zusammen getan: Kommunale Träger arbeiten mit Arbeitsagenturen, Bildungsträgern, Wohlfahrtsverbänden, mit Kammern, Betrieben und Vereinen zusammen. Den Jugendlichen eröffnen sich neue Perspektiven und die eingebundenen Organisationen lernen durch den Erfahrungsaustausch und neue Kontakte.
- 6 - über Jugendarbeitslosigkeit wird oft sehr technisch gesprochen. Wir reden von Prozentzahlen, Statistiken und Umfragewerten. Hinter jeder Zahl steckt allerdings auch ein junger Bürger oder eine junge Bürgerin mit Stärken und Schwächen, mit Wünschen und Ängsten. Deren Blickwinkel müssen wir immer mitdenken, wenn wir etwas bewegen wollen. Ich möchte daher die jungen Leute, die heute den Weg hierher gefunden haben, besonders herzlich begrüßen. Wie Sie bereits bei Ihrer Ankunft sehen konnten, ist im Foyer eine Ausstellung aufgebaut, die das Leben der Anne Frank dokumentiert. Die Jugendlichen aus Thüringen, die heute bei uns sind, haben eine Schulung zum Ausstellungsbegleiter oder zur Ausstellungsbegleiterin absolviert gefördert durch den Europäischen Sozialfonds übrigens. Sie können Ihnen eine Menge über die Inhalte und die Konzeption der Ausstellung erzählen. Sehr geehrte Damen und Herren, wir lernen in der Schule, im Ausbildungsbetrieb und an den Unis. Aber längst nicht nur. Lernen findet an vielen anderen Orten in der Gesellschaft statt: Im Jugendclub, im Sportverein, in Freizeiteinrichtungen überall dort, wo Jugendliche in ihrer freien Zeit hingehen, um Freunde zu treffen und Zeit zu verbringen. Wenn wir von besseren Bildungschancen gerade für benachteiligte Jugendliche und wenn wir von der Vermittlung wichtiger Kompetenzen für das Arbeitsleben sprechen, dann müssen wir diese Lernorte mit in den Blick nehmen. Wir brauchen Angebote neben Schule und Ausbildung. Viele erreichen wir erst, wenn wir diesen Lebens- und Freizeitraum junger Bürgerinnen und Bürger einbeziehen. Das Lernen im sozialen Umfeld ist deshalb ein zweiter Schwerpunkt dieser Konferenz. Da liegt übrigens auch ein erhebliches Potenzial für interkulturelles Lernen, das wir bergen müssen. Insbesondere für Migrantinnen und Migranten ist die Identitätsfindung, die Bestimmung der eigenen Position in einer globalisierten, Welt, in der sich Kulturen vermischen, essenziell. Nur wenn das gelingt, werden sie erfolgreich den Weg in die Arbeitswelt gehen können.
- 7 - ein afrikanisches Sprichwort besagt: Um ein Kind zu erziehen, braucht es ein ganzes Dorf. Oder anders: Um die Chancen für junge Bürgerinnen und Bürger auf dem Weg ins Berufsleben zu verbessern, müssen wir alle gemeinsam anpacken: Es ist die Aufgabe der Politik, die richtigen Weichen zu stellen. Aber allein werden wir nicht weit kommen. Es ist gut, dass wir auf eine lebendige Tradition der Sozialpartnerschaft, der Zusammenarbeit mit Verbänden und Initiativen zählen können. Wenn der Europäische Sozialfonds diese vielen unterschiedlichen Akteure noch einmal mehr an einen Tisch bringt, hat er sehr viel geleistet. Die Ideen und Konzepte, die da zustande kommen, sind ein großer Gewinn. ich wünsche allen Beteiligten in diesem Sinne eine erfolgreiche ESF-Jahreskonferenz mit vielen spannenden Gesprächen. Vielen Dank!