Predigt am 18. Sonntag nach Trinitatis, 15. Oktober 2017, Christuskirche Rom. Jens Schröter

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Transkript:

Predigt am 18. Sonntag nach Trinitatis, 15. Oktober 2017, Christuskirche Rom Jens Schröter Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserm Vater und unserm Herrn Jesus Christus. Amen. Ich grüße Sie herzlich, liebe Gemeinde, zu diesem besonderen Gottesdienst hier in der Christuskirche. Wie immer bin ich sehr gerne bei Ihnen, wie immer bin ich auch Pfarrer Kruse sehr verbunden für die herzliche Aufnahme und für seine freundliche Bereitschaft, mich an diesem Gottesdienst teilhaben zu lassen und sogar dazu beitragen zu dürfen zu einem Gottesdienst, der uns die Musik der evangelischen Tradition nahebringt und nicht nur das: dieser Konzertgottesdienst schaut darüber hinaus auf die Musik überhaupt als Bestandteil unseres Glaubens an Gott, sein Wort und seine Vergebung. Wir haben die Rhein-Main-Vokalisten unter ihrem Leiter Jürgen Blume schon gehört, mit Stücken aus verschiedenen Epochen der Musikgeschichte und wir werden sie auch später noch hören. Dabei wurde deutlich: Es geht um die Bedeutung der Musik für die Reformation und wir sind hier in Rom auch der Gegenreformation. Es ist vorhin ein Lied von Johannes Leisentritt erklungen, einem römisch-katholischen Geistlichen des 16. Jahrhunderts aus der Lausitz. Leisentritt hatte das erste katholische Gesangbuch zusammengestellt und dafür etliche Lieder selbst verfasst, aber auch viele aus der evangelischen Tradition aufgenommen. Ja, nicht nur der evangelische Glaube lebt aus der Musik, der römisch-katholische 1

tut es auch, und er hat sich nicht zuletzt in Reaktion auf die Reformation auf das große christliche Erbe der Musik besonnen und daran angeknüpft. Wir sehen: Musik gehört zu den Glaubensformen, die für das 16. Jahrhundert von grundlegender Bedeutung waren. Im frühen 16. Jahrhundert war ein regelrechter Aufbruch zu spüren hin zu intensiven Formen des Glaubenslebens. Auch die Reformation war zu einem wichtigen Teil eine Frömmigkeitsbewegung. Die Menschen wollten den Glauben ganz unmittelbar erleben, die Gnade Gottes in ihr Leben hineinholen, damit Sünde, Tod und Teufel sie nicht länger quälen konnten. Den Reformatoren war das sehr bewusst. Und so schickten sie sich an, den Glauben erfahrbar zu machen, ihn den Menschen nahezubringen, damit sie darin Trost finden und aus ihm Hoffnung schöpfen für ihren oft harten Alltag. Martin Luther hat es sich in besonderer Weise angelegen sein lassen, den Glauben an Gott und seine Gnade, die er den Menschen ganz ohne deren Verdienst zuwendet, konkret erfahrbar werden zu lassen. Seine Bibelübersetzung ist dafür ein berühmtes Beispiel. Eingängig sollte sie klingen, damit den Menschen die biblische Botschaft verständlich wird. Seine Verdeutschung der Bibel ist bis heute prägend, etwa bei den Psalmen, wir werden davon gleich noch hören. Aber auch in seinen Gebeten, in den Katechismen und eben in seinen Liedern hat er den christlichen Glauben so ausgelegt, dass er den Menschen eine Hilfe ist, Halt und Orientierung in ihrem Leben zu finden. Das Vaterunser hat Luther nicht nur in seinen Katechismen erklärt, sondern es auch vertont, wir werden es später noch singen. Im Gefolge Luthers hat sich eine große Tradition geistlicher Musik im evangelischen Glauben entwickelt: Heinrich Schütz, Johann Walter, Paul Gerhardt, Johann Sebastian Bach, Felix Mendelssohn-Bartholdy gehören zu den großen Namen evangelischer 2

Musiker, die an Luthers Bibelübersetzung angeknüpft haben, seine Vertonungen aufnahmen und sie weiterführten. In ihren Werken kommt der Text der Lutherbibel zum Klingen etwa in den Liedern von Johann Walter und Paul Gerhardt, in Bachs Vertonung der zehn Gebote, natürlich in seinen Oratorien und Passionen, aber auch in den Motetten, etwa: Jesu bleibet meine Freude, auch sie werden wir noch hören. Musik das gehört ganz unmittelbar zu unserem Glauben dazu. Sie nimmt uns mit hinein in das Lob Gottes, des mächtigen Königs der Ehren, der alles so herrlich regieret, der auch mich erhält und meinen Stand sichtbar gesegnet hat, so haben zu Beginn unseres Gottesdienstes gesungen. Allein auf Gottes Wort will ich mein Grund und Glauben bauen dichtete Johann Walter, ein etwas jüngerer Zeitgenosse Luthers, in Kahla in Thüringen geboren. Walter ließ sich das Erklingen der Theologie Luthers in Liedern besonders angelegen sein; und so gilt er vielen als der eigentliche Begründer evangelischer Kirchenmusik. In dem Lied, das wir gehört haben, kommt das berühmte reformatorische allein zum Klingen: Allein auf Gottes Wort will ich mein Grund und Glauben bauen. Das soll mein Schatz sein ewiglich, dem ich allein will trauen. ; Allein Christus ist mein Trost, der für mich ist gestorben. Aber natürlich gibt es die Musik zum Lobe Gottes nicht erst seit dem 16. Jahrhundert. Schon die ersten Christen haben in ihren Gottesdiensten gesungen, wir hören davon gelegentlich in den Texten des Neuen Testaments. Das Singen zu Gott und von Gott ist aber auch tief im Glauben Israels an seinen Gott verankert. Die Psalmen sind Lieder, die zum Lobe Gottes oder ihm zur Klage gesungen wurden und die auch in der christlichen Musikgeschichte überaus eindrückliche Vertonungen erlebt haben. Die Beter der Psalmen wenden sich an Gott, um ihn zu loben und 3

ihm zu danken für seine Fürsorge und seinen Schutz aber auch, um ihm ihr Leid zu klagen, ihn um Hilfe zu bitten aus den tiefen Nöten, die sie getroffen haben. Ein großartiges Beispiel ist Psalm 130, Aus tiefer Not schrei ich zu dir. Martin Luther hat diesen Psalm nachgedichtet, sein Lied findet sich in unserem Evangelischen Gesangbuch. Johann Sebastian Bach hat eine Choralbearbeitung dazu komponiert und eine Kantate für den 21. Sonntag nach Trinitatis darüber geschrieben. Später hat dann Felix Mendelssohn Bartholdy die Choralmotette komponiert, die wir vorhin gehört haben. Die Vertonung von Psalm 130 hat auf diese Weise tiefe Spuren in der Musik hinterlassen und das ist alles andere als ein Zufall. Für Luther bringt dieser Psalm in zentraler Weise die Botschaft von der unverdienten Gnade Gottes zum Ausdruck, um die der Mensch nur bitten kann: Aus tiefer Not schrei ich zu dir, Herr Gott, erhör mein Rufen. Dein gnädig Ohr neig her zu mir und meiner Bitt es öffne; denn so du willst das sehen an, was Sünd und Unrecht ist getan, wer kann, Herr, vor dir bleiben? Bei dir gilt nichts denn Gnad und Gunst, die Sünde zu vergeben; es ist doch unser Tun umsonst auch in dem besten Leben. Vor dir niemand sich rühmen kann; des muss dich fürchten jedermann und deiner Gnade leben. 4

Darum auf Gott will hoffen ich, auf mein Verdienst nicht bauen. Auf ihn mein Herz soll lassen sich und seiner Güte trauen, die mir zusagt sein wertes Wort. Das ist mein Trost und treuer Hort; des will ich allzeit harren. Der Bußpsalm bringt die Angewiesenheit des Menschen auf die Zuwendung der Gnade Gottes in besonders eindringlicher Weise zum Ausdruck. Bach hat nicht nur die schon genannte Choralbearbeitung über Aus tiefer Not schrei ich zu dir komponiert, sondern den Psalm auch in der Übersetzung Luthers selbst in einer Kantate vertont. Sie werden sie sicher kennen: Aus der Tiefen rufe ich, Herr, zu dir. Herr, höre meine Stimme! Lass deine Ohren merken auf die Stimme meines Flehens! Wenn du, Herr, Sünden anrechnen willst Herr, wer wird bestehen? Denn bei dir ist die Vergebung, dass man dich fürchte. Ich harre des Herrn, meine Seele harret, und ich hoffe auf sein Wort. Meine Seele wartet auf den Herrn mehr als die Wächter auf den Morgen; mehr als die Wächter auf den Morgen hoffe Israel auf den Herrn! Denn bei dem Herrn ist die Gnade und viel Erlösung bei ihm. Und er wird Israel erlösen aus allen seinen Sünden. 5

Evangelischer Glaube fand und findet in diesem Psalm das Verhältnis des Menschen zu Gott in besonders dichten Worten ausgesprochen: Der Mensch kann nicht bestehen vor Gott, wenn der ihm seine Sünden anrechnen würde. Nur bei Gott ist die Vergebung, auf ihn harrt die Seele, und auf seine Erlösung. Israel, der eigentliche Adressat dieses Psalms, wird von den Reformatoren, wie in der christlichen Tradition der Psalmen und auch der anderen Texte des Alten Testaments überhaupt, auf das geistige Israel bezogen, auf alle also, die an Gott und Jesus Christus glauben. Psalm 130 hat nicht erst im protestantischen Glauben eine besondere Bedeutung erlangt. Er gehört von alters her zum christlichen Stundengebet und wird in der Komplet, dem Nachtgebet, am Mittwoch gebetet. Ein Psalm also, der die christliche Frömmigkeit über die verschiedenen Konfessionen hinweg tief geprägt hat, weil er das Verhältnis des Menschen zu Gott in intensiver Weise schildert. Schon der Beginn dieses Psalms ist ergreifend: Aus der Tiefe ruft der Beter zu Gott, dem Herrn. Um welche Notlage es sich handelt, wird nicht gesagt, aber es ist deutlich: Der Beter befindet sich in einer Situation der Verzweiflung und Verlassenheit. Er weiß sich abgeschnitten von Gott, seinem Halt und Heil; in seiner Verzweiflung wendet er sich an Gott und fleht um Hilfe: Lass deine Ohren merken auf die Stimme meines Flehens. Lass mich nicht allein in meinem Elend, o Gott, bei dir allein ist Hilfe. Jeder Mensch, der hilflos und verlassen ist, sich fern fühlt von Gott und schuldig, kann in den Psalm einstimmen, findet in ihm Worte, mit denen er zu Gott flehen und ihn um Vergebung bitten kann. Der Psalm nimmt unsere ganz persönlichen Nöte und Ängste auf. Jeder von uns kennt Situationen, in denen er sich niedergeschlagen fühlt, Unrecht getan hat und nicht von selbst wieder zurückfindet zu einem fröhlichen, unbeschwerten Leben. Es 6

liegt uns etwas auf der Seele, sagen wir dann und darum geht es auch in dem Psalm: Manchmal sind wir hilflos, bringen unser Leben alleine nicht wieder auf die rechte Bahn; sind darauf angewiesen, Vergebung zu erfahren und Gnade, weil wir uns verfehlt haben. In solchen Situationen wird uns auch deutlich, dass unser Menschsein mehr ist als das, was wir selbst bewerkstelligen können. Wir verdanken uns nicht uns selbst, können uns auch nicht selbst Gerechtigkeit zusprechen oder ein gelungenes Leben garantieren. Wir sind angewiesen auf Gott, der uns annimmt, mit all unseren Fehlern und unserem Versagen, der uns auch dann vor sich gelten lässt, wenn wir uns versündigt haben an seinem heiligen Namen oder an unseren Mitmenschen. Es ist diese Erfahrung, die den Beter rufen lässt: Wenn du, Herr, Sünden anrechnen willst wer wird bestehen? Nach diesem Ruf der Verzweiflung aus den tiefsten Tiefen des Menschseins, in die der Beter sich verstrickt hat, bringt er seine Hoffnung, seine Gewissheit zum Ausdruck, dass Gott ihn erhören wird, dass nur bei Gott die Gnade ist und viel Vergebung bei ihm. Darauf harrt, darauf wartet seine Seele, denn er weiß, dass nur durch Gottes Zuwendung sein Leben wieder heil werden kann. Die entsprechende Arie in Bachs Kantate Meine Seele harret bringt dieses Warten in wunderbarer Weise zum Klingen. Von einem Morgen bis zu dem andern wartet die Seele; sie sehnt sich danach, dass Gott sich ihr wieder zuwenden möge. Und schließlich, am Ende des Psalms, weitet sich die persönliche Erfahrung des Beters aus zu einem Ruf an ganz Israel: Hoffe, Israel, auf den HERRN! Denn bei dem HERRN ist die Gnade und viel Erlösung bei ihm! Israel darf darauf vertrauen, dass Gott sein Volk nicht verlassen, dass er es von seinen Sünden erlösen wird. 7

Die frühen Christen haben die Gnade und Erlösung im Kommen Jesu Christi gesehen. Das Matthäusevangelium deutet den Jesusnamen in dieser Weise: Er soll Jesus heißen, denn er wird sein Volk von seinen Sünden erlösen. Und so wird die Geschichte Jesu hineingeschrieben in die Geschichte Israels, sie wird geglaubt als die Erfüllung der heilvollen Verheißungen Gottes. Bis heute verbinden die Psalmen darum das jüdische Volk mit uns Christen. Christen wie Juden können mit den Betern der Psalmen zu Gott rufen aus der Tiefe ihrer Not; sie können ihn um seine Vergebung bitten, sie können einstimmen in den Dank dafür, dass bei ihm Gnade ist und Vergebung. Aus tiefer Not schrei ich zu dir ein überaus eindrücklicher Psalm. Ein Psalm, der die reformatorische Überzeugung, dass der Mensch angewiesen ist auf die Gnade Gottes, in besonderer Dichte zum Ausdruck bringt. Ein Psalm, der nicht nur im reformatorischen Glauben große Bedeutung erlangt hat. Als Gebet zur Komplet am Mittwochabend ist er allen, die mit der Tradition des Stundengebetes leben, ein biblisches Zeugnis, das unser menschliches Dasein im Angesicht Gottes in all seiner Tiefe bedenkt und die Gewissheit formuliert, dass wir nicht abgewiesen werden, wenn wir uns voller Vertrauen an Gott wenden. Und so nimmt uns dieser Psalm gedichtet in Israel, Bestandteil der jüdischen und der christlichen Bibel, aufgenommen in die Gebetstradition der Christen verschiedener Konfessionen, vielfach und in eindringlicher, bewegender Weise vertont so nimmt uns dieser Psalm mit hinein in das Gebet von Juden und Christen. Er lässt uns vor Gott treten mit all unserem Versagen und unserer Schuld; er lässt uns hoffen und gewiss sein, dass wir bei ihm Erbarmung finden, er lässt uns getröstet sein darüber, dass Gott uns von unseren Sünden erlösen wird. 8

Die Musik etwa diejenige der Rhein-Main-Vokalisten lässt uns auch heute aus den großen und reichen Traditionen des jüdischen und des christlichen Glaubens leben; sie hilft uns dabei, ihre Schätze zu bewahren, wo nötig wieder zu entdecken und darin Trost und Hoffnung für unser eigenes Leben zu finden. Dass es ermutigend ist und heilsam, die Hoffnung auf Gott zu setzen und darum zu wissen, dass wir der heilvollen Gnade Gottes bedürfen das macht unser Leben reich und tief. Es lässt uns auch dann nicht verzagen, wenn die Welt um uns herum versinken will und wir nicht mehr aus noch ein wissen. Denn der Glaube hofft auf den Herrn, mehr als die Wächter auf den Morgen. Amen. Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen. 9