Gerontopsychiatrisch veränderte Menschen im Krankenhaus: Krisenerlebnis oder Chance?

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Transkript:

Gerontopsychiatrisch veränderte Menschen im Krankenhaus: Krisenerlebnis oder Chance? Dokumentation der Fachtagung im Rahmen des BMG-Modellprogramms zur Verbesserung der Versorgung Pflegebedürftiger am 12. Oktober 2005 Internationales Jugendforum Bonn, Gästehaus im CJD Saarbrücken, Dezember 2005

by Institut für Sozialforschung und Sozialwirtschaft (iso), Saarbrücken 2005 Trillerweg 68, D-66117 Saarbrücken, Tel.: 0681-9 54 24-0/Fax: 0681-9 54 24-27 E-Mail: kontakt@iso-institut.de; Internet: www.iso-institut.de Veröffentlichung im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit Redaktionelle Verantwortung: Sabine Kirchen-Peters 0681-95424-25 ISBN 3-935084-20-X

Inhalt 1. Begrüßung RegDir Robert Schüßler, Bundesministerium für 7 Gesundheit und Soziale Sicherung Dr. Daniel Bieber, Institut für Sozialforschung 10 und Sozialwirtschaft e.v. (iso), Saarbrücken 2. Vorträge und Präsentationen 13 Moderation: Dr. Manfred Geiger, Institut für Sozialforschung und Sozialwirtschaft e.v. (iso), Saarbrücken 2.1 Irene Fuhrmann, Deutsche Alzheimer Gesellschaft, Berlin 13 Der Krankenhausaufenthalt gerontopsychiatrisch erkrankter Menschen: Erfahrungen der pflegenden Angehörigen 2.2 Sabine Kirchen-Peters, Institut für Sozialforschung 22 und Sozialwirtschaft e.v. (iso), Saarbrücken Ergebnisse des Modellprojektes Gerontopsychiatrischer Konsiliar- und Liaisondienst Kaufbeuren 2.3 Dr. med. Klaus Nißle; Andreas Eichhorn, Modellprojekt 39 Kaufbeuren Die Bedeutung frühzeitiger Diagnostik und Behandlung 2.4 Maria Mahlberg; Irmgard Ernszt, Modellprojekt Kaufbeuren 55 Die Rolle der gerontopsychiatrischen Pflege und der Ergotherapie 2.5 Prof. Dr. med. Albert Diefenbacher, Ev. Krankenhaus Königin 71 Elisabeth Herzberge, Berlin Konsiliar- und Liaisondienste. Erfahrungen und Perspektiven 3. Podiumsdiskussion: Neue Wege bei der Versorgung 89 älterer Patient/innen im Krankenhaus 4. Schlusswort 104 Sabine Kirchen-Peters, Institut für Sozialforschung und Sozialwirtschaft e.v. (iso), Saarbrücken 5. Anhang (Tagungsmappe) 105 5

1. Begrüßung RegDir Robert Schüßler, Bundesministerium für Gesundheit Sehr geehrter Herr Dr. Bieber, meine sehr verehrten Damen und Herren, ich begrüße Sie ganz herzlich zu unserer heutigen Tagung im Rahmen des Modellprogramms zur Verbesserung der Versorgung Pflegebedürftiger, die das BMG gemeinsam mit dem Institut für Sozialforschung und Sozialwirtschaft durchführt. Erlauben Sie mir zunächst ein allgemeines Wort zum Stand des Modellprogramms. Bereits im letzten Jahr ist die Entscheidung gefallen, die Pflegemodelle nicht mehr im bisherigen Umfang weiter zu führen. Ursache hierfür war in erster Linie, dass innerhalb eines Zeitraums von mehr als drei Legislaturperioden bereits mehrere hundert Modellprojekte gefördert worden sind. Vieles Modellhafte konnte mittlerweile hinreichend erprobt und auch in die Regelversorgung der Pflegeversicherten übernommen werden. Zahlreiche geförderte Projekte haben nicht nur zu einer deutlichen Verbesserung der Pflegepraxis, sondern auch zu einer Ausweitung und Vertiefung der pflegewissenschaftlichen Erkenntnisse geführt. Mittlerweile interessiert sich auch das Ausland für das eine oder andere Pflegemodell. Es wäre wünschenswert, auch in den nächsten Jahren gemeinsam mit dem iso-institut jährlich eine Art Workshop zu einem speziellen Modellthema durchzuführen. Hierfür könnte die heutige eintägige Veranstaltung ein Modell sein. Wenn ich richtig gezählt habe, ist dies heute die 15. Fachtagung, die das Ministerium gemeinsam mit dem iso-institut durchführt. Es ist zugleich die achte Tagung hier in Bonn und außerdem die vierte Veranstaltung, die sich schwerpunktmäßig mit Fragen der dementiell und gerontopsychiatrisch veränderten Menschen befasst. Die Bundesregierung hat bereits im letzten Pflegebericht darauf hingewiesen, dass rund ein Drittel der im Rahmen des Modellprogramms geförderten Vorhaben dem Thema Demenz zugeordnet werden kann. Schon von daher ist es gerechtfertigt, dass derzeit der Schwerpunkt der Tagungen auf dem Thema Demenz liegt. Dementsprechend haben wir zusammen mit dem iso-institut erst jüngst zwei Veranstaltungen zu diesem Thema in Berlin durchgeführt. 7

Bei der ersten Tagung im Herbst 2004, die sich bereits mit neuen Wegen bei der Versorgung der dementiell und gerontopsychiatrisch veränderten Menschen befasst hat, stand die stationäre Versorgung im Vordergrund. Schon dort war der gerontopsychiatrische Konsiliar- und Liaisondienst ein wichtiges Thema. Die zweite Berliner Tagung im Frühjahr 2005 hat sich dann auf die ambulante Versorgung der Demenzkranken konzentriert. Nach dieser breiten Aufarbeitung verschiedener Demenz-Themen werden wir uns heute noch einmal schwerpunktmäßig mit der Versorgung gerontopsychiatrisch veränderter Menschen und insbesondere mit dem in Kaufbeuren erprobten Modell befassen. Dies ist im Übrigen heute nicht die einzige Tagung zum Thema Pflege. Ich erwähne nur die parallel stattfindende 5. Konsensus-Konferenz in der Pflege zum Expertenstandard Kontinenzförderung. Frau Lutter, die im Übrigen bereits in wenigen Wochen in den wohlverdienten Ruhestand gehen wird, nimmt heute an einer anderen Veranstaltung zum Thema Pflege teil. Wir müssen deshalb leider auf ihre Anwesenheit verzichten. Es freut mich, dass unsere Tagung trotz der weiteren Veranstaltungen ein nicht unerhebliches Interesse findet. Bei einem derart speziellen Thema kann man sicherlich nicht mit einer allzu großen Zahl von Teilnehmern rechnen. Der etwas kleinere Rahmen dieser Tagung hat aber durchaus auch Vorteile, denn er wird sicherlich einer relativ hohen Zahl von Personen die Möglichkeit zu einer intensiven Beteiligung an der anschließenden Diskussion geben. Das ist auch gut so, denn es handelt sich hier um ein Thema, dem bisher in der Praxis nicht immer die erforderliche Aufmerksamkeit gewidmet wurde. Der Krankenhausaufenthalt älterer psychisch kranker Menschen kann Folgen haben, die über den eigentlichen Krankheitsverlauf hinausgehen. So kommt es im Anschluss an somatisch bedingte Krankenhausaufenthalte älterer Menschen immer wieder zu an sich vermeidbaren Heimunterbringungen oder zu Einweisungen in psychiatrische Fachkliniken. Diese Gefahr kann sich insbesondere dann realisieren, wenn im Krankenhaus psychische Störungen von Menschen im fortgeschrittenen Alter nicht ausreichend beachtet werden. Die vermeidbaren vollstationären Anschlussaufenthalte 8

schlagen sich in den Ausgabenstatistiken der Sozialversicherungsträger nieder. Ein Teil dieser Kosten wäre durchaus vermeidbar. Die heutige Veranstaltung soll ihren Beitrag dazu leisten, derartige Kosteneinsparpotentiale insbesondere für die Pflegeversicherung zu identifizieren. In erster Linie haben wir aber Vorsorge zu treffen, damit unvermeidbare Krankenhausaufenthalte älterer Menschen nicht zu einem traumatischen Ereignis mit allen hieraus resultierenden negativen Folgen werden. Es muss unser Ziel sein, den psychisch beeinträchtigten älteren Menschen durch eine intensive medizinische und pflegerische Begleitung zu einem Mehr an Lebensqualität zu verhelfen. Der Krankenhausaufenthalt älterer psychisch veränderter Menschen muss nicht zwingend zu einem Krisenerlebnis führen. Durch eine frühzeitige Diagnose und Therapie der psychischen Beeinträchtigungen kann der Krankenhausaufenthalt auch eine Hilfe zur Verbesserung der individuellen Lebensperspektive darstellen. Für die anschließende Podiumsdiskussion möchte ich ergänzend zur Einladung noch einen weiteren Diskutanten ankündigen. Herr RD Wobbe wird das Ministerium auf dem Podium vertreten. Er hat das Modell hervorragend betreut und will es sich daher nicht nehmen lassen, uns an seinen Erfahrungen mit diesem Projekt zu beteiligen. Jetzt bleibt mir nur noch, der Veranstaltung ein gutes Gelingen zu wünschen. Ich freue mich auf die angekündigten Vorträge. Der Geschäftsführer des iso-instituts, Herr Dr. Bieber, an den ich nunmehr das Wort weitergebe, wird Ihnen sicherlich noch ein paar wichtige Hinweise zu den einzelnen Referaten geben. 9

Dr. Daniel Bieber, Institut für Sozialforschung und Sozialwirtschaft e.v., (iso), Saarbrücken Sehr geehrter Herr Schüßler, sehr geehrte Damen und Herren, ich begrüße Sie ebenfalls sehr herzlich zu dieser 15. Fachtagung. Zunächst möchte ich ganz kurz ein paar Worte zum iso-institut sagen, das diese Veranstaltung mit dem Ministerium geplant und organisiert hat. Das iso-institut ist das Institut für Sozialforschung und Sozialwirtschaft in Saarbrücken, es besteht seit mehr als 35 Jahren. Wir arbeiten auf dem Gebiet der empirischen Sozialforschung - ohne jede Grundfinanzierung - und beschäftigen derzeit ungefähr zwanzig wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Wir sind in zwei größeren Forschungssträngen tätig. Der eine Strang beschäftigt sich mit Innovationen im Arbeitsleben und der andere Strang beschäftigt sich mit Innovationen in der Pflege. In diesem Bereich ist diese Tagung verankert. Ich will auf drei Aspekte kurz eingehen. Zum ersten - zum Thema der Veranstaltung - möchte ich mich kurz fassen, da Herr Schüßler hierzu die wesentlichen Dinge bereits erläutert hat. Dann werde ich auf zukünftige Tagungen eingehen, die wir planen und Ihnen schließlich einen knappen Überblick über das heutige Programm geben. Nachdem wir uns bei den letzten beiden Tagungen in Berlin mit dem Thema Menschen mit Demenz beschäftigt haben, geht es nun heute wieder um gerontopsychiatrisch Erkrankte. Sie sollen im Mittelpunkt der Debatte stehen. Es stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage: warum ist der Krankenhausbereich im Rahmen eines Modellprogramms Thema, das sich im Wesentlichen mit Pflegeeinrichtungen beschäftigt? Dafür gibt es zwei Gründe. Der eine Grund ist, dass viele Aufenthalte in Krankenhäusern krisenhaft erlebt werden und diese Krisensituationen dazu führen, dass im Nachgang mit den Patienten wieder viel aufgearbeitet werden muss, sei es von pflegenden Angehörigen oder von Pflegeeinrichtungen. Insofern kann das, was im Krankenhaus an Innovationen entsteht, durchaus als eine Art Prävention betrachtet werden. Das zweite ist, dass, wenn man im Krankenhaus frühzeitig interveniert - und wir werden heute hören, wie das im Einzelnen passiert - dies dazu beitragen kann, unnötige Heimeinweisungen zu vermeiden und die Rolle der häuslichen Versorgung zu stärken. Dies setzt aber voraus, 10

dass man gleichsam funktionsübergreifend zusammenarbeitet und Netzwerke bildet. Dadurch wird den Patienten geholfen, aber es spart perspektivisch auch Geld, und das ist nicht ganz unwichtig angesichts der leeren Sozialkassen. Der nächste Aspekt, auf den ich kurz eingehen will, bezieht sich auf die zukünftige Tagungsstruktur. Wir werden keine mehrtägige Veranstaltungen mehr durchführen, wie es vorher üblich war, sondern uns auf jeweils einen Tag beschränken, an dem wir uns mit einem spezifischen Thema beschäftigen und dieses etwas intensiver durchdringen wollen. Die Veranstaltungen sollen stärker als Workshops organisiert werden, bei denen die Teilnehmerzahlen vielleicht nicht ganz so hoch sind, wo aber die Diskussion etwas intensiver sein kann, als das bei großen Veranstaltungen der Fall ist. Wir werden auch heute versuchen, der Diskussion trotz des engen Programms ausreichend Raum zu geben, damit Sie als Experten Ihre Beiträge einbringen können. Wie wollen wir heute vorgehen? Wir werden beginnen mit einer Bestandsaufnahme aus Sicht der pflegenden Angehörigen. Das ist ganz wichtig. Diese Bestandsaufnahme wird Frau Fuhrmann von der Deutschen Alzheimer Gesellschaft vornehmen. Sie wird uns berichten, welche Probleme ihr und ihrer Institution von den Angehörigen geschildert werden. Die Deutsche Alzheimer Gesellschaft beschäftigt sich bereits seit einigen Jahren mit dem Thema Krankenhausversorgung von Alzheimerpatient/innen und arbeitet gerade an einer Handlungsempfehlung, an einer Checkliste für Angehörige. Danach werden wir uns intensiver mit dem Projekt Gerontopsychiatrischer Konsiliar- und Liaisondienst Kaufbeuren beschäftigen, das vom BMG im Rahmen des Modellprogramms gefördert wurde. Frau Kirchen-Peters vom iso-institut wird zunächst die Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitung vorstellen. Dann werden wir Vertreter/innen verschiedener Berufsgruppen hören, die im Rahmen des Projekts mitgewirkt haben: Ärzte, Pflegekräfte und Ergotherapeuten. Wir beginnen diesen Block mit Herrn Dr. Nißle, Chefarzt der Gerontopsychiatrie und Herrn Eichhorn, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, sodann kommt Frau Mahlberg, Fachschwester für Psychiatrie. Frau Freiberg, die Ergotherapeutin, ist leider erkrankt, wird aber dankenswerterweise von Frau Ernszt fachkundig vertreten. 11

Im Anschluss daran hören wir Herrn Prof. Dr. Diefenbacher, der über nationale und internationale Erfahrungen mit gerontopsychiatrisch erkrankten Patienten im Allgemeinkrankenhaus berichtet, das heißt, wir entwickeln eine Perspektive über Deutschland hinaus und schauen, was wir von anderen lernen können. Mit all diesen Beiträgen ist - so denken wir - der Boden für die Podiumsdiskussion am Ende bereitet, in der es darum geht, aus verschiedenen Perspektiven unterschiedliche und neue Wege bei der Krankenhausversorgung älterer Patienten zu beleuchten. Hier werden dann auch Vertreter der Kostenträger und des Ministeriums sowie weitere Experten aus den Kliniken vertreten sein. Die Podiumsdiskussion wird von Herrn Panzer vom ZDF moderiert, der auch eigene familiäre Erfahrungen mit einbringen kann. Wir verbinden mit dieser Tagung die Hoffnung, dass wir am Ende etwas weiter sind im Austausch über neue Ideen, wie man mit älteren Patienten zukünftig besser umgehen und wie man sie besser versorgen kann. Es geht hier nicht um eine wissenschaftliche Veranstaltung im engeren Sinne, sondern es geht darum, Ansatzpunkte zu sammeln, wie die Erkenntnisse, die in Kaufbeuren gesammelt werden konnten, bundesweit umgesetzt werden könnten. Ich möchte Sie zum Schluss bitten, sich wo immer möglich einzubringen. Wenn die Diskussion hier zu knapp gerät, gibt es auch Pausen, in denen Sie mit den Referenten oder mit anderen den Austausch suchen können. Wenn Sie sich bekannt machen wollen mit den Ergebnissen der wissenschaftlichen Begleitung zu diesem und zu anderen Themen, verweise ich auf einen Büchertisch, an dem Sie sich bedienen können. Vielen Dank! 12

2. Vorträge und Präsentationen 2.1 Irene Fuhrmann, Deutsche Alzheimer Gesellschaft, Berlin Der Krankenhausaufenthalt gerontopsychiatrisch erkrankter Menschen: Erfahrungen der pflegenden Angehörigen Meine Erfahrungen als pflegende Angehörige basieren auf der über 17 Jahre andauernden Erkrankung meiner Mutter an einer senilen Demenz vom Alzheimer-Typ. Sie starb im Jahre 2002. Ich war zehn Jahre Ansprechpartnerin in einer Selbsthilfegruppe und bin Gründungsmitglied der Alzheimer Gesellschaft Berlin und des Bundesverbandes der Deutschen Alzheimer Gesellschaft. Im Bundesverband bin ich ehrenamtlich als Vorstandsmitglied tätig. So sind es nicht nur eigene Erfahrungen mit meiner kranken Mutter, sondern auch Beobachtungen und Berichte von anderen Angehörigen, die mich heute zu Ihnen sprechen lassen. Ich habe keine Studien vorzustellen, keine wissenschaftlich geführten Protokolle, keine Tabellen, Diagramme oder ähnliches, sondern ich berichte von dem, was ich gesehen, gehört, erlebt habe, wenn Menschen im fortgeschrittenen Alter im Krankenhaus sind. Bei der Themenstellung kam mir sofort die Frage: Ist ein Krankenhausaufenthalt für ältere Menschen nicht sehr häufig im weitesten Sinne eine Art Krisenerlebnis? Eine akute Erkrankung soll stationär behandelt und möglichst geheilt werden. In den meisten Fällen hat ein älterer oder alter Mensch jedoch nicht nur diese eine akute Krankheit, sondern er leidet an diversen körperlichen Gebrechen. Außerdem fühlt er sich oft gänzlich überfordert im Wirrwarr der Administration und der technischen Anforderungen. Nicht jeder freundlicherweise mit Senior bezeichnete alte Mensch ist nämlich Teilnehmer an Schulungen über moderne Formen der Information und Kommunikation gewesen, so wie es uns in den Medien immer wieder suggeriert wird. Wer zum Beispiel im Krankenhaus an seinem Bett durch ein Telefon mit der Außenwelt verbunden sein möchte, muss schon einige Hürden überwinden: 13

Eine aufladbare Karte muss aus einem Automaten gezogen werden, sie muss in dem Telefonapparat installiert werden, und die Gebrauchsanweisung muss gelesen und verstanden werden, sonst geht es so, wie bei einer alten Dame, die sich wütend einen Techniker kommen ließ, da der Telefonapparat auf ihrem Nachttisch gestört sei, sie bekäme keinen Anschluss nach draußen, sie könnte nur angerufen werden. Des Rätsels Lösung bestand darin, dass sie keine 0 vorgewählt hatte, um eine Amtsleitung zu bekommen. Sie hatte das in der Anleitung nicht erkennen können. Zum Teil ist es ein Abenteuer, in einem Krankenhaus von einer Station zu den einzelnen Untersuchungsebenen zu gelangen und wieder zurückzufinden, auch wenn das vielleicht für die dort tätigen Fachkräfte nicht vorstellbar ist. Ich war neulich mit meinem Mann zu einer ambulanten Untersuchung in einem Krankenhaus in Karlsruhe. Nach der Untersuchung (unter Verwendung eines Computertomographen) wollten wir das Sprechzimmer eines Arztes aufsuchen. Farbige Linien auf dem Fußboden sollten als Wegweiser dienen. Wie in einem Labyrinth suchten wir den entsprechenden Weg. Von fünf befragten Ärzten glaubte nur einer, uns die Richtung weisen zu können - sein Glaube war stärker als sein Wissen. Da ich heute vor Ihnen stehe, sehen Sie, dass wir doch noch selbst fündig geworden sind. Eine ganz bittere Erfahrung hatte ich mit einer engen Freundin meiner Mutter. Sie war eine sehr gebildete und intelligente alte Dame, die an Osteoporose litt. Sie lief gebeugt und mühsam mit Gehhilfen, so dass sie mit über 90 Jahren äußerlich das Bild eines alten Weibleins darstellte. Außerdem war sie wegen ihrer zunehmenden Schwerhörigkeit darauf angewiesen, dass man laut und deutlich mit ihr sprach. Als sie wegen einiger Probleme des Verdauungstraktes ins Krankenhaus kam, wusste sie nicht, warum man bei ihr eine Magensonde legen wollte. Sie hatte die Erklärungen einfach akustisch nicht verstanden. Auf ihre Nachfragen sah man mitleidig auf sie herab und stufte sie als leicht dement ein, und somit hielt es schon niemand mehr für nötig, sich noch mit der Aufklärung über eine Behandlung abzugeben. Man redete über ihren Kopf hinweg, als sei sie ein Gegenstand. So erfuhr sie auch nichts über die Risiken eines solchen Eingriffs. Diese alte Dame ergab sich quasi in ihr Schicksal, sie hörte auf zu fragen, die Sonde wurde gelegt, einige Tage später wegen Komplikationen wieder 14

entfernt, und nach einigen weiteren Tagen verstarb die Freundin meiner Mutter. In einer Zeit, in der in der Bevölkerung immer mehr Hochaltrige leben, nehmen auch die psychischen Erkrankungen im Alter zu. Hierbei zu beachten, inwieweit eine somatische Erkrankung in Wechselwirkung mit einer psychischen Erkrankung steht, wäre als eine Chance im Krankenhaus zu benennen, die jedoch kaum genutzt wird. Ich habe mit vielen alten Menschen Kontakt gehabt, die erste Anzeichen einer möglichen psychischen oder dementiellen Erkrankung zeigten. In den seltenen Fällen, in denen bei einem Krankenhausaufenthalt darauf geachtet wurde, waren oft Gründe dafür verantwortlich, die man problemlos abstellen konnte: einseitige Ernährung, viel zu wenig Flüssigkeit tagsüber, Vitaminmangel, Eisenmangel und ähnliches. Ebenso oft ist die Einsamkeit bei alten Menschen, die allein zu Hause leben und zum Teil unbewusst unter fehlenden Kontakten leiden, die Ursache, dass depressive Verhaltensweisen auftreten. Es wäre sicher nach der medizinischen Abklärung Aufgabe des Sozialdienstes, für die Zeit nach dem Krankenhausaufenthalt für begleitende Lebensumstände zu sorgen. Mindestens genau so wichtig wäre es, nach einer Diagnose Demenz möglichst mit den Angehörigen nach Lösungen zu suchen, wie das Leben nach der Entlassung aus dem Akutkrankenhaus weiterhin gestaltet werden kann. Von einer Chance für Demenzkranke im Krankenhaus zu sprechen, erscheint mir allerdings realitätsfern zu sein, ein Krisenerlebnis ist eigentlich vorprogrammiert. Meine Mutter lebte 1990 auf der geschlossenen Station einer psychiatrischen Klinik, war trotz der fortgeschrittenen Alzheimer-Krankheit körperlich noch sehr agil. Nach einem Sturz kam meine Mutter mit einer Kopfplatzwunde aus dieser Klinik in ein Allgemeinkrankenhaus. Die Wunde am Kopf musste genäht werden, und anscheinend ließ meine Mutter diese medizinische Versorgung problemlos über sich ergehen. Das war ein untrügliches Indiz, dass man sie nett und freundlich behandelt hatte. Dass man sie jedoch nach dem Eingriff - auf einer fahrbaren Trage liegend - vor den OP schob und sie allein ließ, zeigte mir das fehlende Wissen des ärztlichen und pflegerischen Personals, das Verhalten einer Demenzkranken richtig einschätzen zu können. 15

Die Erklärung, dass sie ruhig liegen bleiben sollte, bis sie abgeholt würde, hat meine Mutter sicher mit einem Lächeln und einem Ja beantwortet, ohne sich über die Bedeutung im Klaren zu sein. Aber als sie allein war, versuchte sie nach kurzer Zeit, sich zu erheben und von der Trage zu klettern; ich kam gerade noch rechtzeitig, um sie vor einem erneuten Sturz zu bewahren oder vor dem Herauslaufen aus dem Krankenhaus in das umgebende große Waldgebiet hinein. Wenn in einem Krankenhaus gerontopsychiatrisch veränderten Menschen eine Chance gegeben werden soll, wenn versucht werden soll, für diese Kranken ein Krisenerlebnis zu vermeiden, dann genügt es nicht, dem Pflegepersonal bestimmte Verhaltensregeln zu geben, die sie stereotyp befolgen. So legte man meine Mutter nach einem akuten Herzanfall aufgrund ihrer fortgeschrittenen Demenz mit zwei anderen alten kranken Frauen in ein Vierbettzimmer zusammen. Ich hatte einen guten Kontakt zum Pflegepersonal und somit keinerlei Schwierigkeiten, den Tag über bei meiner Mutter zu verbringen. Das ist nicht selbstverständlich, sondern zum Teil sogar unerwünscht. Angehörigen wird als Begründung gesagt, dass sie die Kranken durch ihre Anwesenheit beunruhigen würden, dass sie störend für den Ablauf des Krankenhausalltags wirkten, andere Patienten sähen darin eine Belästigung und fühlten sich in ihrem Ruhebedürfnis gestört. Auf dieser Station konnte ich aber auch als Laie bei kleinen Verrichtungen helfen und die Schwerkranke beobachten, um bei Bedarf Hilfe zu holen. Für meine Mutter waren es optimale Bedingungen, da sie trotz ihrer Erkrankung meine Nähe erkannte und beruhigt war. Die zweite Frau im Nachbarbett verschlief fast den ganzen Tag. Sie äußerte keinerlei Anzeichen von Schmerzen, ich konnte sie mit beobachten und notfalls Hilfe holen. Die dritte Frau war noch in der Lage zu sprechen, aber sie war nicht in der Lage, irgendwelche Erklärungen zu verstehen. Sie begriff kaum, dass sie in einem Krankenhaus war und im Bett liegen sollte. Da sie ständig meinte, auf die Toilette gehen zu müssen, klingelte sie häufig, das heißt, sie drückte auf den Klingelknopf, aber sie begriff natürlich nicht die Technik der Gegensprechanlage an ihrem Nachttisch. So stellte man die Klingel ab, die Kranke drückte den Knopf ohne Erfolg, das Bett wurde nass, und man legte einen Katheter. Den riss sie sich heraus, und so erfolgte eine Fixierung der Arme. 16

Das vierte Bett wurde etwas später belegt. Es kam eine ganz schweigsame alte Frau. Sie war angekleidet, man stellte einen Sessel für sie zurecht, und so verbrachte sie die ersten Tage im Sessel und nur die Nacht im Bett. Sie beobachtete meine Anwesenheit bei der Mutter mit unverhohlener Neugier, und schließlich kam sie an das Bett und fragte mich aus. Voller Mitleid betrachtete sie meine schwerkranke Mutter, und dann begann sie, von sich selbst zu erzählen. In zwei bis drei Tagen kannte ich ihre ganze Lebensgeschichte von der Kindheit an, über die Flucht bis zu dem Leben in Berlin. Sie war über 90 Jahre alt und hatte bisher in einer eigenen Wohnung gelebt. Jetzt hatte eine Nichte beschlossen, sie in einem Heim unterzubringen. Hilflos hatte sie sich gefügt, und weil ihre Wohnung bereits aufgelöst wurde, hatte man sie im Krankenhaus quasi zwischengelagert. Sie war in das Zimmer mit den dementen Patientinnen gelegt worden, da sie wegen Schwerhörigkeit und Sehschwierigkeiten und wegen ihres hohen Alters als gerontopsychiatrisch krank eingestuft worden war. Sie hatte keine akute körperliche Erkrankung. Sie konnte sich bewegen, sich aus- und anziehen, sich waschen, essen und zur Toilette gehen - es fehlte ihr nur an persönlicher Zuwendung, Verständnis und Hilfe im alltäglichen Leben. Jede Untersuchung durch einen Gerontopsychiater hätte ihr die Chance gegeben, aus diesem Zimmer herauszukommen. So aber passte sie sich ihren Zimmergenossinnen an. Allmählich sprach sie nur noch das Allernötigste, sie zog sich keine Kleidung mehr an, sondern lief im Nachthemd herum, dann blieb sie im Bett liegen. Das Essen schmeckte ihr kaum noch, sie ließ es stehen. Sie dämmerte meist und wollte nicht mehr angesprochen werden. Besuch erhielt sie nie. Wie ich schon sagte, hatte ich bei diesem Krankenhausaufenthalt meiner Mutter ein recht gutes Verhältnis zum Pflegepersonal, das mir durchaus zu verstehen gab, dass es meine kleinen Hilfsdienste sehr gern in Anspruch nahm und meine Anwesenheit in dem Zimmer als positiv ansah. Im Gegensatz dazu hatte ich Schwierigkeiten bei der Verständigung mit der Stationsärztin. Sie konnte nur sehr schwer akzeptieren, dass sie mir - als amtliche Betreuerin meiner Mutter - die Notwendigkeit von speziellen medizinischen Versorgungen erklären musste. Meine Mutter erkrankte nach dem Herzanfall auch noch an Magenblutungen und einer Lungenentzündung. Es sollten eine Magenspiegelung und eine Darmspiegelung vorgenommen werden, um die Blutungsquelle zu erkennen. 17

Obwohl mir die Ärztin zugestand, dass dies für meine demente schwerkranke Mutter äußerst belastende Untersuchungen sein würden, da sie nicht mehr verstehen konnte, was diese Manipulationen an ihrem Körper bedeuten würden und eine Narkose nicht in Frage käme, sollten die Untersuchungen durchgeführt werden. Man könnte sagen, diese Situation stürzte mich als Angehörige in eine Krise. In kürzester Zeit musste ich mir selbst die Frage beantworten, ob ich mit der Verweigerung dieser Eingriffe meine eigenen ethischen Grundsätze verletzten würde, nämlich alles zum Wohle meiner Mutter zu tun. Wider alle Erwartungen überstand meine Mutter diese Erkrankung. Allerdings war sie nicht mehr in der Lage, zu laufen oder zu sitzen, sondern in ihrer Schwäche war sie bettlägerig. So wurde sie entlassen. Niemand erwähnte die Möglichkeit einer Rehabilitationsmaßnahme auch für demente Menschen. Dass es sie gab, erfuhr ich durch eine Ärztin der Nervenklinik, in der meine Mutter lebte. Das erforderte allerdings weiterhin meine tägliche Anwesenheit wie im Krankenhaus, aber nach mehreren Wochen konnte meine Mutter wieder - gestützt auf meinen Arm - langsam spazieren gehen. Das bedeutete, ihr einen sehr großen Teil ihrer Lebensqualität zurückzugeben. Das sind nur einige Beispiele von vielen. Auch heute noch sind wir weit davon entfernt, Demenzkranke im Krankenhaus krankheitsgerecht zu betreuen. Das hat nichts mit einer absichtlichen Vernachlässigung zu tun, sondern in den meisten Fällen mit fehlendem Wissen um die fachgerechte Versorgung solcher Patienten. Es ist besonders gravierend, wenn man junge Pflegekräfte in der Ausbildung nicht auf die Versorgung dementer Patienten vorbereitet. So erlebte ich vor einigen Tagen, wie eine bettlägerige Patientin, die sich verbal kaum noch äußern konnte, nach etwas Trinkbarem verlangte, indem sie ihren leeren Becher dem jungen Pfleger entgegenhielt und unverständliche Worte stammelte. Er sagte daraufhin: Dürfen Sie etwas trinken? Ich dachte, Sie werden morgen operiert. Die Frau stammelte so etwas wie ja, und daraufhin füllte er den Becher mit Wasser und sagte: Na gut, aber auf Ihre Verantwortung. - Eine absurde, aber auch sehr von Hilflosigkeit geprägte Reaktion. 18

Dass das nicht nur für junge Pflegekräfte gilt, habe ich erfahren müssen, als meine Mutter nach einigen Jahren erneut an einer Lungenentzündung erkrankte. Die Demenz war weit fortgeschritten, meine Mutter konnte nicht mehr laufen oder sitzen, das Bett war zu ihrem Aufenthaltsort geworden. Nachdem ein junger Arzt meine Mutter wegen des hohen Fiebers, des Hustens und der Atemprobleme untersucht hatte, wandte er sich sehr freundlich an mich und sagte leise: Na, da machen wir gar nichts mehr. In diesem Zustand der Demenz Er schüttelte bedauernd den Kopf. Ich habe daraufhin um ein Gespräch in einer anderen Umgebung gebeten, nicht am Bett über den Kopf meiner Mutter hinweg. Ich habe ihm meine Ansicht mitgeteilt, dass ein Mensch auch als Dementer ein Anrecht darauf habe, ein Antibiotikum zu erhalten, um eine akute Lungenentzündung zu behandeln. Ich habe gesagt, dass die Lebensqualität eines Demenzkranken nicht aus unserem Blickwinkel zu beurteilen sei, sondern aus der Sicht des Dementen. Meine Mutter hatte trotz ihrer Bettlägerigkeit Zufriedenheit gezeigt, sie genoss offensichtlich eine gute Körperpflege, das Essen, das ihr schmeckte und meine tägliche Anwesenheit. Diese kleine Welt war für ihr Wohlbefinden ausreichend. Sagen konnte sie es nicht mehr, aber es gab genug nonverbale Ausdrucksmöglichkeiten. Jetzt - unter der akuten Erkrankung - zeigte sie, dass sie litt. Man musste versuchen, das zu beheben. Der junge Arzt war von meinen Argumenten überrascht und sagte: Das haben wir im Studium nie gelernt, über solche Dinge nachzudenken. In der Praxis haben wir uns solche Patienten so weit wie möglich gegenseitig zugeschoben, um keine derart schwierigen Entscheidungen treffen zu müssen. Für uns beide war es ein sehr gutes, in Ruhe geführtes Gespräch. Meine Mutter erhielt ein Antibiotikum und regenerierte sich sehr schnell von der Lungenentzündung - sehr zum Erstaunen der Fachkräfte. In jedem Fall ist die Einweisung in ein Akutkrankenhaus für demente Menschen ein nicht zu verstehender Vorgang. Sie kommen aus einer gerade noch vertrauten Umgebung in eine für sie völlige Unübersichtlichkeit. Menschen und Räume sind fremd und nicht mehr einzuordnen. Es werden Anforderungen gestellt durch diagnostische Verfahren und durch Behandlungsabläufe, die von Demenzkranken nicht als positive Maßnahmen, sondern als Angst machend - vielleicht sogar als lebensbedrohlich - angesehen werden. Die Kranken werden versuchen, sich dem zu entziehen. Sie werden Fluchtwege suchen, Abwehrmechanismen wie zum Beispiel Aggressionen 19

entwickeln oder in eine depressive Phase geraten. In jedem Falle wird sich die Symptomatik der Demenz verschlechtern. All das führt zu einer schwierigen Situation im normalen Ablauf eines Krankenhauses - sowohl bei der ärztlichen Behandlung, als auch bei der pflegerischen Versorgung. Hierbei ist auch die Beeinträchtigung anderer Patienten, die einen dementen Mitpatienten durchaus als störend empfinden können, nicht zu vernachlässigen. Um dem allem entgegenzuwirken, werden Sedierungen und Fixierungen eingesetzt, was beim Umgang mit dementen Menschen geradezu kontraindiziert ist. Die Möglichkeit, eine Krisensituation zu vermeiden, eine Chance zu bieten in Form demenzgerechter Pflege, das sollte nicht nur diskutiert, sondern in eine gängige Praxis umgewandelt werden. Die Frage nach Zusammenlegung oder Trennung von dementen und nichtdementen Patienten steht genauso an, wie die Frage nach der gesonderten Versorgung. Dabei steht an oberster Stelle, bei Verdacht auf eine gerontopsychiatrische Begleiterkrankung, diese durch einen fachlich qualifizierten Arzt abklären bzw. überprüfen zu lassen. Das, was von Patienten im Krankenhaus als wünschenswert angesehen wird, nämlich einen Ansprechpartner zu haben für Fragen über Krankheit, Verlauf und Heilungschancen und auch als Hilfe bei der psychischen Belastung durch eine schwere Erkrankung, ist in der Realität des Krankenhausalltags kaum zu finden. Es ist schon schwierig, Verständnis für die körperliche Beeinträchtigung durch eine schwere Erkrankung zu finden. So möchte ich es im freundlichsten Falle als gedankenlos bezeichnen, wenn einer Krebspatientin, die darum bittet, im Bett weiter nach oben gezogen zu werden, geantwortet wird: Sie haben am Bett doch einen Griff, halten Sie sich daran fest, stemmen Sie die Füße gegen die Matratze, und Sie kommen aus eigener Kraft nach oben. Diese Patientin wiegt zwar nur noch 77 Pfund und hat gerade einen Anus praeter bekommen, aber sie ist noch in der Lage zu antworten: Wenn ich das noch selbst könnte, hätte ich Sie nicht darum gebeten, mir zu helfen. Diese Frau ist 78 Jahre alt und lebt seit der Diagnose Krebs im fortgeschrittenen Stadium zwischen Angst und Hoffnung, und sie zeigt stark depressive Verhaltensweisen. Sie wurde für eine eventuelle Chemotherapie oder Bestrahlung oder nochmalige Operation in ein universitäres Krankenhaus 20

verlegt. Die Fahrt quer durch Berlin im Krankenwagen belastete sie sehr. Auf einer Trage liegend wurde sie von einer Schwester auf der Station mit den Worten empfangen: Was ist denn hier los, ist das eine Attrappe oder kann sie wirklich nicht aufstehen? Ich glaube, diese Situation erfordert keinen Kommentar. Nach solchen Erfahrungen habe ich mir leider immer wieder erneut die Frage stellen müssen: Wo wird denn ein dementer oder gerontopsychiatrisch erkrankter Mensch in einem Akutkrankenhaus eingestuft? Interessiert es überhaupt, wenn er in eine Krise gerät oder wird das als kaum abzuwendende Begleiterscheinung angesehen. Stellt sich die Frage nach dem Wohlbefinden, und wo versucht wird, durch Kommunikation, durch Schaffung einer vertrauensvollen Atmosphäre ein Gefühl von Sicherheit aufzubauen, was diese Kranken in ganz besonderem Maße benötigen. Ich hoffe, darauf heute einige Antworten zu erhalten. 21

2.2 Sabine Kirchen-Peters, Institut für Sozialforschung und Sozialwirtschaft e.v. (iso), Saarbrücken Ergebnisse des Modellprojektes Gerontopsychiatrischer Konsiliar- und Liaisondienst Kaufbeuren Meine Damen und Herren, ein Modellprojekt wie der gerontopsychiatrische Konsiliar- und Liaisondienst in Kaufbeuren kann mit Sicherheit nicht - und vor allem nicht von heute auf morgen - alle Probleme lösen, die Frau Fuhrmann eben geschildert hat. Dennoch hat der Krankenhausaufenthalt dank des Modells heute für viele alte Menschen an Schrecken verloren und kann sogar zu einer Chance im Sinne von Früherkennung und rechtzeitiger Intervention werden. Mein Vortrag leitet einen Block ein, in dem ausgewählte Ergebnisse und Erfahrungen aus dem Modellprojekt dargestellt werden. Hintergrund des Modellvorhabens Zunehmender Anteil gp Patient/innen im Allgemeinkrankenhaus 50 % der Pflegetage entfallen auf über 65-Jährige (Bergener 1998) ein Drittel aller Krankenhauspatient/innen leidet neben den körperlichen Erkrankungen an behandlungsbedürftigen psychischen Störungen (Herzog 2003) Probleme in der Versorgungsqualität Altersbedingte psychische Erkrankungen erhalten durch die demographische Entwicklung zunehmende sozial- und gesundheitspolitische Relevanz. In den Allgemeinkrankenhäusern entfallen bereits 50% der Pflegetage auf über 65-Jährige. Dabei kann man davon ausgehen, dass ca. ein Drittel der Patient/innen neben ihren körperlichen Erkrankungen gleichzeitig an behandlungsbedürftigen psychischen Störungen leidet. Insbesondere Abtei- 22

lungen, deren Klientel im Schwerpunkt aus älteren Patient/innen besteht, wie z.b. Innere oder Orthopädische Stationen, haben mit gerontopsychiatrischen Erkrankungen zu tun. Dabei verstärkt sich der Druck vor allem hinsichtlich der Versorgung Demenzkranker, die in der Regel aufgrund somatischer Erkrankungen in die Kliniken eingewiesen werden. Die Demenz tritt dann bei der Behandlung dieser Erkrankungen als Störfaktor auf und wird für die Mitarbeiter/innen und andere Patient/innen zum Problem. Aber nicht nur die reine Zahl älterer Patient/innen gibt zu denken, sondern vor allem die erheblichen Probleme in der Versorgungsqualität, die Frau Fuhrmann eben geschildert hat. Modellkonzeption: Gerontopsychiatrischer Konsiliar- und Liaisondienst 1. Konsiliarmodell Bedarfsweise Hinzuziehung des meist ärztlichen Beraters bei einzelnen Patient/innen 2. Kontraktmodell Regelmäßige Hinzuziehung bei bestimmten Patienten-, Diagnose- oder Problemgruppen 3. Liaisonmodell Anfrageunabhängige, regelmäßige Präsenz in einer Behandlungseinheit und weiterführende Aufgaben verbesserte Identifizierung gp Patient/innen Fortbildung und Supervision für das Personal Überbrückung von Schnittstellenproblemen Laufzeit: 1.10.2000 bis 30.9.2004 Um Eskalationen und Negativspiralen zu vermeiden, bedarf es professioneller Unterstützung, die insbesondere von speziellen (geronto-)psychiatrischen Fachdiensten geleistet werden kann. Herzog unterscheidet in seinen Leitlinien 1 drei Organisationsformen dieser Dienste. Während im Konsiliarmodell der meist ärztliche Berater lediglich bedarfsweise für einzelne Patient/innen hinzugezogen wird, ist dies im Kontraktmodell regelmäßig bei bestimmten Patienten-, Diagnose- oder Problemgruppen der Fall. Die weitestreichende 1 Vgl. Rudolf, G.; Eich, W. (Hg.) (2003): Konsiliar- und Liaisonpsychosomatik und -psychiatrie, Stuttgart: 8. 23

Form wird als Liaisonmodell bezeichnet. Es umfasst die anfrageunabhängige, regelmäßige Präsenz des Konsiliars in einer Behandlungseinheit. In Kaufbeuren handelt es sich um eine Mischform, denn es werden sowohl Konsile durchgeführt als auch in umfangreicher Weise Liaisonfunktionen übernommen. Das Projekt ist als Modell seit etwa einem Jahr ausgelaufen und befindet sich seither in der Dauerfinanzierung. Träger der Maßnahme ist das Bezirkskrankenhaus (BKH) Kaufbeuren. Modellbeteiligte: Multiprofessionelles Team (BKH) 1,0 Facharzt 1,0 Pflegekraft Andreas Eichhorn (Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Klinische Geriatrie) Maria Mahlberg (Fachschwester für Psychiatrie) Irmgard Ernszt (Fachschwester für Gerontopsychiatrie) 0,5 Ergotherapeutin (Antje Losleben), Barbara Freiberg 0,5 Schreibkraft Franziska Hartmann Modellort: 2 Akutkrankenhäuser im Krankenhauszweckverband Haus Gutermannstraße Haus Heinzelmannstraße 380 Betten 700 Mitarbeiter/innen, darunter 350 Pflegekräfte Am Modell beteiligt sind einmal das multiprofessionelle Team des BKH, bestehend aus einem Facharzt (1,0), zwei Krankenschwestern für Psychiatrie (1,0), einer Ergotherapeutin (0,5) und einer Schreibkraft (0,5). Kooperationspartner sind die Allgemeinkrankenhäuser Gutermannstraße und Heinzelmannstraße, die gemeinsam alle medizinischen Fachdisziplinen abdecken und in Form eines Krankenhauszweckverbandes zusammenarbeiten. Im Modellverlauf hat man die beiden Häuser nach einer Umbaumaßnahme räumlich zusammengelegt. Neben dem sukzessiven Aufbau erweiterter liaisonpsychiatrischer Funktionen ist vor allem der multiprofessionelle Ansatz als modellhaft zu bewerten. Im Fachdienst sind nur lebens- und berufserfahrene Kräfte beschäftigt, die ihre unterschiedlichen Kompetenzen und Sicht- 24

weisen in die Arbeit einbringen. Aufgrund seines Innovationspotentials wurde das Modell im Jahr 2001 von der WHO ausgezeichnet. Die Zielsetzungen sind entsprechend umfangreich. Es geht um die Steigerung der Lebensqualität gerontopsychiatrischer Patient/innen durch verbesserte Diagnostik, Behandlung und Krisenintervention sowie eine sorgfältigere Angehörigenbetreuung, den Aufbau einer gerontopsychiatrischen Kompetenz beim Krankenhauspersonal, die neben einer Erhöhung der Versorgungsqualität positive Auswirkungen auf die Arbeitsbelastung haben soll, eine schnittstellenübergreifende Behandlungskontinuität durch Initiierung von Koordinations- und Vernetzungsprozessen und finanzielle Einsparungen durch Verringerung von Krankenhaustagen und Vermeidung von Heimunterbringungen. Ziele/Aufgaben der wissenschaftlichen Begleitung (1) Bestandsaufnahme (2) Unterstützung bei der Implementation Prozessbezogene Beratung Modellbeirat (3) Datensammlung (Übertragbarkeit von Erfahrungen) Patienten, Hilfebedarfe Arbeitsinhalte Arbeitsabläufe Strukturelle Rahmenbedingungen Hindernisse, Hürden, Problemlösungen (4) Einschätzung von Effekten Zu den Aufgaben der wissenschaftlichen Begleitung zählte zunächst eine Bestandsaufnahme der Situation und der Probleme in den beiden Modellkrankenhäusern. Eine wichtige Rolle spielte das iso-institut bei der Unterstützung der Implementation. Vor allem in der Anfangsphase war wegen verschiedener Probleme eine prozessbezogene Beratung notwendig, auf die 25

ich später noch näher eingehen werde. Nach etwa einem Modelljahr begann die Vorbereitung der Anschlussfinanzierung. In einem Modellbeirat wurden die Kostenträger über die laufenden Projektergebnisse informiert und deren Anregungen hinsichtlich einer Kostenübernahme in die weiteren Planungen aufgenommen. Im Hinblick auf die Übertragbarkeit der Erfahrungen wurden vielfältige Daten gesammelt: Welche Patient/innen mit welchen Hilfebedarfen versorgt der Konsiliar- und Liaisondienst? Welche Leistungen werden mit welchen Zeitanteilen erbracht? Wie gestalten sich die Arbeitsabläufe? Welche strukturellen Rahmenbedingungen sind notwendig? Wo liegen Hindernisse und Hürden bei der Projektumsetzung und wo deuten sich Problemlösungen an usw.? Schließlich war die Entscheidung über eine mögliche Dauerfinanzierung auch von einer Einschätzung der Effekte der Modellarbeit abhängig, bei der sich die wissenschaftliche Begleitung an den zuvor genannten Zielebenen zu orientieren hatte. Nachdem Frau Fuhrmann uns ausreichend über die Probleme im Allgemeinkrankenhaus unterrichtet hat (1), werde ich in meinem Vortrag auf diese Einschätzung von Effekten (4) eingehen und einige Bemerkungen zur prozessbezogenen Beratung (2) machen, die für potentielle Nachahmer eines solchen Ansatzes von besonderem Interesse sind. Die Modellbeteiligten aus Kaufbeuren ergänzen meine Ausführungen und beziehen sich dabei neben ihren persönlichen Erfahrungen vor allem auf ausgewählte Ergebnisse der Datensammlung (3). 26

Hürden/Probleme in der Implementationsphase Keine bestehenden Standards, keine Erfahrungswerte (Pionierarbeit) Ungünstige räumliche Bedingungen Schleppende Inanspruchnahme Unkenntnis der Tätigkeitsschwerpunkte und der Aufgabenvielfalt Anfängliche Unsicherheiten hinsichtlich der Finanzierung Mangelnde Kommunikationsstruktur Konsiliar- und Liaisondienst als Kontrollinstanz Unterschiedliche Sichtweisen und Handlungslogik in somatischer Akutversorgung und in Psychiatrie In der Implementationsphase tauchten teilweise unerwartet Probleme auf, auf die die wissenschaftliche Begleitung reagieren musste. Dabei fiel erschwerend ins Gewicht, dass es in Deutschland kaum Erfahrungswerte über multiprofessionelle Konsiliar- und Liaisondienste gab, an denen man sich in den Abläufen und Rahmenbedingungen hätte orientieren können. Dazu zählte z.b. die Entscheidung, den Dienst in einem etwas abgelegenen Nebengebäude des Allgemeinkrankenhauses unterzubringen. Dies ist zwar immer noch günstiger, als wenn die Modellbeteiligten vom BKH aus tätig würden. Die stationsfernen Räumlichkeiten haben sich jedoch vor allem in der Anfangsphase negativ auf die Wahrnehmung des Dienstes durch die Krankenhausmitarbeiter/innen ausgewirkt. Ungünstig ist zudem, dass die Gespräche und Therapien wegen der räumlichen Entfernung zu den Büroräumen im Patientenzimmer erfolgen mussten, wo es durch Mitpatient/innen, Besucher/innen und das Krankenhauspersonal zu erheblichen Störungen kam. Das größte Problem der Implementationsphase war die schleppende Inanspruchnahme des Fachdienstes, darunter vor allem der Leistungen der nichtärztlichen Berufsgruppen. Vor dem Hintergrund des vermuteten hohen Unterstützungsbedarfs hatten die Modellbeteiligten mit solchen Schwierig- 27

keiten nicht gerechnet. Im Rahmen der Interviews im Allgemeinkrankenhaus zeichneten sich verschiedene Gründe für die reservierte Haltung der Mitarbeiter/innen ab. Während die Funktion des Arztes als Konsiliarius aus anderen Zusammenhängen bekannt war, fehlte dem Krankenhauspersonal eine Vorstellung darüber, was die Pflegekräfte und die Ergotherapeutin in diesem Zusammenhang leisten sollten. Unklarheit bestand zu Beginn auch hinsichtlich der Finanzierung der Leistungen. Man war unsicher, ob Anfragen zusätzliche Kosten verursachen würden und setzte den Dienst deshalb sparsam ein. Auch Formen der Zusammenarbeit mussten erst gefunden werden. Vor allem der Informationsfluss nach einer Intervention des Konsiliar- und Liaisondienstes erwies sich als schwierig. Es fehlten oft die Zeit und ein Forum, mit dem eine möglichst große Gruppe von Mitarbeiter/innen erreicht werden konnte. Zudem wurde der Fachdienst als Kontrollinstanz erlebt, die die Fehler des Personals im Umgang mit psychisch veränderten Menschen wahrnimmt und ggf. transparent macht. Insgesamt entstand in der Implementationsphase der Eindruck, dass zwischen somatischer Akutversorgung und Psychiatrie sehr große Unterschiede in den Sichtweisen und in der Handlungslogik bestehen, dass hier quasi zwei Welten aufeinander prallen. Lösungsansätze für die Implementationsphase (1) langer Atem erforderlich (2) Räumliche Veränderungen (stationsnah) (3) Konzept der Schwerpunktabteilungen mit verstärkter Präsenz Vertrauensaufbau durch intensivierten Kontakt Verdeutlichung der Aufgabenvielfalt und der Effekte Modellhafter Aufbau einer Kommunikationsund Kooperationsstruktur 28

Für potentielle Nachahmer der Modellkonzeption sollen nun noch einige Hinweise auf Lösungsansätze für die dargestellten Problemfelder gegeben werden. Zunächst ist darauf zu verweisen, dass man Geduld und einen langen Atem braucht. Es dauert, bis man vom Krankenhauspersonal wahrgenommen wird und das Vertrauen soweit gewachsen ist, dass man in die Kooperation einsteigen kann. Von Beginn an sollte auf stationsnahe Räumlichkeiten geachtet werden. Zur Förderung der Akzeptanz hat es sich in Kaufbeuren als günstig erwiesen, die Implementation über so genannte Schwerpunktabteilungen voranzutreiben. Dabei handelte es sich um zwei Innere Abteilungen, aus denen auch im Vorfeld der konzeptionellen Umstellung die meisten Konsilanfragen kamen. Hier zeigten vor allem die nichtärztlichen Berufsgruppen eine verstärkte anfrageunabhängige Präsenz. Durch die Intensivierung des Kontaktes ist es gelungen, das Vertrauen der Krankenhausmitarbeiter/innen zu steigern und die Aufgabenvielfalt des Dienstes zu verdeutlichen. Zudem sind die Effekte der Arbeit sichtbarer geworden. Diese Erfolge haben sich in den anderen Abteilungen herumgesprochen und haben in Verbindung mit den hausweit angebotenen Fortbildungen dazu geführt, dass auch die Nachfrage von anderen Stationen sukzessive ansteigt. Die Einschätzung von Effekten orientiert sich an den zuvor genannten Zielebenen. Effekte (1): Steigerung der Lebensqualität (25MP) Verbesserung der körperlichen und psychischen Verfassung Bei Aufnahme: 90% der MP mit mittelstarken bis starken Einschränkungen im körperlichen und psychischen Status Bei Entlassung: Verbesserungen in körperlichem Status (76%) und im psychischen Status (56%) Nach 6 Wochen: weitere Verbesserungen (jeweils 76%) Nach 3 Monaten: weitere Verbesserungen oder stabil (jeweils 92%) Nach 6 Monaten: weitere V erbesserungen oder stabil im körperlichen Status (76%) und im psychischen Status (68%) Aufbau eines häuslichen Versorgungssettings (Entlassungsmanagement) Nach Entlassung kehren alle in gewohnte Umgebung zurück (24+1) Nach 6 Monaten wohnen noch 19 Personen zu Hause (19+6) 29

Die Auswirkungen der Modellarbeit auf die Lebenszufriedenheit und das Wohlbefinden der Patient/innen kann in erster Linie über 25 Modellpatient/innen nachvollzogen werden, die anhand einer Kriterienliste ausgewählt wurden. Für die Mehrzahl der Patient/innen konnte die körperliche und psychische Verfassung bereits zum Zeitpunkt der Entlassung deutlich verbessert werden. Dabei ist die Stabilisierung vor allem auf die frühzeitige Diagnostik sowie auf die zielgerichtete Behandlung der gerontopsychiatrischen Erkrankungen zurückzuführen, die auch die körperliche Genesung positiv beeinflussen. Weitere stützende Effekte entstehen durch die Begleitung und Betreuung der Patient/innen durch das Modellteam. Besonders hervorzuheben ist, dass sich die Modellarbeit nachhaltig auswirkt. So ist im Rahmen der Nachbetreuung deutlich geworden, dass sich der Zustand der Patient/innen - von wenigen Ausnahmen abgesehen - auch zu Hause weiter verbessert hat oder zumindest auf gleichem Niveau gehalten werden konnte. Damit konnte der Nachweis erbracht werden, dass der Konsiliar- und Liaisondienst in der Lage war, die bekannten Negativspiralen bei der Krankenhausbehandlung älterer Patient/innen außer Kraft zu setzen und sogar positive Entwicklungen anzustoßen. Ein wichtiges Element von Lebensqualität ist für ältere Menschen der Verbleib in den eigenen vier Wänden. Zum Aufgabenspektrum des Konsiliarund Liaisondienstes gehört in Kooperation mit dem Krankenhaussozialdienst ein sorgfältiges Entlassungsmanagement. Nach der Entlassung kehrten alle Patient/innen in ihre gewohnte Umgebung zurück, wobei eine Patientin bereits im Pflegeheim untergebracht war. Nach sechs Monaten lebten immer noch neunzehn Modellpatient/innen zu Hause. Bei fünf Personen wurde ein Heimwechsel erforderlich. Es handelte sich in aller Regel um isolierte depressive Patient/innen, die sich durch den Umzug eine Verstärkung von Sozialkontakten versprachen. 30

Effekte (2): Aufbau einer gp Kompetenz Lernerfolg durch Fortbildung für Ärzte und Pflegepersonal Zusammenarbeit am konkreten Fall Konkrete Auswirkungen auf Erkennen gp Erkrankungen Umgang mit dem Kranken Einstellung/Sensibilität gegenüber gp Patient/innen Wenn die Effekte des Modells auf die Qualifikation des Krankenhauspersonals beleuchtet werden, ist zunächst auf die sehr gute Akzeptanz der vom Team durchgeführten Fortbildungen für Pflegekräfte zu verweisen. Die viermal jährlich stattfindenden Angebote sind mit zwanzig Teilnehmer/innen stets voll ausgebucht. Die Evaluation der Veranstaltungen belegt, dass die Absolvent/innen mit den Fortbildungen hoch zufrieden sind, auch weil sie davon ausgehen, dass das Erlernte konkrete Auswirkungen auf ihr Pflegeverhalten haben wird. Das bezieht sich nach ihrer Ansicht sowohl auf das Erkennen der verschiedenen Erkrankungen als auch auf den Umgang mit den Kranken. Lernerfolge zeigen sich aber auch durch die Zusammenarbeit mit dem Konsiliar- und Liaisondienst am konkreten Fall. Berichteten Pflegekräfte zu Maßnahmebeginn noch von Unsicherheiten und Hilflosigkeit im Umgang mit den Kranken, konstatieren die Modellbeteiligten jetzt eine zunehmende Kompetenz vor allem auf den Schwerpunktstationen. Die Einstellung gegenüber psychisch kranken älteren Menschen hat sich verbessert, was allein schon in einer sensibleren Sprache zum Ausdruck kommt. Man versucht sogar in den gegebenen Grenzen, milieutherapeutische Akzente zu setzen und gibt Acht, dass die Patient/innen ihre Mahlzeiten einnehmen und genügend trinken. 31