Kindheit und Jugend in der Provence

Transkript

1 FRÉDÉRIC MISTRAL Kindheit und Jugend in der Provence * Aus dem Französischen von Noa Kiepenheuer Mit einem Nachwort von Wolfgang Günther Anaconda

2 Titel der französischen Originalausgabe: Mes origines: mémoires et récits (Paris 1929). Textgrundlage dieser Ausgabe ist der Band Frédéric Mistral: Wie einst zu Haus Meine Kindheit und Jugend in der Provence. Weimar: Gustav Kiepenheuer Verlag 1968 [Gustav-Kiepenheuer-Bücherei-Band 33]. Gustav Kiepenheuer ist eine Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet unter abrufbar. Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung dieser Ausgabe 2014 Anaconda Verlag GmbH, Köln Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 1968, 2008 Alle Rechte vorbehalten. Umschlagmotiv: Timothy Easton,»Watching from the Walls, Old Provence«(1993), Private Collection/bridgemanart.com Umschlaggestaltung: Satz und Layout: Roland Poferl Print-Design, Köln Printed in Czech Republic 2014 ISBN

3 INHALT Auf dem Mas du Juge 7 Mein Vater 30 Die heiligen drei Könige 43 Ich schwänze die Schule 59 In Saint-Michel-de-Frigolet 74 Bei Monsieur Millet 95 Bei Monsieur Dupuy 118 Wie ich mein Abitur bestand 130 Nachwort 145 Erläuterungen 158

4 AUF DEM MAS DU JUGE Die Alpines 1 Das Lied von Maillane Meine Familie Patron François, mein Vater Délaide, meine Mutter Jean du Porc Großvater Etienne Großmutter Nanon Der Jahrmarkt von Beaucaire Die Schwertlilien So weit ich mich zurückzuerinnern vermag, taucht stets vor meinen Augen fern im Süden eine Bergkette auf, deren Kuppen und Halden, Steinhänge und Täler von morgens bis abends eine mehr oder weniger helle oder dunkle Bläue umwogt. Das ist die Kette der Alpines, umsäumt von Olivenwäldern gleich einem griechischen Felsmassiv, fürwahr ein von Sagen umwobener Schauplatz voller Glanz und Ruhm. Am Fuß dieses Bergwalls erwartete der noch heute in der ganzen Gegend geschätzte Gajus Marius, der Retter Roms, im Schutz seines Feldlagers die Teutonen; und in Saint-Remy werden auf dem Triumphbogen seit zweitausend Jahren seine Siegestrophäen von der Sonne vergoldet. Am Abhang dieses Bergwalls begegnet man noch heute den Resten des großen römischen Aquädukts, durch den die Wasser aus dem Tal von Vaucluse in das Amphitheater von Arles geleitet wurden; diese Leitung heißt im Volksmund»Quide di Sarrasin«, Steinrinne der Sarazenen, denn diesem Aquädukt entlang zogen die aus Spanien kommenden Mauren, ehe sie in Arles eindrangen. Auf den schroffen Felsen dieser Bergkette erhob sich das Kastell der Barone von Baux. Und in den von würzigem Duft erfüllten Tälern von Baux, Romanin und Roque-Martine hielten zur 7

5 Zeit der Troubadoure die schönen Burgherrinnen ihre Liebeshöfe. Unter den Steinplatten des Klosters von Mont-Majour ruhen unsere alten Könige von Arles. In den Grotten von Vallon d Enfer und Cordes geistern noch immer unsere Feen. Und unter diesen römischen oder mittelalterlichen Ruinen ruht die»chèvre d or«, die»goldene Ziege«2. Mein heimatliches Dorf Maillane liegt vor den Alpines mitten in der Ebene, einer ausgedehnten fruchtbaren Ebene, die man vielleicht zur Erinnerung an den Konsul Gajus Marius immer noch Le Caieou nennt.»als ich noch tätig war«, erzählte mir einmal der kleine Maillanais, ein alter Ringkämpfer aus unserem Dorf,»da mußte ich viel unterwegs sein, sowohl im Languedoc wie in der Provence. Aber nirgends habe ich eine so ausgeglichene Ebene wie dieses Gelände hier entdeckt. Zöge man von der Durance 3 mit dem Pflug eine kerzengerade, zwanzig Meilen lange Furche bis ans Meer, würde darin das Wasser ganz von selber abfließen wie auf einer schiefen Ebene, einzig und allein durch das Gefälle des Bodens.«Obwohl die Bewohner von Maillane von ihren Nachbarn»mange-grenouilles«(Froschesser) geschimpft werden, sind sie dennoch fest davon überzeugt, daß es unter dem Sonnenball kein lieblicheres Land gibt als das ihrige, und da sie mich eines Tages um einige Lieder für ihren Gesangverein gebeten hatten, verfaßte ich aus diesem Anlaß folgende Verse für sie:»maillane ist schön, Maillane beglückt es wird verlockender von Tag zu Tag; und nimmer kann man Maillane je vergessen; 8