Der Stammbaum des Menschen
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- Hertha Geier
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1 1 Der Stammbaum des Menschen D ie Entwicklung unseres Körpers setzte nicht erst ein, als unsere affenartigen Vorfahren die Bäume verließen. Zu jenem Zeitpunkt hatte er bereits eine lange Geschichte hinter sich, die noch vor der Evolution der ersten Fische vor 500 Millionen Jahren begonnen hatte. Von jenen Fischen stammen wir ab, genauso wie jedes andere Tier mit einer Wirbelsäule, das jemals existiert hat von den kleinsten Fröschen und Eidechsen bis hin zu den größten Elefanten und Dinosauriern. Nachdem in den Urmeeren die ersten Fische aufgetaucht waren, verbreiteten sie sich rasch. Einige wanderten ins Süßwasser ab und dann aufs Land. Die natürliche Selektion trat in Aktion und die ersten Amphibien entwickelten sich. Aus einigen Amphibien wurden die ersten Wirbeltiere, die auf trockenem Boden lebten die Reptilien. Während eine Gruppe von Reptilien immer größere Körper entwickelte und zu den Dinosauriern wurde, entstanden aus anderen die ersten Säugetiere, die immer kleiner wurden. Als die Dinosaurier ausstarben und ihren Nachkommen, den Vögeln,
2 2 ı Du bist (eigentlich) ein Fisch die alleinige Lufthoheit überließen, nahmen die Säugetiere vom Erdboden und den Bäumen Besitz. Schließlich stellte sich eine Gruppe von Säugetieren aufrecht auf die Hinterbeine und verließ den Wald. Der Rest ist, wie man so sagt, Geschichte. Hier soll nun erzählt werden, wie es zu dieser Geschichte kam. Auf dem Streifzug durch unsere Evolution werden wir unser Dasein als Fische erforschen und unsere Vergangenheit als Amphibien und Reptilien bis hin zu unserem Leben als Säugetiere nachverfolgen. Jede Station dieser Reise hat an unserem Körper ihre Spuren hinterlassen, und um unser heutiges Aussehen zu verstehen, müssen wir zunächst begreifen, woher wir gekommen sind. Als Wirbeltiere können wir zahlreiche wichtige Teile unseres Bauplans bis zu den ersten Fischen zurückverfolgen, doch unser allgemeiner Körperaufbau ist sogar noch älter. Vor 500 Millionen Jahren wimmelten die Meere von Tieren, doch sie alle waren Wirbellose. Viele ihrer Verwandten sind uns heute vertraut Insekten, Spinnentiere und Krebstiere (deren Körper in harten miteinander verbundenen Schalen stecken), Weichtiere (darunter Venusmuscheln mit zwei durch ein Scharnier verbundenen Schalen, Schnecken mit einem spiralförmigen Gehäuse, Nacktschnecken und Kalmare mit innerer Schale, dem Schulp, sowie Kraken ohne Schale), Echinodermen oder Stachelhäuter (Seesterne, Seeigel, Seegurken), Gliederwürmer und ihre Verwandten (Regenwürmer, Seeringelwürmer, Wattwürmer, Blutegel), unsegmentierte Rundwürmer und Plattwürmer, Seeanemonen, Korallen und Quallen sowie unzählige andere, weniger bekannte Gruppen. Doch dann geschah in diesen von wirbellosen Tieren wimmelnden Urmeeren etwas, das das Erscheinungsbild der
3 1. Der Stammbaum des Menschen ı 3 Natur für immer veränderte eine Spezies entwickelte an der Längsachse ihres Körpers eine Leiste zur Versteifung. Ein Fisch war entstanden. Im Verlauf der natürlichen Selektion wurde diese Leiste später zu einer zusammenhängenden Reihe von Knochen, den Wirbeln, und so begann die lange und abenteuerliche Geschichte von uns Wirbeltieren. Noch haben die Wissenschaftler nicht herausgefunden, welcher Gruppe von Wirbellosen wir unser Rückgrat verdanken, das eine solch tragende Rolle in unserem Körper und unserem Denken spielt, dass wir davon in der Einzahl sprechen, obwohl es aus über 26 verschiedenen Knochen besteht, und es für uns gewissermaßen der Inbegriff von Stärke ist. So sagen wir: Zeig endlich mal etwas Rückgrat!, wenn wir uns über die innere Schwäche eines Menschen ärgern. Doch auch wenn wir unseren wirbellosen Urahn noch nicht identifiziert haben, können wir doch einiges über seinen Körper sagen. Das Erbe unserer wirbellosen Vorfahren Tierkörper können ganz unterschiedlich geformt sein. Manche erstrecken sich von einem Mittelpunkt strahlenförmig in alle Richtungen, wie etwa ein Seestern oder ein Korallenpolyp, aber die meisten besitzen zwei spiegelbildliche Körperhälften. Alles, was sie auf der einen Seite haben, haben sie auch auf der anderen, und viele Organe treten ebenfalls paarweise auf. Einzeln vorkommende Körperteile, wie der Darm, liegen normalerweise entlang der Mittellinie. Das wirbellose Tier, aus dem sich ein Fisch entwickelte, besaß eine solche zweiseitig symmetrische oder bilateralsymmetrische Form. Demzufolge entwickelte sich jedes Wirbeltier, das jemals exisiert hat, wir eingeschlossen, nach die-
4 4 ı Du bist (eigentlich) ein Fisch sem Muster. Wir besitzen jeweils ein Paar von Armen und Beinen, Augen, Ohren, Nasenlöchern, Lungen, Nieren sowie Eierstöcken oder Hoden, und auf der Mittellinie unseres Körpers liegt ein Gehirn (mit paarigen Anteilen), ein Rückgrat, ein Herz (das ein wenig nach links gerückt ist), ein Fortpflanzungsorgan und ein Darm (mit vielen Windungen, sodass er das Sechsfache unserer Körperlänge erreichen kann) mit einem Ein- und einem Ausgang. Unsere frühen wirbellosen Vorfahren waren offensichtlich Tiere, die sich durch ihre Umgebung bewegten, da wir von ihnen auch einen Kopf (vorne) und einen Schwanz (hinten) geerbt haben, obwohl sich diese, seitdem wir aufrecht stehen, am oberen und unteren Ende befinden. Jedes Tier, das sich fortbewegt sei es ein Wurm, ein Hummer oder eine Schnecke hat Sinnesorgane am vorderen Ende entwickelt, also an dem Ende, das als Erstes mit seiner Umgebung in Kontakt kommt. Säßen alle Sinnesorgane am Schwanz, so würde dies die Überlebenschance nicht unbedingt erhöhen. Ein Tier muss erkennen, dass es Gefahr läuft, ins Maul eines Raubtiers zu kriechen, und nicht, dass es soeben hineingekrochen ist. Aus ähnlichen Gründen befindet sich auch die Mundöffnung eines Tieres normalerweise an der vorderen Seite des Körpers, sodass sie die Nahrung als Erste erreicht. Dies ist vor allem für Raubtiere wichtig, weil ihre Nahrung möglicherweise die Flucht ergreift, falls sie gewarnt wird (so kämen Löwen nicht allzu häufig in den Genuss einer Mahlzeit, wenn sie sich Zebras mit dem Hinterteil voran näherten). Diese sinnvolle Anordnung hat in fast allen Tiergruppen zur Evolution eines Kopfes geführt, den wir Menschen als merkwürdig geformten Ball mit Stiel oben auf dem Rumpf balancieren, während er bei anderen Tieren weiterhin an der Vorderseite sitzt. Die meisten unserer Sinnesorgane befinden
5 1. Der Stammbaum des Menschen ı 5 sich dort fürs Sehen, Riechen, Schmecken und Hören und dorthin befördern wir auch unsere Nahrung. Da von diesen Sinnesorganen so viele Informationen an die Nerven weitergeleitet werden, erfolgt die Verarbeitung dieser Informationen ebenfalls im Kopf. Aus diesem Grund hat sich dort das Gehirn entwickelt. All diese grundlegenden Merkmale unseres Körpers verdanken wir unserer wirbellosen Vergangenheit. Zeiträume Dieses Buch ist erst wenige Seiten alt, und schon rede ich ganz selbstverständlich von Evolution, ohne den Begriff näher erläutert zu haben. Bevor wir mit der Geschichte fortfahren und uns mit unserer Zeit als Fisch beschäftigen, legen wir eine kurze Pause ein und ich beschreibe mit einfachen Worten den Zeitrahmen, um den es hier geht, sowie die Vorstellungen der Naturwissenschaft, Evolution und natürlichen Selektion, die uns helfen, uns selbst besser zu verstehen. Rücken wir die Evolution des Lebens zunächst einmal in die richtige Perspektive. Die Erde ist etwa Jahre alt. Wenn wir uns diese ganze Zeit als ein Jahr vorstellen, wobei die Erde am 1. Januar entstanden ist und der heutige Tag dem 31. Dezember um Mitternacht entspricht, dann erschienen die ersten mikroskopisch kleinen lebenden Zellen am 1. März; die urzeitlichen Fische jene frühesten Wirbeltiere tauchten jedoch erst am 21. November auf. Etwa 750 Millionen Jahre brauchte das Leben, um sich aus einfacheren chemischen Verbindungen zu entwickeln, und dann noch einmal über 3 Milliarden weitere Jahre (zwei Drittel des Erdalters), um die komplexe
6 6 ı Du bist (eigentlich) ein Fisch Gestalt eines Fisches hervorzubringen. Danach überschlugen sich die Ereignisse, doch erst im Dezember besiedelten einige Fische das trockene Land. Am 2. Dezember erschienen die Amphibien, gefolgt von den Reptilien am 8. Dezember. Die Säugetiere tauchten am 13. Dezember auf und gleich nach dem Nachmittagskaffee des 26. Dezember starben die Dinosaurier aus. Die Menschen schließlich trafen am Abend des heutigen Tages ein, also erst vor wenigen Stunden.
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