Predigt zu Johannes 7, / Reihe III / 08. Mai 2005 / 60. Jahrestag des Kriegsendes / Stephanus- Kirche Borchen
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- Heini Koenig
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1 Predigt zu Johannes 7, / Reihe III / 08. Mai 2005 / 60. Jahrestag des Kriegsendes / Stephanus- Kirche Borchen Vielleicht haben Sie ja auch zu Hause so eine kleine Kiste oder eine Schublade, in der Sie Erinnerungsstücke aufbewahren: - Fotos von Eltern, die vielleicht schon lange nicht mehr leben - Das erste Ultraschallbild von Ihrem Baby im Bauch: das Kind ist schon längst groß - Die Manschettenknöpfe, die der Vater von seiner jungen Frau zur Hochzeit bekommen hat - Ein Heftchen mit Liedern und Gebeten, von einer Trauung, die Ihnen gut gefallen hat - Die alten Zeugnisse aus der Schulzeit na, vielleicht haben Sie ja selbst mal eine Fünf gehabt, und dann ist es ja vielleicht auch nicht die Katastrophe, wenn Ihre Tochter / Sohn jetzt eine hat. - Ein Zeitungsausschnitt: vielleicht war Ihr eigenes Bild mal in der Zeitung das ist schon was besonderes.
2 2 - Vielleicht ist ja auch etwas vom Krieg dabei. Mein Vater bewahrte das Mutterkreuz auf, das seine Mutter für die Geburt von vier Kinder als Auszeichnung von den Nazis bekommen hatte. Ihm war nicht wohl es anzusehen, aber wegwerfen konnte er es auch nicht. - Mein jüngster Sohn hat in seiner kleinen Kiste sogar die brennenden Zwillingstürmen vom 11. September 2001 aufbewahrt: wir bewahren ja nicht nur die Erinnerung an schöne Tage auf; böse Tage, schlimme Zeiten prägen uns ebenso. Schon um uns selbst zu verstehen, brauchen wir diese Stücke. Schon um uns mit uns selbst zu versöhnen, ist es gut uns zu erinnern. Ich habe hier ein Buch mit Erinnerungen besonderer Art. Vielleicht kennen es einige von Ihnen noch. Es hat bis zur Erweiterung der Kirche Anfang der 90er Jahre hier in unserer Kirche gelegen, dort hinten war ein Steinblock, und ein hölzernes Pult war oben auf dem Stein angebracht. Drauf lag dieses Buch. Eine dicke Rußschicht klebte dort an den Wänden; denn Kerzen brannten bei diesem Buch, und unsere Küsterin, zuletzt
3 3 Frau Eberhardt, hat immer dafür gesorgt, dass die Blumen, die dort abgelegt wurden, frisch aussahen. Vorne auf dem Buchdeckel steht mit goldenen Buchstaben: Unseren Toten. Und wenn wir es aufschlagen, dann sehen wir Namen, annähernd, 50 Namen, mit liebevoller Feder gezeichnet. Es sind Namen von Menschen, die alle im 2. Weltkrieg gestorben sind. Überwiegend Männer, die im Krieg gefallen sind, in Russland, in Frankreich, in Polen. Aber auch einige Frauen: sie sind im Bombenhagel gestorben, auf der Flucht erschossen worden, verhungert oder bis heute vermisst. Die Angehörigen sind unsere Gemeindeglieder; sie haben die Namen in dieses Buch eintragen lassen, weil sie sonst keinen Ort hatten, an dem sie um ihre Lieben trauern konnten. Die Seiten ersetzen die fehlenden Grabsteine. Sicher gibt es auch unter uns einige, die dieses Buch genau kennen, denn es sind ihre Ehemänner, Brüder, Väter, Mütter, Schwestern, deren Namen hier mit großen Buchstaben stehen.
4 4 Mit diesem Buch kommen uns die Schrecken der Kriege, der heute 60 Jahre beendet ist, noch einmal nahe, so wie sie uns in den Erzählungen nahe kommen, die wir eben gehört haben. Der von den Nationalsozialisten entfachte Krieg war zuerst ein Krieg gegen die eigenen Mitbürger gegen alle und alles, was nicht der Norm entsprach: gegen die jüdischen Mitbürger, gegen Sinti und Roma, gegen Homosexuelle, gegen Zeugen Jehovas, gegen Kommunisten, gegen Menschen mit Behinderungen, und selbst gegen Jazzmusik und Pfadfinderzelte gingen die Nazis vor, gegen kurze Haare bei den Mädchen und lange bei den Jungen. Ein Krieg gegen die eigene Bevölkerung. Dann wurde er ein Krieg gegen die ganze Welt. Und dann kam der Krieg wieder zurück und fraß die eigenen Kinder, auch die Kinder unserer Gemeinde. Dafür ist dieses Totenbuch ein Zeichen. Wie die persönlichen Erinnerungsstücke zu Hause so lässt es die schlimmste Zeit der deutschen Geschichte lebendig werden. Und wie lebendig, das konnten wir gestern bei der WSA hören. Da schalteten sich zwei Frauen in
5 5 meine Auslegung plötzlich ein mit ihren Erzählungen und ihren Fragen. Das Totenbuch war wie ein Ventil. Einmal offen, sprudelten die beiden Frauen nur so. Das Vergangene ist nicht tot. Es ist nicht einmal vergangen. So hat es die Schriftstellerin Christa Wolf zu Beginn eines Romans einmal geschrieben. So lege ich das Totenbuch zu den anderen Erinnerungen und zünde auch dazu eine Kerze an. Licht vom Osterlicht, Licht gegen das Dunkel. Um Erinnerung geht es auch in unserem PT. Es ist der letzte und zugleich höchste Feiertag eines schönen Festes, des Laubhüttenfestes. Man erinnert sich an die 40 Jahre, in denen das Volk Israel aus der Sklaverei in die Freiheit zog, ein Zug durch die Wüste. Jesus und die anderen Pilger in der Stadt Jerusalem erinnern sich als sei es gestern gewesen: Es war eine schwere Zeit, aber auch eine lehrreiche. Gestern hat eine Frau so etwas Ähnliches über ihre Kriegserlebnisse gesagt: Es war schwer, aber wir sind auch daran gewachsen. Immer wieder hatte das Volk auf dem Weg durch die Wüste Gott den Rücken gekehrt; immer wieder mussten sie erkennen, dass es in die Irre geht, wenn sie nicht auf
6 6 Gott hörten, wenn sie nicht allein Gott vertrauten. Müssen wir das nicht auch über die 12 Jahre Nazi- Diktatur sagen, die am 08. Mai endlich ihr Ende gefunden hat? Wir gehen in die Irre, wenn wir nicht allein Gott vertrauen. Wen dürstet, sagt Jesus, der komme zu mir und trinke. Und wo haben die Menschen damals ihren Durst gestillt? Volk, Ehre, Rasse, Blut und Boden, Überlegenheit das hielten sie für die Quellen ihres Lebens. Sie sind nicht satt geworden und sie haben niemanden damit satt gemacht. Am Ende sind 50 Millionen Menschen an diesem Irrglauben verdurstet. Und wo stillen wir unseren Durst, unseren Durst nach Glück, nach Freiheit, nach Liebe, nach Leben? Was halten wir für die Quelle unseres Lebens? Ist das unser Geldbeutel, und dann ist viel Geld haben viel Leben haben.? Ist das Erfolg? Ist es die Anerkennung einer Gruppe, mit der wir unseren Durst löschen? Ist Beifall die Quelle unseres Lebens oder nicht auffallen, uns selber gut fühlen, alles im Griff haben? Wo stillen wir unseren Durst?
7 7 Wen dürstet, sagt Jesus, der komme zur mir und trinke. Denn er ist Weg, Wahrheit und Leben, er ist Vergebung und Mitgefühl, Liebe, die niemanden ausschließt, und es ist diese Liebe (nicht Vaterland, nicht Ehre, nicht der Beifall unserer Umgebung), die stark macht. Oder um es mit den Worten Dietrich Bonhoeffers zu sagen - den 60. Jahrestag seiner Hinrichtung müssen wir ja auch in diesem Frühjahr begehen - Wenn man darauf verzichtet, aus sich selbst etwas zu machen, dann wirft man sich Gott ganz in die Arme, dann nimmt man nicht mehr die eigenen Leiden ernst sondern das Leiden Gottes in der Welt; und so wird man Christ Gott führe uns freundlich durch diese Zeiten; aber vor allem führe er uns zu sich. Und darum möchte ich noch ein anderes Buch zu dieser Erinnerungsecke legen, zu den Erzählungen von den letzten Tagen des Krieges und dem Buch der Toten: das Buch des Lebens, die Bibel, die Erinnerung an den Gott des Lebens. Vergesst nicht, bei wem ihr wirklich euren Durst löschen könnt. Erinnert euch daran, heute und alle Tage eures Lebens. Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.
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