Nervosität hatte sich gelegt. Der Tee wärmte die große Ruhe, die durch ihn hindurchströmte. Er pustete sanft in seinen Becher und schloss die Augen.
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- Kristina Arnold
- vor 6 Jahren
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2 Nervosität hatte sich gelegt. Der Tee wärmte die große Ruhe, die durch ihn hindurchströmte. Er pustete sanft in seinen Becher und schloss die Augen. Der Duft von frischem Heu wickelte sich um die Gedanken an die anstehende Erneuerung, an das erwartbare Wunder, das er in die Welt zu tragen beabsichtigte. Im stumm geschalteten Fernseher schlug der Bundeskanzler immer wieder mit der Faust auf das Rednerpult und wirkte sehr engagiert. Auf seiner Stirn und am Hals traten die Adern deutlich hervor. Ein surreales Bild, so ganz ohne Ton. Hinter ihm leuchtete ein grünes Banner, auf dem in weißer Schrift eine öffentlichkeitswirksame Parole prangte: Gesellschaftliches Wohlergehen steigern, statt nur wirtschaftliches Wachstum fördern. Um halb elf stülpte Wagner die Kapuze seines Pullovers über den Kopf, schloss die
3 Wohnung ab und ging drei Stockwerke nach unten. Der Hausflur roch nach Putzzeug und sozialer Vernachlässigung. Alles war wie immer. Ein dezenter Hauch von Alltag schob sich an den Wänden vorbei. Nur die Umhängetasche fühlte sich anders an als sonst. Mit jeder Stufe verblassten die Nachrichten, die eben noch durch seinen Kopf schlichen. Jede Stufe rüttelte seine Pläne in die richtige Position, bis alles ganz fest saß. Die gute alte Zeit, es hatte sie nie gegeben. Er öffnete die klapprige Haustür, folgte dem Wind nach rechts und begann seine Wanderung zum Nullpunkt, die Tasche nach hinten geschultert. Durch den Stoff spürte er das Metall in der Nierengegend. Es gab kein Zurück mehr, keinen Zweifel und kein Morgen. Nur ein Ziel. Alle Trugbilder der Gegenwart verschmolzen zu dieser einen
4 Vorstellung: Die Welt duldet kein Scheitern, mein Scheitern duldet keine Welt. Wagner bog auf die Große Bergstraße und umkurvte ein Werbeschild. Body and Soul flüsterte das Display in harmonischer Schrift. Eine lächelnde Frau versprach Rundumregeneration beim Besuch des neuen Wellness-Centers, ihr linkes Auge nur ein Bild, ihr rechtes eine kleine Kamera. Das Auge verfolgte ihn. Wagners Ignoranz wurde in Datenbanken gespeichert, Profile abgeglichen, während die Algorithmen neue Botschaften suchten, um ihn an der nächsten Straßenecke mit besseren Argumenten zu treffen. Was einzig mir gehört, ist der Glaube an den Widerstand, dachte Wagner und fokussierte seine Schritte. Aber auch dieser Glaube war bereits vereinnahmt, half der Marktwirtschaft beim Überleben. Zwecklos war die Suche nach einer
5 passenden Stimmung. Jede Spur endete mit einer Fehlermeldung. Vom großen Fluss wehte der Duft der Freiheit herüber, der Hafen spülte zeitlose Basisgeräusche in sein Ohr. Ein Auto übersah die Grünphase der Fußgänger, bremste abrupt und kam wenige Zentimeter vor seinen Beinen zum Stillstand. Wagner blickte in das Gesicht des Fahrers, der hinter der Scheibe entschuldigend die Hände hob. Der Tod lauerte überall, man musste ihm nur begegnen. Die letzten hundert Meter. Wagner reckte den rechten Arm in die Höhe, der Schweiß unter den Achseln roch nach Zorn und Taktik. Der rote Schriftzug bohrte sich in seine Augen. Ein Einkaufszentrum war vielleicht nicht besonders originell, aber als Hochburg des Überflusses hatte der Ort eine gewisse Symbolkraft. Und es gab genügend Öffentlichkeit. Wenn die Menschen Glück
6 hatten, blieben sie nur Zuschauer. Wenn sie Pech hatten, würden sie bald namenloser Teil einer Titelgeschichte sein, die sich auf allen Kanälen rasant verbreitete. Wolken schoben sich vor die kraftlose Sonne. Sofort kühlte die Luft ab. Das Neue trabte durch die Zeit und veränderte die stets unruhige Gegenwart. Wagner fühlte sich stark und bereit für alles, was kommen mochte. Selbst die Wolken konnten ihm nichts anhaben. Denn dahinter wartete die Sonne. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie den Menschen wieder bunte Lichtflecken ins Gesicht wischen würde. Mit einem Lächeln auf den Lippen ging er auf die Eingangstür zu, die ihre glasigen Wände beiseiteschob. Sein Herz zuckte gleichmäßig. Innen war alles sauber und klar. Nirgendwo gab es Anzeichen für das bevorstehende Chaos. Aber jede Ruhe war nur eine Ruhe vor dem Sturm. Und er war
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