Es zieht mich zu ihm. Ich stehe auf und beobachte ihn. Er zerstört diesen Nachmittag und die ganze Woche. Ich kann ihn nicht aus meinem Kopf
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- Maja Lichtenberg
- vor 6 Jahren
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2 Es zieht mich zu ihm. Ich stehe auf und beobachte ihn. Er zerstört diesen Nachmittag und die ganze Woche. Ich kann ihn nicht aus meinem Kopf bekommen. Aber wenn ich an ihn denke, geht es mir schlecht. Nicht weil er mich anekelt, sondern weil ich ganz vorbehaltlos Mitleid mit ihm empfinde. Er hat den Deckel eines tiefen Brunnens angehoben, von dem ich nicht wusste, dass es ihn gibt. Als ich eingeschult werde, sehe ich ihn wieder. Nicht die ganze Zeit. Er geht in eine Sonderklasse. Er taucht in der Mittagspause auf und dann verschwindet er wieder. Er spielt keine besonderen Spiele, springt meist auf dem Schulhof umher. Er ist freundlich zu allen. Ich verstehe nicht, wie ich ihn kennenlernen kann. Er nimmt keinen Kontakt zu andern auf, er wirbelt nur herum. Ich verstehe schnell, dass er ein leichtes Opfer für Hänseleien sein kann. Aus der Ferne habe
3 ich ein wachsames Auge auf ihn. Finde aber nie einen Anlass, zu ihm zu gehen. In einer Pause hat sich der Schulhof in zwei Parteien geteilt. Sie stehen einander gegenüber, verteilen Drohungen und schimpfen die andere Gruppe Glotzauge. Niemand weiß genau, was diese Beschuldigung bedeutet, aber es ist das Einzige, das zieht. Die Gruppen suchen nach Parolen, mit denen sie sich gegen die anderen vereinen können. Jemand hebt einen Stock auf und sofort hebt einer der Gegner einen größeren auf. Ein unstrukturierter Aufruhr gegen etwas, von dem keiner weiß, was es ist. Er ist einfach in Gang. Die Gruppen ziehen sich zurück zu den Ahornbäumen am Zaun. Es gibt Nasenzwicker an den Bäumen. Sie hängen in großen, grünen Büscheln an den Ästen. Manche sind auf den Boden gefallen. Die verfeindeten Gruppen trampeln auf die wertvollen Zwicker der
4 anderen. Es liegen vier, fünf Meter zwischen den beiden Parteien. Der Raum zwischen ihnen ist Niemandsland. Jederzeit können zwei Jungen hervorpreschen und sich vor den anderen schlagen. Es hat sich nur noch keine gute Gelegenheit ergeben, damit anzufangen. Da kommt er mitten zwischen den Gruppen angeschlendert und liest Nasenzwicker auf. Unbeeindruckt beugt er sich herunter und sammelt. Ich breche aus meiner Gruppe aus, um ihn wegzuziehen. Es geht ein Beben durch die Gruppen, aber ich kümmere mich nicht darum. Ich flüstere ihm ins Ohr, dass er weg müsse. Er ist der Einzige, der eine Mütze trägt. Eine winterliche Zipfelmütze mitten im Herbst. Er will nicht gehen. Er will Nasenzwicker sammeln. Ich zerre ihn weg und wir fallen hin. Das ist das Signal und die Schlägerei geht los. Er und ich landen ganz unten. Ich weiß nicht, wo meine
5 Empfindsamkeit herkommt. Manchmal verlassen wir den Schulhof, obwohl es verboten ist. Wir legen Steine auf die Gleise. Das ist sehr verboten. Man darf die Gleise nicht betreten und schon gar keine Steine darauf legen. Der Zug kann entgleisen, sagen wir zueinander. Wir wollen nicht, dass er entgleist, nur sehen, ob es funktioniert. Der Einfall kommt plötzlich, wie aus dem Nichts. Jemand ruft, wir sollen Steine auf die Gleise legen. Ein anderer greift die Idee auf und so stürmen alle zu den Gleisen. Keiner hat es geschafft, den Zug entgleisen zu lassen, aber wir machen weiter. Hauptsächlich weil es lustig ist, wenn alle losstürmen. Eines Tages geht das Gerücht um, dass der Zug bei Brevik entgleist sei, eine Station weiter. Wir beschuldigen einander. Wer war so dumm, Steine auf die Gleise zu legen? Wir finden nicht heraus, wer das getan haben könnte. Wir wissen ja
6 außerdem, dass es eine Station entfernt passiert ist. Aber Züge können nur entgleisen, wenn man Steine auf die Gleise legt. Das ist unsere Logik. Nach der Schule gehe ich mit ein paar Kumpels den Unfallort anschauen. Wir laufen den ganzen Weg zur nächsten Station. Es ist ein Zugunglück. Ein Zusammenstoß. Feuerwehrautos parken kreuz und quer um die Züge herum. Zwei Krankenwagen stehen mit offenen Hintertüren da. Auf einem Hügel oberhalb der demolierten Züge steht eine Gruppe von Menschen und schaut. Ich erkenne einige aus anderen Klassen, aber es sind vor allem Erwachsene. Ein Lockführer ist festgeklemmt. Die Stille am Unfallort wird vom kurzen und intensiven Heulen des Winkelschleifers unterbrochen. Die Feuerwehrmänner sprechen leise miteinander. Jemand sagt, der Schaffner sei
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