Uwe Durst. Theorie der phantastischen Literatur

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1 Uwe Durst Theorie der phantastischen Literatur

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3 Umschlagmotiv unter Verwendung der,,proportionen des Menschen und ihrer okkulten Zahlen" nach Henricus Cornelius Agrippa, De Occulta Philosophia, III, Antwerpen Der Literatur denn wunderbar ist alle Erfindung: der Vampirismus die sprechenden Tie e der Liebreiz der Fraue. Gedruckt auf alterungsbestandigem Werkdruckpapier entsprechend ANSI Z3948 DIN ISO 9706 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet Uber abrufbar. 2. Auflage 2010 ISBN LIT VERLAG Dr. W. Hopf Berlin 2010 Verlagskontakt: Fresnostr. 2 D Miinster Tel. +49 (0) Fax +49 (0) lit@lit-verlag.de Auslieferung: Deutschland: LIT Verlag Fresnostr. 2, D Munster Tel. +49 (0) , Fax +49 (0) , vertrieb@lit-verlag.de bsterreich: Medienlogistik Pichler-OBZ GmbH & Co KG IZ-Nb, Slid, StraBe 1, Objekt 34, A-2355 Wiener Neudorf Tel. +43 (0) , Fax +43 (0) , mlo@medien-logistik.at Schweiz: B + M Buch- und Medienvertriebs AG Hochstr. 357, CH-8200 Schaffhausen Tel. +41 (0) , Fax +41 (0) , order@buch-medien.ch

4 Uwe Durst: Theorie der phantastischen Literatur. 2. Aufl. Berlin: LitVerlag (Literatur Forschung und Wissenschaft, 9)

5 Das Realitätssystem Als Realitätssystem bezeichne ich die Organisation der Gesetze, die innerhalb einer fiktiven Welt gelten. (S. 92) Unter dem Blickwinkel des Systems ist das Phänomen der phantastischen Literatur folgendermaßen zu fassen: Während Todorov behauptet, die phantastische Literatur setze die Wirklichkeit [...] in Zweifel (genauer gesagt: deren Naturgesetze), setzt sie tatsächlich eine innerliterarische Normrealität in Zweifel, die zumeist realistischer Konventionsprägung ist (S. 100)

6 Im Gegensatz zu bisherigen theoretischen Annäherungen ans Phantastische, [sic] wird von mir ein Bezugssystem gewählt, das ausschließlich innerhalb der Texte existiert, nicht im außerfiktionalen Wirklichkeitsempfinden des Lesers, nicht in der Einwirkung auf dessen emotionale Situation, nicht im externen naturwissenschaftlichen Weltbild. (S. 101 f.) Die grundlegenden Genres, von denen im Folgenden zu sprechen sein wird, das Reguläre, das Phantastische und das Wunderbare, ergeben sich aus der Auseinandersetzung dieser zwei konkurrierenden Realitätssysteme [der Normrealität und der Abweichungsrealität], wobei im Phantastischen beide Kontrahenten über die erzählte Welt desselben Textes gebieten und einen Kampf um die alleinige Herrschaft führen, die weder der eine noch der andere erringt (S. 101).

7 Das narrative Spektrum N R W (S. 103) R = reguläres System, Normrealität W = wunderbares System, Abweichungsrealität N = Nichtsystem, das Phantastische

8 Reguläre Realitätssysteme haben zumeist realistischen Charakter. (S. 103) Als realistisch sei fürderhin ein Text bezeichnet, der die immanente Wunderbarkeit seiner Verfahren verbirgt. Die Grenzen des Realismus sind folglich nur per Negativdefinition zu präzisieren: Das Realistische ist Synonym mit dem Nicht-Wunderbaren. (S. 111 f.)

9 Das Wunderbare ist also nur insofern eine Abweichung vom Realistischen, wie das Realistische eine Abweichung vom Wunderbaren ist. Naturwissenschaftliche Gesetze haben hiermit nichts zu tun, denn die realistische Realität ist eine Konvention und birgt unbemerkt zahllose Wunderbarkeiten, die allerdings konventionell entschärft sind und daher nicht als wunderbar wahrgenommen werden. Die Konvention des Erzählens täuscht über das auch hier vorhandene Wunderbare hinweg. Das literarische Wunderbare existiert ausschließlich vor dem Hintergrund eines sich selbst als wunderlos ausgebenden (in Wahrheit jedoch selbst wunderbaren) regulären Realitätssystems. (S. 115 f.)

10 Das Nichtsystem Das Phantastische basiert auf einem Verfremdungsverfahren, das ein reguläres Realitätssystem durch ein zweites, wunderbares Realitätssystem in Frage stellt. Es ist somit exakt in der Spektrumsmitte lokalisierbar: Hier besteht eine Unschlüssigkeit, eine Ambivalenz, in der sich die Gesetze zweier Realitätssysteme überlagern, gegenseitig bekämpfen und ausschließen. Das Phantastische [...] ist Konkurrenz und Negation. Es setzt sich aus Realitätssystemen zusammen, denen es sich gleichzeitig verweigert. Folglich zeichnet es sich durch seine Inkohärenz aus und soll als Nichtsystem bezeichnet werden (N). In der Spektrumsmitte kann ein gültiges Realitätssystem nicht formuliert werden. (S. 116)

11 Der Kampf der Systeme - Sprünge (S. 144)

12 (S. 146)

13 Roland Barthes, Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen (1966) (Busse, S. 29)

14 (Durst, S. 241)

15 Wenn in der Kette einer Sequenz ein Glied ausgelassen wird, tritt das Unwahrscheinliche [Wunderbare U.D.] ein, denn als wahrscheinlich [realistisch U.D.] im Erzählablauf gilt die Abfolge der gesamten Sequenz. (Zimmermann, zit. nach Durst, S. 242) So ist z.b. in Oskar Wildes Roman The Picture of Dorian Grey die Sequenz Lebensyzklus um die Glieder altern und sterben verkürzt (S. 246)

16 Selbstverständlich gibt es auch realistische Sequenzlücken, zum Beispiel: Getränk: ein Getränk bestellen, erhalten, trinken, bezahlen Zechprellerei: ein Getränk bestellen, erhalten, trinken (vgl. S. 253) Denn es ist nicht möglich, alles zu erzählen, und sequentielle Lücken sind geradezu als notwendige Voraussetzung des Erzählens zu betrachten. (S. 261) Zum Beispiel: [Er] rannte hinaus zum Park und due Rue de Sèvres hinauf, er hatte nur noch eine halbe Stunde Zeit. In der Lebensmittelabteilung des Bon Marché, Ecke Rue du Bac, gab es eine Schneiderin. [ ] Er sah sie schon vom Eingang der Lebensmittelabteilung aus an ihrer Maschine sitzen und nähen. (Süskind, zit nach Durst, S. 260 f.)

17 Das skandalöse wunderbare Ereignis ist mithin nicht eine bloße, sondern eine entblößte Lücke, eine Sequenzlücke, die durch ihre Betonung zum Thema wird. (S. 261) Die Differenz zwischen realistischen und wunderbaren sequentiellen Lücken liegt im Grad ihrer Bloßgelegtheit. (S. 264)

18 Der phantastische Effekt [...] beruht auf der Unsicherheit, ob es sich um eine reguläre oder eine wunderbare Sequenzlücke handelt. [ ] Die sequentielle Ordnung des Texts wird destabilisiert und ambivalentisiert: entweder handelt es sich um eine Ellipse (R) oder um eine vollständige Sequenz (W). (S. 263) So z.b. in E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann: Der Vater öffnete die Flügeltür eines Wandschranks; aber ich sah, daß das, was ich so lange dafür gehalten, kein Wandschrank, sondern vielmehr eine schwarze Höhlung war, in der ein kleiner Herd stand. Coppelius trat hinzu, und eine blaue Flamme knisterte auf dem Herde empor. (Zit. nach ebd., S. 248, Hervorh. O.L.)