Kurzbericht der Expertengruppe zu den Ereignissen Cengalo/Bondo für die Medienkonferenz

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Transkript:

Kurzbericht der Expertengruppe zu den Ereignissen Cengalo/Bondo für die Medienkonferenz 15.12.2017 Ziel und Abgrenzung Nach dem Bergsturz vom 23. August 2017 hat der Kanton Graubünden unter Federführung des Amts für Wald und Naturgefahren (AWN) unverzüglich damit begonnen, die Ereignisse zu analysieren, um daraus Lehren für die Zukunft ziehen zu können. Bereits eine Woche nach dem ersten Bergsturzereignis hat sich auf Einladung des Kantons erstmals eine Expertengruppe aus der Schweiz mit Fachleuten der kantonalen Ämter getroffen und gemeinsam die Arbeit aufgenommen. Die interdisziplinäre Expertengruppe besteht aus Fachleuten aus der ganzen Schweiz, die als Team mit den Fachleuten des AWN zusammenarbeiten. Spezialisten aus Wissenschaft und Praxis sowie aus verschiedenen Disziplinen und Themenbereichen wie Geologie, Gletscher, Schnee/Lawinen, Wasserbau, Messmethoden und Murgang sind vertreten. Die Experten helfen bei der umfassenden Ereignisanalyse Bergsturz Cengalo Murgänge Bondo, um zusätzliches Wissen zu dieser weltweit sehr seltenen Verkettung von einem Bergsturz mit unmittelbaren Murgängen/Schuttströmen zu generieren. Die Gruppe liefert den Beauftragten und Behörden fachliche Hinweise und Grundlagen für die anstehenden Entscheidungen in kurz-, mittel- und längerfristiger Hinsicht. Hinweise zu kurzfristigen Aspekten sind bereits in der Bewältigungsphase eingeflossen. Die wichtigsten Erkenntnisse werden in diesem Kurzbericht zusammengefasst. Der Kurzbericht erhebt nicht den Anspruch, die Ereignisse aus wissenschaftlicher Sicht abschliessend darzulegen, sondern die Fakten und das aktuelle Wissen in auch für Laien möglichst verständlicher Form zusammenzufassen. Mehrere der Fragen, die im Laufe der Arbeit der Expertengruppe aufgetaucht sind, konnten nicht abschliessend beantwortet werden. Es bestehen zum Teil erhebliche Unsicherheiten. Es wird Gegenstand weiterer, wissenschaftlicher Studien sein, Antworten auf diese Fragen zu finden, insbesondere wie sich der Klimawandel im Hochgebirge auf die Häufigkeit und Intensität von Massenbewegungen, und insbesondere Prozessverkettungen, auswirken wird. Dabei interessieren die Bedeutung des auftauenden Permafrostes, des Wassers in Felsklüften, die Umwandlung von Eis in Wasser beim Aufprall von Felsmaterial auf Gletscher und die Entwicklung des Wassers bzw. des Wassergehalts in Ablagerungen aus Bergstürzen. 7001 Chur, Loëstrasse 14, www.wald-naturgefahren.gr.ch

Bergsturz Pizzo Cengalo Vorgeschichte Der Pizzo Cengalo wurde seit dem Bergsturz 2011 beobachtet und periodisch wurden Messungen ausgeführt. Seit 2012 wurde jährlich mindestens einmal mit dem interferometrischen Radar gemessen. Dabei wurde festgestellt, dass Felspakete in Bewegung sind, die über die Nordostflanke und über die Nordwestflanke abstürzen können. Die Bewegungen der instabilen Felsmassen in der Nordostflanke des Pizzo Cengalo waren in der Grössenordnung von wenigen Zentimetern pro Jahr. In den Jahren 2012 bis 2016 wurde keine oder nur eine geringe Beschleunigung gemessen. Die Radarmessung im Sommer 2017 zeigte dann eine deutliche Beschleunigung im Vergleich mit 2016. Ergänzend zu den Radarmessungen wurden Laserscan-Messungen in den Jahren 2013, 2015 und 2016 gemacht. Die Messwerte zeigten die gesamten Verschiebungen zwischen zwei Messungen und insbesondere, wo Felsstürze erfolgt sind und wo Felsmassen in Bewegung sind. Aufgrund der Beobachtungen und Messungen seit dem Bergsturz 2011 musste an der Nordostflanke des Pizzo Cengalo ein grosser Fels- oder Bergsturz erwartet werden. Die Zeitspanne für einen möglichen Absturz wurde wie folgt beschrieben: 2012: in den nächsten Jahrzehnten 2015: in den nächsten 1-30 Jahren und am 14. August 2017: in den nächsten Wochen und Monaten. Dass die Zeitspanne für einen möglichen Absturz stetig verkleinert wurde, begründet sich u.a. mit den Messungen, die insbesondere zwischen 2016 und 2017 eine deutliche Beschleunigung zeigten. Weitere offensichtliche Anzeichen für eine akutere Absturzentwicklung, d.h. in den nächsten Tagen waren bis am 14. August nicht bekannt. Grosse Bergstürze künden sich meist durch erhöhte Sturzaktivität an. Am 21. August 2017 stürzten rund 100 000 m 3 Fels aus der Nordwestflanke ab. Diese instabile Felsmasse war aufgrund von Beobachtungen auf dem Rekognoszierungsflug vom 12. August 2017 erkannt worden. Dem Absturz ging wie erwartet eine erhöhte Sturzaktivität in der Nordwestwand voraus. Kurzbericht der Expertengruppe zu den Ereignissen Cengalo/Bondo 2

Aus der Nordostflanke waren bis am 21. August 2017 nur Blockschläge zu verzeichnen. Eine vergleichbar erhöhte Sturzaktivität wie sie in der Nordwestflanke beobachtet wurde, ist vor dem Bergsturz aus der Nordostflanke nicht dokumentiert. Es gab in den Tagen vor dem grossen Bergsturz aus der Nordostflanke also keine unmittelbaren Anzeichen, die auf den Bergsturz hindeuteten. Bergsturz vom 23. August 2017 Am 23. August 2017 um 09:30 Uhr kam es zu einem Bergsturz mit einer Kubatur von 3.1 Mio m 3. Dabei löste sich die als instabil erkannte Felsmasse aus der Nordostflanke. Bergstürze in einer Grössenordnung von zirka einer Million Kubikmetern oder mehr sind in den Schweizer Alpen selten. In den letzten drei Jahrhunderten ist ein knappes Dutzend solch grosser Sturzereignisse bekannt. Allerdings war die Erfassung von Bergstürzen vor dem 20. Jahrhundert nicht vollständig. Als Ursachen des Bergsturzes vom 23. August 2017 kommen u.a. Kombinationen folgender Faktoren in Frage: Topographie, geologische Disposition, Sprödbruchverhalten des Bergeller Granits, Kluftwasserdruck und damit verringerte Stabilität aufgrund Niederschlagswasser, Schmelzwasser aus Eis und Schnee oder auftauendem Permafrost. Topographie und Geologie gelten als Dispositionsfaktoren, die sich langfristig nur gering und langsam verändern. Die Veränderungen im Kluftwassergehalt, bzw. der Aufbau von Kluftwasserdruck, haben einen mittel- und kurzfristigen Zeithorizont. Deshalb dürfte der Kluftwasserdruck als auslösender Faktor (Trigger) eine zentrale Rolle gespielt haben. Eis (eisverfüllte Klüfte) wurde 2011 flächig und 2017 nur punktuell an den Anrissflächen nach den Stürzen beobachtet. Dessen Abschmelzen kann zum Aufbau von Kluftwasserdruck beitragen. Deutlich sichtbar waren nach dem Sturz vom 23. August 2017 die nassen Abbruchflächen. Weitere mögliche, aber in diesem Fall vermutlich untergeordnete Einflussfaktoren für die Auslösung, sind Eisdruck und thermische Effekte. Ein Erdbeben kann für die unmittelbare Auslösung ausgeschlossen werden. Ebenfalls nicht im Vordergrund steht in diesem Fall die Entlastung von Gebirgsflanken infolge abschmelzender Gletscher. Zukünftige Entwicklung Die Radar- und Laserscan-Messungen nach dem Bergsturz vom 23. August 2017 haben gezeigt, dass am Pizzo Cengalo weitere instabile Felsmassen (bis grösser 3 Mio m 3 ) vorhanden sind. Weitere Bergstürze sind unabhängig von der Jahreszeit möglich. Volumen, das bis in 30 Jahren noch abzustürzen droht > 1 Mio m 3 Volumen, das bis in 300 Jahren noch abzustürzen droht > 3 Mio m 3 Kurzbericht der Expertengruppe zu den Ereignissen Cengalo/Bondo 3

Dies sind Szenarien für Zeithorizonte, die üblicherweise bei Gefahrenkarten betrachtet werden. Sie sind mit Unsicherheiten behaftet und die angegebenen Volumina können auch in Teilstürzen abgehen. Interaktion Bergsturz mit Gletscher Direkt unter der Nordostflanke des Cengalo liegt der Gletscher Vadrec dal Cengal Ost. Durch den Aufprall des Bergsturzmaterials auf diesen Gletscher wurde ein Eisvolumen von 0.6 ± 0.1 Mio m 3 erodiert. Dieses Volumen konnte aus dem Vergleich von digitalen Geländemodellen (Aufnahmedaten vom 30.8.2015 und 25.8.2017) kombiniert mit ergänzenden Berechnungen zur Massenbilanz (Eisschmelze, Akkumulation) eingegrenzt werden. Der grösste Teil des Gletschers im Einflussbereich des Bergsturzes wurde abgetragen. Zukünftige Entwicklung Es ist zu erwarten, dass in den nächsten 20 Jahren der Gletscher Vadrec dal Cengal Ost (zwischen Bügeleisen und Pizzo Cengalo) wegen der lokal hohen Schneeakkumulation wieder aufgebaut wird. Allerdings wird längerfristig der Vadrec dal Cengal Ost klimabedingt weiter abschmelzen und bis ca. 2060 dürfte er ganz verschwunden sein. Das bedeutet, dass bei einem weiteren Bergsturz bis ca. 2040 damit gerechnet werden muss, dass ebenfalls wieder Gletschereis in der Grössenordnung von 0.3 bis 0.6 mio m 3 Eis erodiert werden kann. Wieviel Eis erodiert wird, hängt auch davon ab, wo ein künftiger Bergsturz auf den Gletscher aufschlagen wird. Unmittelbarer Schuttstrom und Murgänge Die Front der Bergsturzmasse vom 23. August 2017 ist im Bereich Laret (rund 3 km vom Fuss der Nordostflanke des Cengalo) zum Stillstand gekommen. Unmittelbar nach dem Bergsturz entstand aus der Ablagerung im Val Bondasca ein Schuttstrom (zähflüssiger Murgang), der bis in die Gegend von Bondo vordrang. Das vorhandene Alarmsystem bei Prä funktionierte gut. Die Prozessverkettung aus Bergsturz und unmittelbarem Schuttstrom, gilt weltweit als sehr selten. Die direkte Mobilisierung von Teilen der Sturzmasse und der unmittelbare Übergang in einen Schuttstrom erfordert genügend unmittelbar verfügbares Wasser. Als mögliche Wasserquellen kommen in Frage: das erodierte Gletschereis, Wasser aus den Klüften in der abgestürzten Felsmasse, Grundwasser, Wasser im Lockergestein (Moränen, Absturzmasse 2011) und Schmelzwasser aus dem Ein- Kurzbericht der Expertengruppe zu den Ereignissen Cengalo/Bondo 4

zugsgebiet. Der Wasserbeitrag aus dem beim Aufprall des Bergsturzes erodierten Gletschereis dürfte am Bedeutendsten gewesen sein. Zukünftige Entwicklung Die Bergsturzablagerung bildet das Ausgangsmaterial für zukünftige Murgänge und ergibt grundsätzlich eine erhöhte Disposition für Murgänge aus dem Val Bondasca. Aufgrund der Neigung der Ablagerungen und der in der Ablagerung bereits wieder erodierten Wasserläufe ist davon auszugehen, dass Murgänge entstehen können, wenn viel Wasser (z.b. durch Niederschläge, Schneeschmelze etc.) hinzukommt. Entscheidend für die künftige Auslösung von Murgängen sind die Vorfeuchte des Materials und die Regenintensität. Bis in wenigen Jahrzehnten dürfte sich das Ablagerungsmaterial ohne neue Sturzereignisse stabilisieren, so dass die Disposition für Murgänge zurückgehen wird. Ablagerungen aus neuen Stürzen wie am 15. September 2017 (rund 400 000 Kubikmeter) können aber die Disposition für Murgänge erneut erhöhen. Murgangereignisse nach intensivem Niederschlag wie am 31. August 2017 müssen weiterhin erwartet werden. Auch erneute Murgänge unmittelbar nach einem grösseren Sturzereignis ohne Niederschläge wie am 23. und 25. August 2017 sind möglich. Eine derartige Prozessverkettung kann auch im Winter nicht ausgeschlossen werden. Extreme Prozessverkettungen Bereits die Prozessverkettung aus Bergsturz und unmittelbarem Schuttstrom gilt weltweit als sehr selten. Im Hinblick auf die Massnahmenplanung wurden aber noch extremere Ereignisverknüpfungen im Val Bondasca wie etwa sehr grosse, mit den Sturzmassen vermischte Nassschneelawinen sowie Aufstau und schlagartiger Ausbruch von Wasser in Betracht gezogen. Derartige Szenarien wurden aber aufgrund des jetzigen Kenntnisstandes als unwahrscheinlich eingestuft. Dies gilt auch für Überflutungen talabwärts von Bondo. Die Szenarien für die Gefahrenkarte und die Bemessung der Schutzbauten muss Ereignisverkettungen, wie sie 2017 aufgetreten sind, berücksichtigen. Sie sind hier aufgetreten und müssen bezüglich ihrer Auftretenswahrscheinlichkeit beurteilt werden. Eine generelle Berücksichtigung von derart seltenen Ereignisverkettungen drängt sich bei der Ausarbeitung von Gefahrenkarten im Kanton Graubünden aber nicht auf. Kurzbericht der Expertengruppe zu den Ereignissen Cengalo/Bondo 5

Externe Experten Florian Amann, Prof. Dr., Lehrstuhlinhaber des Lehrstuhls für Ingenieurgeologie und Hydrogeologie, RWTH Aachen University Yves Bonanomi, Geologe, Leiter Bonanomi AG - Geologische Beratungen, Igis Martin Funk, Prof. Dr., Leiter der Abteilung Glaziologie an der Versuchsanstalt für Wasserbau, Hydrologie und Glaziologie (VAW), ETH Zürich (in der Expertengruppe bis 28.10.2017) Matthias Huss, Dr., Dozent an der Versuchsanstalt für Wasserbau, Hydrologie und Glaziologie (VAW), ETH Zürich (in der Expertengruppe seit 29.10.2017; an Stelle von Martin Funk) Christoph Graf, Techn. Mitarbeiter Gebirgshydrologie und Massenbewegung, Wildbäche und Massenbewegungen, Eidg. Forschungsanstalt WSL Birmensdorf Nils Hählen,, Abteilungsleiter der Abteilung Naturgefahren, Amt für Wald Kanton Bern KAWA Andrew Kos, Dr., CEO der Terrasense Switzerland AG - Geological risk prevention, Buchs SG Marcia Phillips, Dr., Gruppenleiterin Schnee und Permafrost, Permafrost und Schneeklimatologie, WSL - Institut für Schnee- und Lawinenforschung SLF, Davos Jürg Schweizer, Dr., Leiter des WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung SLF, Davos Christian Tognacca, Dr., Leiter Beffa Tognacca GmbH - Wasserwirtschaft und Flussbau, Claro Kurzbericht der Expertengruppe zu den Ereignissen Cengalo/Bondo 6

Kantonales Fachgremium Reto Hefti, Dienststellenleiter Amt für Wald und Naturgefahren (AWN) Urban Maissen, Stv. Dienststellenleiter, AWN Christian Wilhelm, Dr., Bereichsleiter Naturgefahren, AWN Andreas Huwiler, Geologe, AWN Martin Keiser, Spezialist Naturgefahren, Region 5, AWN Roderick Kühne, Projektleiter Lokaler Naturgefahrenberater (LNB), AWN Eva Lunz, Techn. Mitarbeiterin Naturgefahren, AWN Marcel Roth, Leiter Abteilung Wasserbau, Tiefbauamt (TBA) Kurzbericht der Expertengruppe zu den Ereignissen Cengalo/Bondo 7